„Ich sag, der Türke war’s“
Freitag, 10. Juli 2015Oder: Wie viele McDonalds-Mitarbeiter es braucht, eine Energiesparlampe zu wechseln
Samstag Abend, Berlin. Schwach besetzte McDonalds-Filiale. Über dem Eingang flackert eine Lampe. Hinter dem Tresen stehen zwei Mitarbeiter männlichen Geschlechts, einer eindeutig mit Migrationshintergrund. Faszinierend beobachten sie mangels Kundschaft das An und Aus der Lampe. Der türkische Mitarbeiter, nach Uniform und Schild Schichtleiter, übernimmt schließlich Initiative und Verantwortung. Er fordert den Kollegen auf, einen Hocker zu holen. Das dauert nur wenige Minuten, dann stellt der Kollege für den Schichtleiter den Hocker (der sich, streng genommen, als eine kleine Trittleiter materialisiert) unter die Lampe, die sich trotz beharrlichen Anstarrens durch den Schichtleiter noch immer nicht zwischen An und Aus entschieden hat. Er steigt nun auf den Hocker, streckt sich und merkt, das sein Arm gerade so an die Abdeckung reicht. Da das jeder sieht, zwingt ihn sein Stolz zu einem waghalsigen Manöver. Er bittet nicht etwa den deutlich größeren deutschen Kollegen auf den Hocker – der steht offenen Mundes – sondern überstreckt sich, und berührt so die Abdeckung gerade mit den Fingerspitzen. Diese quittiert den Eingriff mit schepperndem Herunterfallen. Beim Überstrecken legt der Schichtleiter ein weiteres waghalsiges Manöver, diesmal rhetorischer Natur hin, den seine Lippen formen den unsterblichen Satz: „Ich würde mich ja länger machen, aber dann kannst Du Honk ja meine Waffe sehen“. (Für nicht Dabeigewesene: Er hatte offenbar Sorge, dass sein Bauch aus der Hose rutscht – das war bereits eingetreten –, und zwar soweit, dass Teile des Genitaltrakts freigelegt würden.)
Der Kollege lacht pflichtschuldig, aber nicht überzeugen. Der Schichtleiter hat indes nun die perfekte Ausrede gefunden, den Hocker zu verlassen. Er ist nicht zu klein, sondern hat Sorgen, seinen Kollegen Minderwertigkeitskomplexe oder gar unerfüllbare Begierden aufzubürden, falls sie seiner gewaltigen Fortpflanzungsausstattung ansichtig würden. Außerdem hat ihn das ewige Schauen in die nach wie vor unbeeindruckt an- und ausgehende Energiesparlampe, die zudem ihres mattierten Schutzes beraubt ist, geblendet. Also darf der größere Kollege dran. Der klagt zunächst auch über Blendung, kommt aber gerade so an die Lampe, greift sie allerdings nicht am Sockel, sondern am Glas. Das hat zwei völlig unvorhersehbare Auswirkungen: Er verbrennt sich und schreit auf. Der Schichtleiter grübelt einen Moment angestrengt und bringt dann eine unschlagbaren Idee ein: Ein Lappen muss her. Selbstverständlich kann er als Schichtleiter den Posten unmöglich verlassen, also muss der Kollege von der Trittleiter herunter und den Lappen selbst holen. Die Zeit nutzt der Schichtleiter, ein gelbes „Vorsicht, rutschig“-Warnschild vor die Trittleiter zu platzieren. Es ist zwar nicht rutschig, aber irgendwie sollten die nicht existenten Kunden ja gewarnt sein, dass hier eine Gefahrenstelle vorliegt, die schon einen Kollegen verletzt hat.
Der Verletzte kommt derweil mit zweierlei zurück: verpflasterten Fingern und dem Lappen. Er steigt nun auf die Trittleiter, und fasst die Lampe durch den Lappen an. Leider nicht am Sockel – der wäre ja kalt gewesen –, sondern erneut am Glas, so dass er sie abbricht und ein bisschen Quecksilberdampf in die Küche weht. Dank des Lappens verbrennt er sich zumindest nicht. Aber er schneidet sich an den Scherben. „Wenigstens ist sie aus“, sagt der Schichtleiter, sein mediterran-optimistisches Naturell unter Beweis stellend. Jetzt werden zwei Kolleginnen gerufen: Eine, um die Scherben aufzufegen, eine weitere, um mehr Pflaster zu bringen. Das dauert weitere fünf Minuten, der Schichtleiter tauscht derweil den Tritthocker gegen eine Stehleiter aus, die so hoch ist, dass sie nicht unter die Decke passt. Mit leichtem Schrägstellen gelingt es, er muss sie nun aber durch Besteigen der untersten Stufe austarieren. Die verpflasternde und die scherbenfegende Kollegin haben ihre Aufgaben erfüllt, bleiben aber sicherheitshalber – und weil’s lustig zu sein scheint – noch am Ort des Geschehens.
Der nun vierfach verpflasterte Kollege erklimmt unsicheren Schritts die schwankende Leiter, die sein Schichtleiter dank höheren Körpergewichts immerhin stabilisieren kann. „Wenn ditt ma nich schiefjeht und der noch runtasaust“, sagt die Kollegin mit den Scherben auf der Kehrschaufel. „Ich sag dann einfach, der Türke war’s“, witzelt der Kollege auf der Leiter, dem es mittlerweile tatsächlich gelang, den Sockel der Lampe ohne weitere Verbrennungen, Schnittwunden oder Quecksilberwolken herauszuziehen. „Jetzt die neue“, sagt er, und sein Knie zittert etwas – ob der Höhe oder mangels Vertrauens in das Gegengewicht des Schichtleiters, muss unklar bleiben. „Ach Du kacke, wo sind denn neue?“ fragt dieser. Die Pflasterkollegin mutmaßt, dass Katrin das wissen müsse. Katrin ist im Moment die einzige noch arbeitende Kollegin und bedient gerade jemanden am McDrive-Fenster. Also warten. Sobald Katrin frei ist, weiß sie es tatsächlich, kann aber gerade nicht ins Lager, weil ein neuer Kunde anrollt. Die Kollegin mit den Scherben bietet sich an, ins Lager zu gehen und diese dort auch gleich zu entsorgen. „Einer muss hierbleiben, falls Kunden kommen“, entscheidet der Schichtleiter, „ich kann hier ja nicht weg und er“ – er meint den immer stärker zitternden Kollegen am oberen Ende – „auch nicht“. „Ich bin ja noch da“, bringt sich die Pflasterkollegin in Erinnerung. Der Schichtleiter denkt kurz nach. „Das müsste gehen“, entscheidet er schließlich, ganz Schichtleiter. So wird es gemacht. Fünf Minuten später kommt die Kollegin aus dem Lager mit einer herkömmlichen Glühbirne zurück, die mit ihrem Gewinde nicht in den Stecksockel der Energiesparleuchte passt. Das merken die Herren aber erst nach einigen Versuchen, das runde Gewinde in den quadratischen Sockel zu drehen. Also muss die Kollegin erneut ins Lager.
Inzwischen kommen Kunden, ein Pärchen. „Habt ihr schon zu?“ fragt der Mann, weil das gelbe Anti-Rutsch-Schild, die wankende Aluleiter und der Tritthocker eine unüberwindliche Barriere bilden. „Nee, ist offen“, sagt der Schichtleiter, „ihr müsst nur außen rum gehen, durchs ganze Lokal“. „He“, ruft der Kollege von oben zaghaft, denn der Schichtleiter hat sich zur Beantwortung der Frage etwas zu weit vorgelehnt und das Konstrukt gerät bedrohlich ins Wanken. Erschrocken lehnt er sich zurück. Die Kunden gehen brav durchs ganze Lokal – statt einfach über den Hocker zu steigen – und die Kollegin kehrt aus dem Lager zurück. Sie will an diesem Abend offensichtlich den Preis für den intelligentesten Mitarbeiter gewinnen, denn sie hat sicherheitshalber von jedem verfügbaren Leuchtmittel im Lager ein Exemplar mitgebracht – auch wenn das bedeutet, dass sie einen Extraweg in Kauf nimmt, um die nicht passenden zurückzubringen. Es sind dies: drei weitere Glühlampen mit dem selben Sockel, nur in anderen Wattstärken, zwei Glühlampen mit kleinerem Sockel und zwei Energiesparlampen mit quadratischem Stecksockel. Sie werden genau in dieser Reihenfolge und unter zunehmender Resignation durchprobiert: Erst die drei mit dem Drehsockel groß, dann die beiden mit dem Drehsockel klein.
Missmut macht sich breit. Erst bei der ersten Energiesparlampe hellt sich das Gesicht am oberen Ende der Leiter auf: „Hey, die sieht ja aus wie die, die wir rausgenommen haben!“ Der Schichtleiter vergisst vor Freude fast wieder die Balance, doch die Begeisterung ist nur von kurzer Dauer: Die Lampe ist zu klein, passt nicht in den Sockel. „Gib mal die letzte“, sagt der Kollege oben, und es ist kaum noch Hoffnung in seiner Stimme. „Lass gut sein“, sagt der Schichtleiter, „wenn die anderen nicht passen, passt die auch nicht. Wir fragen Chef am Montag“. Doch der Kollege oben riskiert nicht seit 20 Minuten sein Leben und hat vier Pflaster an den Fingern, um jetzt den letzten Strohhalm vorbeischwimmen zu lassen. „Gib schon her“, beharrt er, steckt die Lampe in den Sockel, sie passt – und bleibt dunkel. „Du muss sie tiefer reindrücken“, sagt der Chef. Das tut der Kollege, fasst sie aber wieder am Glas an. Kurzes Leuchten, dann ein Schrei, Scherben, Quecksilberqualm. „Na wenigstens war es die richtige“, sagt die Kollegin mit der Vorliebe fürs Lager, „ich hol noch eine und sag Katrin, sie soll Pflaster bringen.“
Geistesgegenwärtig hat auch der Schichtleiter die Lage analysiert und fordert bei der fünften Kollegin erneut den Lappen an. Auf die Idee, die Lampe am Plastikfuß zu berühren, kommt niemand. Muss auch niemand. Mit vereinten Kräften gelingt es im nächsten Anlauf ganz zufällig. Nach nur einer halben Stunde, sieben Pflastern und mit Hilfe von fünf Kollegen hat die Crew eine Energiesparleuchte gewechselt. „Was für ein Tag“, sagt der Schichtleiter, tief ausatmend. Dann verteilt er die Aufgaben zum Wegräumen von Leiter, Tritthocker, nicht passenden Lampen, Scherben und Pflasterresten. Das gelbe Schild klappt er eigenhändig zusammen.
Was bleibt, ist ein Hauch Quecksilberduft über der Küche.
Veröffentlicht am 10. März 2013