Archiv für die Kategorie „Potsd. Tageszeitung“

Europa in drei Stunden

Mittwoch, 24. August 2011

Mit zwei schlösserbegeisterten Amerikanern auf einem Kurztrip durch die Landeshauptstadt

Über die Bedeutung des Tourismus für Potsdam wird viel geredet, doch wie erleben eigentlich ausländische Gäste die Stadt? Die MAZ machte die Probe und begleitete zwei Amerikanerinnen auf ihrem Tagestrip.

Der Tag in Potsdam beginnt für Leah und Marybeth Berger mit einem Überfall: Kaum haben sie die S-Bahn am Vormittag am Hauptbahnhof verlassen, stürzen sich die Männer mit den Stadtrundfahrts-Prospekten auf sie. Mit sicherem Blick haben die Werber die drei untrüglichen Touristenindikatoren entdeckt: Reiseführer in der Hand, suchender Blick, ausländischer Akzent. Doch Mutter und Tochter Berger kommen aus Dayton, Ohio, USA und sind aufdringliche Werbung gewohnt: Souverän pflücken sie jedem Werber eine Broschüre aus der Hand und schreiten mit freundlich-kühlem Lächeln ungerührt weiter, direkt zur Touristinfo, wo sie die eben gewonnenen Zettel Berater Florian Sonnenschein zur Entscheidung vorlegen. Der tippt routiniert auf einen Anbieter und verkauft ihnen die Tickets, während er zugleich einem Spanier die Frage nach der nächsten Toilette beantwortet und einem Franzosen erklärt, wie er ins Holländische Viertel kommt – jeweils in deren Muttersprache natürlich.
Die Bergers schlendern indes zum Stadtrundfahrtsbus und wehren weitere Werberüberfälle durch Vorzeigen ihrer Tickets ab. Kurz zuvor haben sie noch einen Blick auf den Vorplatz des Bahnhofs geworfen, sich dann schulterzuckend angesehen und irgendwas mit „Industriegebiet“ gemurmelt. Der Weg zum Bus gefällt ihnen besser: Wasser, Grün und der Turm der Nikolaikirche.
24 Stunden zuvor hatten sie noch nie von Potsdam gehört. Die Bergers befinden sich auf einer Europa-in-drei-Wochen-Tour, haben in Frankreich begonnen, wo Leah, Mitte 20, demnächst für ein bis drei Jahre Englisch unterrichten wird, sind dann nach Hamburg und schließlich nach Berlin gekommen – jeweils für zwei Tage. Die Tour am Vortag mit dem Bus durch Berlin hat sie nicht erfüllt, doch an der Glienicker Brücke sahen sie Wasser und Schlösser und entschieden spontan: Morgen muss es dieses Potsdam sein, das sie hartnäckig für einen Teil von Berlin erklären. In ihrem Reiseführer stehts es ja schließlich auch so.
Der Regen pausiert, weshalb Busfahrer Siggi das Dach geöffnet hat und sich Reiseleiterin Jutta Romanowski auf deutsch und englisch in die Herzen der Gäste zu scherzen versucht. Die Nikolaikirche nehmen Bergers mit anerkennendem Nicken zur Kenntnis, an den Hillerbrandtschen Häusern entfährt ihnen ein „beautiful“, die Klickrate des Fotoapparates steigt. Das Brandenburger Tor erklären sie für kleiner, aber schöner als dessen Berliner Version, die verfallenen und beschmierten Häuser in der Zeppelinstraße könnten ihrem Urteil nach auch irgendwo in Chicago stehen.
Mit dem ersten Stopp am Neuen Palais kommt nicht nur der erste Schauer, sondern auch der erste Schock: Man kann diesen riesigen Park betreten, ohne Eintritt zu bezahlen. „Unglaublich“, findet Marybeth Berger, und ist darüber so erstaunt, dass sie die Dame, die um freiwilligen Parkeintritt bittet, glatt ignoriert. Wer denn das alles bezahlt, will sie wissen. Der Staat, also der Steuerzahler, sagt Jutta Romanowski. „Das ist Kommunismus“, entfährt es einem anderen amerikanischen Tourteilnehmer. Die Bergers hören es nicht mehr, denn die Mopke gefällt ihnen so gut, dass sie ins Schwärmen geraten – vor allem über ihre namensgebenden Pflastersteine. Als Jutta Romanowski erklärt, dass die Wege im Park 78 Kilometer lang sind und es allein bis zum Schloss Sanssouci 2,2 Kilometer sind, erleiden Bergers ihren nächsten Schrecken: Und es gibt keine Autos im Park, die einen weiterbringen?
Zum Glück fährt der Tourbus die Truppe weiter. Nächster Halt: Sanssouci. Den Begriff kannte Marybeth Berger bislang nur, weil ihr Lieblings-Wellness-Tempel in Dayton auch so heißt. Jetzt ergibt er Sinn, sagt sie. Direkt davor stehend, erscheint ihr die Sommerresidenz klein, doch von den unteren Terrassen aus werden die „Wows“ und „Greats“ immer lauter. „Das ist wirklich der schönste Teil von Berlin“, entfährt es Leah Berger, die sich daraufhin erneut von einem mitreisenden Potsdamer belehren lässt, dass man ja schließlich „keen Stadtteil und och keen Vorort“ sei. Okay. An Friedrichs Grab staunen sie über die Kartoffeln darauf und über die Erklärung dafür sowie über den Umstand, dass des Alten Fritz’ Frau in Sanssouci Hausverbot hatte. Schnell noch ein paar Postkarten gekauft, dann geht’s nach Cecilienhof. Erste Ermüdung macht sich breit, die Alexandrowka rauscht an den Bergers eher vorbei, ebenso Jutta Romanowskis Erklärungen zum KGB-Städtchen und der Mauer. Mutter und Tochter Berger sind wegen der Schlösser und Parks hier, die jüngere deutsche und europäische Geschichte nehmen sie entfernt zur Kenntnis. Stattdessen begeistern sie sich für das Konzept der Kleingärten, dass sie schlicht „ingenious“ – genial – finden und wundern sich, dass die Autos, Straßen und überhaupt alles in Europa so klein sei.
Cecilienhof gefällt den Bergers sofort. Das ab 1914 im englischen Stil errichtete Schloss könnte im Gegensatz zu den Barock- und Rokokobauten auch in den USA stehen und erweckt nach zwei Wochen in Europa daher fast heimatliche Gefühle.
Im Neuen Garten staunen sie über die vielen Fahrräder und dass die nicht nur diese komischen Klingeln haben, sondern sie auch benutzen, weil der amerikanische Teil der Reisegesellschaft regelmäßig den gesamten Weg blockiert.
In der Brandenburger Straße endet die Tour. Den „Broadway“ finden die Bergers ganz „okay“, das Holländische Viertel hingegen außerordentlich „cute“ – niedlich.
Bei einer heißen Schokolade resümieren sie, dass ihr Tag von Potsdam ein wunderschöner gewesen sei. Marybeth Berger sagt, eigentlich sei das statt Europa in drei Wochen Europa in drei Stunden gewesen, nach all den italienischen und französischen Baueinflüssen, der Alexandrowka und dem Holländischen Viertel. Und Leah Berger ergänzt, sollte sie zurückkehren – was sie im gleichen Atemzug ausschließt, schließlich geht es morgen nach München, dann nach Venedig und Rom –, so würde sie lieber hier als am Potsdamer Platz Quartier nehmen. Und all ihren Bekannten wolle sie’s auch empfehlen, es sei, so ist Leah überzeugt, nun einmal „der schönste Teil von Berlin“.

Erschienen am 24.08.2011

WAS BLEIBT: Ultrakarmingrellbunt

Freitag, 12. August 2011

In der aktuellen Schulflurfarbberatung haben sich Trends etabliert, die ohne jeden Zweifel auf Netzhautzersetzung abzielen. Wo immer in Potsdam derzeit eine Schule oder Kita saniert wird, erstrahlen Flure und – schlimmer noch – Toiletten in Farbtönen, die mit dem Begriff Ultrakarmingrellbunt noch milde umschrieben wären. Eher fühlt man sich an den Otto-Waalkes-Klassiker „schreiende Farbe sind out, brüllende Farben sind in“ erinnert. Flure in einem Bonbon-Neongrün, das farblich irgendwo zwischen atomar verstrahltem Laubfrosch und der Gesichtsfarbe nach zwei Wochen Seekrankheit rangiert. Mädchentoiletten in einem Pink, das selbst fortgeschrittenen Prinzessin-Lillifee-Jüngern Tränen in die Augen treibt und sich schmerzhaft ins Sehzentrum brennt. Das mag für Sehbehinderte an einem trüben Wintertag bei Stromausfall eine existenzielle Orientierungshilfe sein, für alle anderen unter allen anderen Umständen ist es schlicht unerträglich. Fragt man die Bauleute nach dem Sinn, erntet man kollektives Schulterzucken und den Hinweis, dass es so im Auftrag gestanden habe. Fragt man die Architekten, wird auf die Ausschreibung verwiesen, und fragt man den Auslober, so spielt er den Ball an die Schulplaner weiter. Die wiederum antworten gar nicht erst. Möglicherweise, weil ihre Sehkraft nicht mehr ausreicht, um Mails zu entziffern, die in schlichten schwarzen Lettern auf weißem Grund gehalten sind. Möglicherweise ist es eine Generationsfrage. Möglicherweise müssen wir beherzt in die Klischeekiste greifen und behaupten, die heutige Jugend sei dank medialen Dauerbeschusses, dank MP3-Player, PC und TV so reizabgestumpft, dass nur noch mit Farben jenseits der optischen Lärmgrenze überhaupt Wirkung erzielt wird. Ein Architekt behauptete allen Ernstes in der neuen Musikschulfiliale am Stern, das unangenehm verdauungsfördernde Grün der Jungstoiletten sei „erfrischend“ und „belebend“ für die Schüler. Dieser mutige Erklärungsansatz, bezeichnenderweise mit zusammengekniffenen Augen vorgetragen, wirft dann aber die Frage auf, wie solch ein Musikschüler nach dem belebenden Toilettenbesuch mit farblichem Terroranschlag in der Lage sein soll, die Nuancierung in Liszts Liebesträumen am Klavier wiederzufinden. Mag sein, dass es hilft, für Thrash Metal in die richtige innere Stimmung zu kommen. Oder für Grindcore Punk. Oder für Hardcore Techno. Dass das Hauptgeschäftsfelder der Musikschule wären, hat sich bislang aber nicht herumgesprochen. Und es erklärt auch nicht, warum Grundschulflure in der selben Farbe leuchten. Sollten Sie zum Ferienende jedenfalls eine renovierte Schule betreten müssen, nehmen Sie sich bitte eine Sonnenbrille mit. Sie machen ihrem Augenarzt eine echte Freude.

Erschienen am 12.08.2011

Synergien

Mittwoch, 10. August 2011

Über kurze Wege im Rathaus für fast jedes Anliegen

Jetzt, wo der städtische Wirtschaftsservice aus den Elendsvierteln des Stadthauses in dessen Alte Mitte gerückt ist, ergeben sich neue Synergien. Er residiert nun Tür an Tür mit dem Kitaservice, was etwa Neupotsdamern die hübsche Möglichkeit eröffnet, Unternehmens- und Familiengründung quasi in einem … nun ja … Rutsch abzuhandeln. Zumindest den administrativen Teil dieser Verrichtungen. Wenn’s noch ein bisschen mehr sein darf: Das Standesamt liegt nur um die Ecke. Da das Unternehmen dank des Wirtschaftsservice bald floriert und der Kitaservice sofort einen Betreuungsplatz im Angebot hat, könnte bald weiterer Nachwuchs anstehen – kein Problem: Der Babybegrüßungsdienst kommt sogar nach Hause. Die Dienstwege im Stadthaus mögen lang sein, jene der Bürger hingegen werden immer kürzer. Wer sich nun aber, vor lauter Begeisterung, der Marketingabteilung als Werbeträger andienen möchte, der muss leider noch immer ins Elendsviertel: Bis zum großen Gemälde, dann rechts, am Ende des Ganges links, am Ende dieses Ganges einfach nochmal neu fragen. Und falls Ehe und Firma wider Erwarten scheitern: Die Suppenküche der Volkssolidarität liegt auch in Spuckweite und ist mit wenigen Schritten erreicht. Deren Garten hat aber zu.

Erschienen am 10.08.2011

NACHSCHLAG. Gänseleber ohne Gala-Uniform

Freitag, 8. Juli 2011

Speckers Landhaus vereint großartiges Essen mit einer unkonventionellen Atmosphäre

Ob Spitzenrestaurant, Café, Kneipe, Ausflugslokal oder Döner – Mitarbeiter des Potsdamer Stadt- und Landkuriers sind als anonyme Tester unterwegs.

Mit dem Motto „Gänseleber in Jeans“ lockt Gourmetgastronom Gottfried Specker in sein „Landhaus“, das er zusammen mit Tochter Tina als „Maitre“ und Schwiegersohn Steffen am Herd betreibt. Wir probieren das aus: Nach einem Spaziergang, etwas zerzaust und vom Regen überrascht, fallen wir an einem kühlen Samstagabend bei „Speckers“ ein. Einen schönen Tisch zu bekommen, ist kein Problem, auch ohne Voranmeldung nicht, und niemand schaut pikiert ob der fehlenden Abendgarderobe. Das rustikal, fast ein wenig verspielt eingerichtete Lokal ist dennoch neutral genug, um weder im Anzug noch in Wanderermontur unangenehm aufzufallen. Im kühlen Biergarten sitzt Ex-EU-Kommissar Günther Verheugen in Damenbegleitung, umschwärmt vom Patron Specker. Verheugen hat von „Gänseleber in Jeans“ offenbar nichts gehört, er ist im Anzug erschienen, seine Begleitung im Abendkleid. Anfänger!
Die kurze Karte bietet für notorisch Unentschlossene das fertig konfektionierte Drei-Gang-Frühlingsmenü mit thailändischer Hummersuppe, Salzwiesenlamm und Zitrusfrüchten an Aloe-Vera-Sorbet an (32 Euro), Vegetarier werden beim Vegi-Menü mit Tomatenschaumsuppe und kross gebratenem Tofu (32 Euro) fleischlos glücklich. Wir wagen den großen Zugriff und kombinieren einzeln: zur Vorspeise die mit Ziegenkäse gefüllten Teigtaschen, die mit Holunderhonig und Balsamicoessig verfeinert ein hübsches Zusammenspiel von süß, kräftig und mild zeigen (12 Euro), sowie den Ochsentafelspitz im eigenen Gelee, dessen Sommertrüffel-Garnitur eine südfranzösische Note in das urdeutsche Gericht bringt (12 Euro). Die dazu gereichte violette Kartoffelcreme hätte sicher auch in einer anderen Farbe gut geschmeckt, sorgte dank dieses Farbtupfers aber für einen weiteren Sommergefühlsbonuspunkt. Zwischendrin grüßt Steffen Specker aus der Küche mit einem Matjeshappen auf roter Beete und belegt damit, dass er auch im Detail ein Perfektionist ist: Der Happen schmeckt selbst dem erklärten Rote-Beete-Hasser. Die Zeit bis zum Hauptgang krönt ein weiteres Detail: hausgebackenes Brot, dazu Essig und Öl und das von Specker angemischte Wildkräutersalz, das allein den Besuch gerechtfertigt hätte. Stilecht aus dem kleinen Fässchen löffelt der Gast eine geheimnisvolle Mischung auf das noch warme Brot, die unter anderem getrocknete Kornblumen enthält und wie eine Wiese im Hochsommer duftet – perfekt. Zum Hauptgange wählt die Dame das Entrecôte vom Black-Angus-Rind, klassisch mit grünem Spargel und Sauce Bérnaise (23 Euro). Die Bérnaise kommt gewaltig daher, was den Spargel hervorragend begleitet, das zarte Entrecôte aber glatt unter sich begräbt. Doch das ist eine Klagen auf sehr hohem Niveau. Auch eine Spur weniger Estragon hätte die Soße möglicherweise entschärft. Der andere Hauptgang, das in Heu gegarte Salzwiesenlamm (22 Euro) hinterlässt begeisterte Sprachlosigkeit: Perfekt gegartes Fleisch, das die Sommerwiesen-Assoziation des Kräutersalzes dank der Heugarung zärtlich wiederbelebte, dazu rustikale Perlgraupen und das beigelegte Honiggemüse nur leicht sautiert lassen vom Sommer träumen. Alles ruft nach einem leichte Roséwein, doch wir haben uns wegen der Kühle und des dunklen Fleisches für einen roten Ladoix entschieden, der mit seiner Undifferenziertheit hinter den Erwartungen und dem Preis (45 Euro) zurückbleibt. Das Soufflé aus Turroné-Mandeln mit Erdbeersorbet (10 Euro) entschädigt aber nicht nur dafür, der grandiose feinherbe Riesling von einem Gut Günther Jauchs (6 Euro) lässt den Abend auch noch weintechnisch begeisternd ausklingen – es war kein besserer Soufflébegleiter denkbar.
Beim Weg hinaus fällt der Blick auf Vater und Schwiegersohn Specker, die rauchend und leicht fröstelnd am Ende ihres Tagwerks im Hof stehen, den Blick zu den Sternen gerichtet, und über Geschmacksnuancen und Gästewünsche plaudern. Spätestens jetzt wird klar: Eine bessere Mischung aus großartigem Essen und unkonventioneller Atmosphäre ist kaum denkbar.

Erschienen am 08.07.2011

WAS BLEIBT: Betriebsunfälle

Donnerstag, 30. Juni 2011

Es nützt ja nichts, drumherum zu reden: Auch wo wirklich gründlich, akribisch gar, gearbeitet wird, passieren Fehler. Die jüngste Abstimmung im Bauausschuss etwa wird als ein solch bedauerlicher Betriebsunfall in die jüngere Politikgeschichte Potsdams eingehen. Trotz besten Willens zweier Fraktionen der Regierungskooperation und trotz einer Leihstimme aus der Opposition wollte es partout nicht gelingen, ein Vorhaben – in diesem Fall die Matrosenstation Kongsnæs in der Schwanenallee, aber das Sujet ist austauschbar – zu kippen oder wenigstens um Jahre zu verzögern. Das nimmt ein wenig Wunder, denn solche Nachlässigkeiten beim Kippen von Projekten, die eigentlich schon auf den Weg gebracht waren, sind selten geworden: Bevor die Damen und Herren Abgeordneten in die Sommerferien entschwinden, vergruben sie noch mal eben ein paar Projekte, damit die über den Sommer kein Eigenleben entwickeln und Ende August plötzlich vorangeschritten sind. Die Seeoper auf Hermannswerder hatte man ja schon vorab vertrieben, so dass sichergestellt ist, dass keine Arien die lauen Sommernächte stören. Vom Badneubau im Bornstedter Feld sind deutliche Absetzbewegungen zu erkennen, ebenso von der Bebauung des Brauhausberges in der noch vor zwei Jahren hochgejubelten Form. Vom Tierheim reden wir gar nicht erst, da hat’s ja nur wenige Jahre, gefühlte 72 Planungen und sechsstellige Planungssummen für ein Heim auf dem Stadtgebiet gekostet, bevor irgend jemandem auffiel, dass es doch viel bequemer und billiger ist, die Tiere weiterhin extern abzuliefen. Doch das zur politischen Folklore der Landeshauptstadt gehörende Blocken von Projekten – alternativ ist jederzeit auch Totreden möglich – strengt an, und dann passiert’s halt: Die mittlere Speicherstadt etwa ist schon verkauft und beschlossen. Hier hätte man gern noch umgeplant oder neu ausgeschrieben oder wenigstens die Architektur diktiert. Aber vielleicht lässt sich der Bauherr ja noch dazu zwingen, einen Uferweg einzuziehen – wen kümmern schon die paar Millionen Schadenersatz? Gut, uns bleibt die Hoffnung, dass die Abgeordneten frischer und konzentrierter aus den Ferien zurückkehren und dann nicht mehr versehentlich wirklich noch gebaut wird in dieser Stadt. Einziges Problem dabei ist: Die Verwaltung entwickelt ein Eigenleben und trickst immer häufiger an den Gremien vorbei, indem sie Fakten schafft, wo so mancher Ausschuss noch bis Mitternacht über die Frage schwadroniert, ob man vor einer Bar eigentlich Parkplätze bauen muss, weil, wer da reingeht, danach ja ohnehin nicht mehr fahren kann. Oder der Gestaltungsrat, den man gründete, um nicht über Geschmacksfragen zu entscheiden, am Ende wirklich über Geschmacksfragen entscheidet. Wenn solche Skandale endlich aufhörten, das wäre doch eine Wohltat. Und endlich bliebe alles, wie es ist: Schön zäh.

Erschienen am 30.06.2011

WAS BLEIBT: Aufrechter Gang

Mittwoch, 1. Juni 2011

Moralisch betrachtet mag der aufrechte Gang ja wünschenswert sein, orthopädisch ist er hingegen eine Katastrophe, das kann Ihnen jeder Evolutionsbiologie bestätigen und jeder Physiotherapeut sie spüren lassen. Und da Kommunalpolitik auf die Knochen geht, ist der aufrechte Gang dort zuweilen zu anstrengend. Stattdessen wird gebuckelt, gerobbt, ausgesessen, auch gekrochen oder sich in Höhlen zusammengekauert. Haben Sie zum Beispiel in den letzten Wochen diesen … wie hieß er gleich? … Oberbürgermeister irgendwo gesehen? Wir nicht. Aber er ist ja nicht allein mit diesem Phänomen: Sobald sich in dieser Stadt irgendwo Widerstand gegen ein Vorhaben regt – und er regt sich ja derzeit allerorten – gelangen die Stadtveordneten in ein Dilemma: Bleiben sie ihren Ansichten und Beschlüssen treu oder hören sie auf das Volk, das sie ja wieder wählen soll? In der ersten Phase der Verarbeitung dieses Konflikts sinkt meist der Kopf des Abgeordneten aus der aufrechten Haltung nach vorne, wo er nicht nur unentschlossen pendelt, sondern auch ein wenig die Blutzufuhr zum Gehirn drosselt. Das sorgt für Erinnerungslücken, wie man sich noch kürzlich zu diesem Projekt positioniert hatte. In hartnäckigen Fällen wird sogar vergessen, dass ja nicht die böse Stadtverwaltung da ein in der Bevölkerung ungeliebtes Projekt vorantreibt, sondern auf Weisung eines Stadtverordnetenbeschlusses handelt, den man selbst mit unterstützt hatte.
Später, nach Versammlungen mit aufgebrachten Bürgern, kommt dann eine gebeugte Haltung hinzu: Der Druck der Verantwortung lastet schwer auf den Schultern, die sich in einer Art Kompensationsbewegung daraufhin hochziehen: „Ich weiß auch nicht, ich war ja dafür, traue mich aber nicht, Ihnen das zu sagen, vielleicht können wir ja noch Änderungen im Detail fordern, ich muss da mal mit der Fraktion drüber reden“, soll das heißen. Wird der Gegendruck noch ärger, bieten sich die Klassiker an: Aussitzen (bis der Beschluss gefallen ist, und Beschluss ist Weisheit der vielen, da kann man nichts machen), Einknicken (wir haben zwar recht, können aber nicht gegen die Bevölkerung regieren) oder – für sehr Fortgeschrittene – kompletter Richtungswechsel bei gleichzeitiger Beibehaltung des aufrechten Ganges (verlangt viel Übung, ist nur besonderen Talenten zugänglich). Nur die ganz Dummen drücken den Rücken durch und halten die Nase in den Orkan, wenn sie einen Beschluss für richtig halten. Gewinnen können sie damit nichts außer ein bisschen Respekt und warmen Reden beim Abschied dereinst. Aber deren Bandscheiben, die möchten Sie nicht sehen!

Erschienen am 01.06.2011

Das Captain-Kirk-Gefühl

Samstag, 30. April 2011

Freizeit: Filmpark eröffnet 1,6 Millionen Euro teure Star-Trek-Ausstellung / Wertvolle Exponate aus den Serien und Filmen

Vor kurzem noch in Hollywood, jetzt in Potsdam: Requisiten aus Star-Trek-Film sind erstmals in Europa zu sehen.

Sich einmal kraftvoll aus dem Chefsessel drücken und energisch „Auf den Schirm!“ rufen. Oder „Energie auf die vorderen Phaserbänke.“ Oder „Übernehmen Sie, Nr. 1“ – dieses James-T.-Kirk oder Jean-Luc-Picard-Gefühl können alle Star-Trek-Fans ab morgen bis Ende Oktober für 13 Euro Eintritt im Filmpark genießen. Solange währt die Star-Trek-Ausstellung in der Caligari-Halle, die Filmpark-Geschäftsführer Friedhelm Schatz gestern vorstellte. 1,6 Millionen Euro lässt der Filmpark sich die aufwändige Schau auf 12 000 Quadratmetern kosten, 130 000 Besucher müssen kommen, um die Kosten zu refinanzieren. Im Gegenzug erleben sie zweitgrößte Schau des elf Filme und sechs Serien mit 726 Folgen umfassenden Star-Trek-Universums um Raumschiffe, fremde Planeten und eigentümliche Rassen, die bislang in Europa zu sehen war. Erstmals ausgestellt wird der Transporter-Raum, der im bislang jüngsten Star-Trek-Film zum Beamen der Mannschaft zum Einsatz kam. Unumstrittener Höhepunkt ist dennoch die Kommandobrücke der „USS Enterprise 1701-D“, der erfolgreichsten Serie mit Captain Jean-Luc Picard. Der Versuchung, in seinem Sessel Platz zu nehmen oder in dem seines ersten Offiziers William T. Riker konnten beim Pressetermin nur die wenigsten Journalisten widerstehen.
Für Nicholas Cooper waren hingegen die fast eine dreiviertel Tonne schweren Modelle der „Enterprise“ und der „Voyager“ die größte Herausforderung. Das Unternehmen des Australiers hat die Ausstellung konzipiert, transportiert und aufgebaut. Die schweren Modelle, die in den Serien für die Außenaufnahmen der Schiffe benutzt wurden, unter die Decke zu bringen, sei keine leichte Aufgabe gewesen, sagt er. Auch der Transport der wertvolle Stücke auf dem Seeweg sei eine Herausforderung. Zu den wertvollsten Stücken zählen indes die 26 Originalkostüme, die von Spock, Kirk, Uhura und Co. in den Filmen getragen wurden. Drittes Originalset ist die Bar des Ferengi „Quark“ aus der dritten Serie „Deep Space Nine“. Sie soll „behutsam“ auch für Partys im Rahmen der Ausstellung genutzt werden, so Friedhelm Schatz.
Rund zwei Stunden Zeit brauchen die Besucher, um all die Masken, Kostüme und Ausrüstungsgegenstände wie Phaser-Waffen, Kommunikatoren und Tricorder zu bewundern, Picards Schreibtisch, Worfs Schwert und den klingonischen Kaiserthron zu bewundern oder sich vor dem Green-Screen virtuell ins All zu begeben. Gerhard Raible von der Trek-World-Marketing versprach ein spannendes Begleitprogramm mit wissenschaftlichen Vorträgen und den Besuchen von Originalschauspielern in den nächsten Monaten. Welche das sein würden, verriet er aber noch nicht. „Wir sind mit fast allen im Gespräch, aber es ist nicht immer leicht“, so Raible. Lediglich einen Auftritt von „Mr. Spock“ alias Leonard Nimoy sei ausgeschlossen. Der 80-Jährige ziehe sich langsam aus dem Star-Trek-Zirkus zurück. Die „Kapitäne“ Kirk (William Shatner) und Picard (Patrick Steward) würden aber noch von ihm „bearbeitet“.

Erschienen am 30. April 2011

Was bleibt: Acht goldene Regeln

Donnerstag, 14. April 2011

Derzeit vergeht kaum ein Tag in dieser Stadt, an dem sich keine neue Bürgerinitiative gründet. Unerklärlicherweise gelingt es dann aber doch hin und wieder der Mehrheit – oder zumindest der Stadtverordnetenversammlung, die ein paar verschrobene Demokratietheoretiker immer noch für die Repräsentanz dieser Mehrheit halten – der Stadt Bestes gegen den wütenden Ansturm der Partikularinteressierten durchzusetzen. Das muss nicht sein. Mit ein paar einfachen Ratschlägen lässt sich so ziemlich jede Bürgerinitiative zum Erfolg führen – und zum Liebling in Politik und Medien machen. Hier die acht wichtigsten Punkte:
1. Engagieren Sie sich nur gegen Vorhaben, die Sie ganz konkret betreffen. Sehen Sie davon ab, sich für schwachsinnige übergeordnete Ziele wie Menschenrechte, Atomausstieg oder Kinderarmut einzusetzen. Bekämpfen Sie nur den Straßenausbau, der Ihr Geld kostet, die Verkehrsmaßnahme, die Ihnen Lärm beschert, das Neubaugebiet, das Ihnen die Sicht vom Balkon verbaut.
2. Ebenso unumstößlich ist es aber, niemals dazu zu stehen, dass es nur um Ihre ureigenen Interessen geht. Heucheln Sie stets ein Allgemeininteresse, reagieren Sie höchst empfindlich auf die Unterstellung, Sie wollten ja nur Ihre Ruhe im Vorgarten.
3. Für Fortgeschrittene: Simulieren Sie Verständnis für gesellschaftliche Notwendigkeiten, sehen Sie öffentlich ein, dass man die Straße, Schule oder Siedlung ja brauche, aber eben nicht genau hier, bei Ihnen. Ignorieren Sie den völlig hirnrissigen Einwand, dass, wenn alle das sagten, nirgendwo mehr Schulen gebaut würden. Was geht Sie anderer Leute Elend an?
4. Suchen Sie Gleichgesinnte, gründen Sie eine BI, geben Sie sich einen Namen, der mindestens einen Imperativ enthält und mit einem Ausrufezeichen endet. Sichern Sie sich die gleichlautende Internetadresse. Dort schauen zwar nur Ihre Mitglieder drauf, aber das gibt Ihnen die hübsche Gelegenheit, auf der Seite eine Umfrage zum bekämpften Projekt zu starten, deren Ergebnis Sie dann in einer Pressenotiz „repräsentativ“ und „überwältigend“ nennen.
5. Für Profis: Warten Sie mit Ihrem Protest bis kurz vor dem ersten Spatenstich. Ignorieren Sie jahrelange politische Debatten, Bürgerversammlungen, Foren, Presseberichte, Planauslegungen. Kommen Sie erst ganz zu Schluss hervor und klagen Sie dann lauthals, das hier mal wieder nicht mit den Anliegern geredet wurde, obwohl das doch das Naheliegendste gewesen wäre. Beklagen Sie ein Demokratiedefizit und mangelnde Bürgernähe.
6. Seien Sie, um Himmels Willen, feindselig und kompromisslos. Gehen Sie unbedingt davon aus, dass Ihnen Politiker und Verwaltungsmenschen Übles wollen, dass die Sie sie austricksen, hintergehen, auf die lange Bank schieben. Halten und erklären Sie jeden für komplett unzurechnungsfähig und böswillig, der eine andere Meinung vertritt.
7. Bemerken Sie, wie unfähig doch Verwaltung und Politik sind. Recherchieren Sie im Internet ähnlich aussehende Fälle, die anders entschieden wurden und verklären Sie diese dann zu Referenzurteilen. Lesen Sie sich auf eigene Faust in komplexe Rechtsmaterien ein und schreien Sie begeistert Zeter und Mordio, wenn ein Offizieller in der Bügerversammlung nicht Ihre Detailkenntnis hat.
8. Bleiben Sie unsachlich und bekämpfen Sie jedes Argument gegen das Vorhaben, so einleuchtend es auch sein mag. Vermeiden Sie Differenzierung wie der Teufel das Weihwasser. Und geben Sie nie, nie, nie ganz einfach zu, dass das Projekt gut ist, aber Sie einfach davon verschont bleiben wollen.

Erschienen am 14. April 2011

„Es gibt natürlich auch etwas zu verbessern“

Montag, 4. April 2011

Politik: Die nur knapp wiedergewählte CDU-Kreisvorsitzende Katherina Reiche empfindet die Potsdamer CDU nicht als gespalten

Nach einem turbulenten Parteitag mit vielen Vorwürfen gegen sie wurde Katherina Reiche am Freitagabend knapp wiedergewählt. Jan Bosschaart sprach mit ihr über ihre künftige Arbeit.

MAZ: Legt man das Wahlergebnis zugrunde, sind Sie nur noch Vorsitzende von knapp 52 Prozent Ihres Kreisverbandes – sehen Sie sich ausreichend legitimiert, ihn zu führen?
Katherina Reiche: Ja, ich bin von der Mehrheit der Anwesenden gewählt worden und werde den Kreisverband wie bisher mit vollem Engagement führen, in enger Zusammenarbeit mit den Vorsitzenden der Ortsverbände. Da auch alle Vorschläge unserer Konsensliste für Beisitzer und Stellvertreter bestätigt wurden, hatte der Parteitag am Ende doch das Zeichen der Geschlossenheit und des Aufbruchs gezeigt.

Insbesondere die Kluft zu Ihrer Fraktion scheint sehr tief zu sein – wie wollen Sie die überwinden?
Reiche: Schon im letzten Kreisvorstand waren von den fünf Fraktionsmitgliedern vier in diesem Kreisvorstand vertreten. Dort haben wir auch bisher miteinander gearbeitet. Wie auch immer: Es gibt natürlich auch etwas zu verbessern. Das christdemokratische Profil in der Stadtpolitik sollte stärker hervorgehoben werden.

Ist es nicht wichtig, dass Kreisverband und Stadtfraktion Hand in Hand, statt nebeneinander her oder gar gegeneinander agieren?
Reiche: Ihr Bild kann ich nicht nachvollziehen. Ich kann auch niemandem raten, dieses Bild in der Öffentlichkeit zu verfestigen. Mit Hans-Wilhelm Dünn, Michael Schröder und Horst Heinzel sind weiterhin drei Fraktionsmitglieder im Kreisvorstand, sie werden sich dort auch in Zukunft einbringen.

Fraktionsmitglied Peter Lehmann beklagt, sie wären in ihrer letzten Amtszeit nur einmal zu einer Fraktionssitzung erschienen.
Reiche: Ich bin präsent in Potsdam, in der Stadt und in der CDU, das wissen auch alle.

Sie haben angekündigt, um das Vertrauen jener, die sie nicht gewählt haben, zu werben. Wie wird dieses Werben aussehen?
Reiche: Ich habe ja am Freitag zehn Punkte vorgestellt, wie wir die Arbeit weiter entwickeln können. Dazu gehören Kreisverbandskonferenzen, also Kleine Parteitage zur inhaltlichen Arbeit, wir werden auch stärker in die Ortsteile gehen. Außerdem habe ich vier Stellvertreter und neun Beisitzer, die sich ebenfalls inhaltlich einbringen.

Nun hatten aber Sie angekündigt, um das Vertrauen zu werben, nicht der Vorstand …
Reiche: Der Vorstand arbeitet gemeinschaftlich und muss das Vertrauen in ihn rechtfertigen. Wie bisher, werde ich mit vollem Einsatz arbeiten. Wir werden alle intensiv arbeiten, um die Kommunalwahlen 2013 vorzubereiten. Das ist die Aufgabe dieses Kreisvorstandes.

Am Freitag wurden wiederholt die schlechten Ergebnisse bei der Kommunal- und Oberbürgermeisterwahl beklagt. Was ist das Ziel für die nächsten Wahlen 2013?
Reiche: Bei der Kommunalwahl 2008 war ich gerade seit zwei Monate im Amt. Die Partei hat gekämpft, aber wir waren mit dem Ergebnis selbstverständlich nicht zufrieden. Bei der Oberbürgermeisterwahl gab es eine besondere Situation, da haben alle auf den Amtsinhaber und den stasibelasteten Herausforderer geschaut. Bei den Wahlen zum Bundestag haben wir gezeigt, dass 20 Prozent für die CDU erreichbar sind. Das soll auch unsere Perspektive bei den Kommunalwahlen sein.

Wo sehen Sie die Ursachen für die tiefe Gespaltenheit Ihres Kreisverbandes?
Reiche: Ich teile diese Einschätzung gar nicht. Es gab am Freitag eine zweite Kandidatur für die Position des Kreisvorsitzenden, die Mitglieder hatten eine Auswahl und haben sich entschieden. Ich nehme dies als Auftrag und werde mit meinem Herausforderer Andreas Ehrl natürlich auch weiterhin gut zusammenarbeiten.

Sie sind 2008 auch mit dem Versprechen angetreten, den Kreisverband zu einen. Ist das gescheitert?
Reiche: Trotz des Kommunalwahlergebnisses sind wir in der Rathauskooperation vertreten, wir stellen nach vielen Jahren eine Beigeordnete, im Kampf gegen die Flugrouten über Potsdam haben wir uns als erste positioniert. Wir haben im Falle des Uferweges am Griebnitzsee auf die Bundesregierung eingewirkt, die Ufergrundstücke an die Stadt zu verkaufen, haben mitgeholfen, das Töpfer-Institut nach Potsdam zu holen, und sorgen immer wieder dafür, dass Forschungsmittel sowie Unesco-Welterbemittel nach Potsdam fließen. Das ist unser Erfolg für die Stadt.

Erschienen am 4. April 2011

Vulkanausbruch in der Mundhöhle

Samstag, 26. März 2011

Nachschlag: Das Curry Culture hat leckere Würste zu zivilen Preisen – und Soßen für Jungs, die hart sein wollen

Ob Spitzenrestaurant, Café, Kneipe, Ausflugslokal oder Döner – Mitarbeiter des Potsdamer Stadt- und Landkuriers sind als anonyme Tester unterwegs.

Der Weg in die Hölle ist mit vier Stufen versehen, die da lauten: Feuriger Pfad, Krakatau, Montezumas Rache und das Jüngste Gericht. Man kann diese Namen albern finden, aber wer die Currysoßen probiert, die sie bezeichnen, billigt ihnen augenblicklich einen gewissen Respekt zu. Auch sieht der Vorhof der Hölle vergleichsweise einladend aus: Das „Curry Culture“ ist der jüngste Spross in der reichhaltigen Imbiss-Landschaft der Bahnhofspassagen und lockt mit einem satten Paprika-Orange vorbeihetzende Passanten an den Tresen. Dort haben sie die Wahl zwischen klassischer Currywurst, Kalbscurrywurst, Krakauer, Chiliwurst, Bratwurst, Schaschlikspieß und Knusperschnitzel – am besten im Menü mit Pommes Frites und einem kleinen Getränk. Zwischen vier (Bratwurst) und sechs Euro (Schnitzel) werden dafür fällig.
Die Stars sind aber die Soßen, nicht nur die Dips für die „besten Pommes weit und breit“, wie ein Plakat kündet – Schnittlauchcreme, Quark, Knoblauch, Honig-Senf, Mayo – sondern eben jene Feuerpasten. Für den vorgebildeten Chilifreund stehen die Scoville-Werte der Soßen an jedem Platz. Die Scoville-Skala gibt die Schärfe von Paprika an, in dem sie den Gehalt an Capsaicin, das für die Schärfeempfindung zuständig ist, angibt. Eine Gemüsepaprika hat null, reines Capsaicin hat 15 Millionen Punkte auf der Skala. Ein Tropfen davon auf der Zunge genügt, um in Ohnmacht zu fallen. Wir probieren alle vier Soßen – mit einer Kalbscurrywurst, die wir zunächst kosten, so lange noch ein Rest Geschmackssinn im Mundraum regiert. Sie ist heiß, weich, außen schön kross, zartes Fleisch – wie eine Curry sein soll.
Los geht’s mit dem Feurigen Pfad (150 000), eine klassische Soße für Currywurstfans, die es gern etwas pikant mögen. Hat eine gewisse Schärfe, tut aber niemandem wirklich weh. So ermutigt, ist der Krakatau (300 000) dran. Das war ein Vulkan, der 1883 sich in unbewohntes Gebiet ergoss. Die Mundhöhle des Testers ist hingegen höchst lebendig. Noch. Sie bleibt es auch danach. Krakatau beißt zwar schon gehörig in die Schleimhäute, und eine gesamte Currywurst mit dieser Soße wäre schon irgendwo zwischen Genuss und Grenzwertigkeit anzusiedeln, aber um Frauen oder die Fußballkumpels zu beeindrucken, tun Männer ja so was. Immerhin: Der Tester zieht jetzt die Jacke aus. Ihm ist „irgendwie warm“ geworden. Es folgt Montezumas Rache (600 000). Kein schöner Name für ein Lebensmittel, weil sofort Assoziationen an Reisekrankheit und Urlaubswochen auf der Toilette auftauchen. Aber sei’s drum. Montezuma ist hinterlistig, denn die tastende Zunge erschmeckt zunächst nur Fruchtigkeit. Auch der Gaumen. Verdutztes Innehalten. Dann zündet der Nachbrenner. Es ist Zeit, den obersten Hemdknopf zu öffnen und von Nasen- auf Mundatmung zu wechseln – in dem sinnlosen Versuch, die gebeutelten Geschmacksknospen zu kühlen. Der Cola-Verbrauch steigt und verschafft die Illusion von Kühlung, obgleich wir vorab doch gelesen haben, dass nur Fett oder Alkohol das Capsaicin leidlich bändigen. Für einen Schnaps im Dienst ist es aber zu früh, und die sicherheitshalber mitgebrachte Schlagsahneflasche zu öffnen kommt nicht in Frage, so lange der wirklich nette Herr hinter der Theke so dämlich und erwartungsvoll grinst.
Also zum Finale. Das Jüngste Gericht bringt eine Million Punkte auf der Scoville-Skala und den Respekt der zwei Bauarbeiter, die am selben Tisch sitzen. „Alle Achtung!“ sagen sie, das kommt nicht oft vor. Es bleibt nicht viel Zeit, sich daran zu erfreuen. Der Mundraum verwandelt sich in ein flammendes Inferno, der Tester liefe am liebsten los und wird nur noch vom Berufsethos an den Platz gefesselt. Das Zahnfleisch scheint sich zurückziehen zu wollen, es spannt, es brennt und die Gesichtsfarbe nimmt das intensive Feuerwehrrot der Soße an. Die Serviette wird zum Abtupfen der Stirn benötigt, und eine ältere Damen gegenüber tippt beunruhigt ihren Mann an und schaut, als führe sie an einem Autounfall vorbei. Die Atemfrequenz liegt deutlich über 100, nur bringt das stoßweise Kühlen des Mundraums nichts. Das Capsaicin reizt zwar die selben Nerven, die auch Hitze melden. Jetzt hilft nur noch Geduld. In all das Leiden hinein sagt der Mann hinter der Theke, um Frauen zu beeindrucken, schaffen manche Männer davon sogar eine ganze Currywurst. Wir halten das für missverstandene Liebe.

Erschienen am 26.03.2011


%d Bloggern gefällt das: