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Wollestraße: Parkplätze oder Bäume

Donnerstag, 29. Januar 2009

Sanierung: Anwohnerwünsche gehen in Babelsberg weit auseinander

Wenn wir nicht übers Pflaster streiten, streiten wir über die Einbahnstraße: Im Stadtkontor ist dieser Tage Nervenstärke gefragt.

POTSDAM-BABELSBERG| „Manchmal“, sagte einer der Anwohner beim Hinausgehen, „manchmal wäre eine Diktatur doch ganz praktisch.“ Es waren fast zwei Stunden vergangen, als sich der mit 60 Anwohnern hoffnungslos überfüllte Raum leerte. Das Stadtkontor hatte seine Pläne zur Sanierung der Wollestraße vorgestellt, die vermutlich im Frühjahr 2010 beginnt.
Dass die Sanierung dringend nötig ist, dürfte dabei der einzige Konsens an diesem Abend gewesen sein: Das alte Pflaster ist vielfach kaputt, der Lärm und die Schäden an den Häusern sind immens, die fehlende Regenentwässerung lässt zuweilen Keller volllaufen und die das Straßenbild prägenden Rotdorn-Bäume sind laut Grünflächenamt und Naturschutzbehörde zum überwiegenden Teil dank rücksichtslosen Parkens dem Tode geweiht.
Weil er die häufig auseinanderklaffenden Wünsche der Anlieger im Sanierungsgebiet bereits gewohnt ist, hatte Dietrich Wiemer vom Stadtkontor diesmal gleich zwei Varianten projektieren lassen und erhoffte sich von der Anwohnerversammlung ein erstes Meinungsbild, das durch eine Umfrage unter allen Anwohnern demnächst geschärft werden soll. Die erste Variante sieht vor, den Straßenquerschnitt bei 6,10 Metern zu belassen, die kranken Rotdornbäume zu ersetzen und das Parken künftig auf eine Straßenseite einzuschränken. Dabei fielen zum Schutze der Bäume aber 64 bis 72 Parkplätze weg. Version zwei sieht eine Verbreiterung der Straße auf 8,10 Meter vor, zu deren Ungunsten die Gehwege auf 1,30 Meter Breite gestutzt würden und der traditionelle Rotdorn dem nicht so mächtige Kronen bildenden Weißdorn weichen müsste. Im Gegenzug könnte auf beiden Straßenseiten geparkt werden, es fielen kaum Stellplätze weg. Gemeinsam ist beiden Varianten der Austausch der Trink- und Schmutzwasser, Gas- und Elektroleitungen sowie der Einbau der bislang fehlenden Regenentwässerung in die Straße. Außerdem soll laut Verkehrsbehörde in jedem Fall die Einbahnstraßenregelung aufgehoben werden, um Umweg-Verkehre zu vermeiden.
Der Plan, den Anwohnern die Meinungsfindung durch Alternativen zu erleichtern, darf nach der munteren Debatte im Anschluss dennoch als grandios gescheitert gelten: Statt über die Auswahl zwischen historischem Baumbestand oder Parkplätzen entzündeten sich nicht nur Debatten um die beliebte, leidige Frage „Asphalt oder Pflaster“, die das Stadtkontor trotz Hinweises auf einen nach den Streitigkeiten der letzten Jahre von den Stadtverordneten gefassten Grundsatzbeschluss für das alte Pflaster nicht unterbinden konnte: Man diskutierte auch und vor allem darüber, ob man die Einbahnstraßenregelung nicht beibehalten könne. Warum das nötig sei, konnte zwar niemand schlüssig begründen – sieht man einmal vom Argument ab, dass das schon immer so gewesen sei –, aber das minderte die Leidenschaft des Streits nicht. Kurios dabei war, dass viele Anwohner bekannten, sich ohnehin nicht an die Regelung zu halten, denn die Wollestraße sei nun einmal lang sonst oft ein Umweg nötig. Wäre es nach dem Meinungsbild im Saal gegangen, es müsste wohl eine breite Einbahnstraße mit doppelt Parkplätzen, zum Teil mit Pflaster, zum Teil mit Asphalt, unter Beibehaltung des Rotdorns und breiten Gehwegen sein. Das ist aber nicht nur technisch, sondern rechtlich unmöglich.
Dem Stadtkontor stehen turbulente Zeiten ins Haus.

Infobox: Pflasterstreit
Die Straßensanierung in Babelsberg leidet seit Ende 2007 an verschiedenen Meinungen zur Frage: Pflaster oder n Asphalt?
In der Jahnstraße setzten Anwohner das Pflaster durch.
Die Meinungen in der Neuen Straße und der Wollestraße sind geteilt – ein Großteil der Bürger ist für Asphalt.
Ein zwischenzeitlich gefasster Grundsatzbeschluss der Stadtverordneten erzwingt im Sanierungsgebiet aber den Erhalt des Pflasters.

Erschienen am 29.01.2009

Fröstelnde Fische aus Fernost

Mittwoch, 31. Dezember 2008

Silvester: Der Marmorkarpfen ist lecker, wird aber verschmäht

Sie kamen zu DDR-Zeiten als Gastarbeiter, wurden hier aber nie richtig warm. Nun neigt sich der Auslandseinsatz der Marmorkarpfen dem Ende zu.

KALLINCHEN| Nach den Weihnachtsfeiertagen gelten selbst dauerhungrige Zeitgenossen als ausgefüttert. Ein 62 Kilogramm schwerer und 1,52 Meter langer Marmorkarpfen dürfte daher auch größere Gesellschaften als Silvester- oder Neujahrsmahl überfordern. Fischer Peter Sombert hingegen kann sich nicht aussuchen, was er in seinen Netzen findet. Zum Jahreswechsel wird Karpfen traditionell nachgefragt, und er könne ja keine Schilder an die Netze hängen, die den gewünschten heimischen Spiegelkarpfen das Hängenbleiben nahelegt, während er den „Gästen“ aus Asien, den meist größeren Marmor- und Silberkrapfen empfehle, einen Umweg im Motzener See zu schwimmen, sagt Sombert trocken. Und überhaupt, was heißt hier Gäste: In den 1970er Jahren ließ die DDR die Asiaten in großen Stückzahlen in die Seen setzen, um die Gewässer sauber zu halten. Da die Tiere genügsam sind und ausschließlich Plankton fressen, galten sie als wirtschaftlich sinnvoll. Doch ein wenig mehr Fischkunde vorher hätte helfen können: Die Gastarbeiter aus der Mongolei und China frieren in deutschen Gewässern: In jedem kalten Winter reduzierte sich die Population merklich– von ursprünglich 12000 Marmorkarpfen im Motzener See sind es derzeit vielleicht noch 2000, schätzt Sombert. Und: Weil die Gäste wärmeres Wasser gewöhnt sind, kommt in den kalten märkischen Seen keine Fortpflanzungslust auf, so dass der Bestand sich auch nicht erholen kann. Immerhin taugen die im Sommer sprungfreudigen Karpfen als Touristenattraktion. „Wenn neben ihrem Boot so ein Kaventsmann einen delphintauglichen Salto vollführt, staunen sie Bauklötzer“, sagt Peter Sombert.
Prinzipiell müsste der Fischer in Kallinchen den marmornen Beifang im Netz nicht ignorieren: Die Filets sind lecker, und auch in der Fischsuppe macht sich der Marmorkarpfen ausgesprochen gut. Doch Sombert wird deren Fleisch nicht los, der Brandenburger will seinen Spiegelkarpfen, und alte Gewohnheiten sind eben schwer zu ändern. Außerdem überfordert die schiere Größe selbst experimentierfreudige Fischesser: Wer nimmt schon 20 Kilogramm Karpfen mit nach Hause…
So werden die Marmorkarpfen wohl ein vorübergehendes Phänomen bleiben, und das große Zappeln im Netz wird immer seltener werden. Gut 30 Jahre sind die Fische jetzt alt, ihre durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei 40 bis 50 Jahren. Zumindest in warmen asiatischen Seen.
Peter Sombert verkauft indes weiterhin zirka einjährige einheimische Spiegelkarpfen, die in der Helter seiner Fischerei, quasi einem umzäunten Becken, dem Schicksal in Topf und Pfanne entgegenschwimmen. Rund 300 Stück hat er über die Feiertage an Kunden aus der Region und aus Berlin verkauft. Mit ihrem Gewicht von zwei Kilogramm sind sie auch nach den fetten Tagen noch zu bewältigen.

Erschienen am 31.12.2008

Neonazi enttarnt sich

Freitag, 28. November 2008

Eklat: Weil er sich nicht unter Kontrolle hat, wissen die Zossener nun, dass ein Holocaust-Leugner in ihrer Mitte lebt

ZOSSEN |  Seit drei Jahren lebte Rainer Link in Zossen (Teltow-Fläming) ein unauffälliges Leben. Er sanierte ein Haus in der Haupteinkaufsstraße und eröffnete dort sein „Medienkombin@t“, eine Mischung aus Internetcafé, Callshop, Kulturraum und „Gay-Bar“ (Schwulenkneipe).
Seine Maske fiel, als vergangene Woche rund 30 Einwohner sich daran machten, einen Beschluss der Stadtverordneten umzusetzen: Sie wollten sogenannte „Stolpersteine“, kleine Erinnerungstafeln an jüdische Einwohner, die von den Nazis deportiert wurden, in den Asphalt vor seinem Laden einbringen. Die Fläche ist „öffentlicher Straßenraum“. Doch Rainer Link wollte sich damit nicht abfinden. Hochroten Kopfes stürmte er aus dem Laden, stieß Umstehende aus dem Weg, schrie und entriss einem städtischen Angestellten die Kamera, wobei er ihn verletzte. Wie ein wildes Tier gebärdete sich der Mann, rief die Polizei, die ihm freilich nicht helfen mochte, und drohte, die Steine noch am selben Abend herauszureißen sowie die Verlegung per Gerichtsbeschluss verbieten lassen zu wollen.
Bei dieser Drohung ist es geblieben: Die Steine liegen noch im Pflaster, auch das Amtsgericht Zossen verzeichnete bislang keinen Einspruch, nur mit einem täglich neu über die Gedenktäfelchen platzierten Bierkasten, an dem ein Aufsteller lehnt, provoziert der Unternehmer die Stadt, die sich bislang nicht in der Lage sieht, ihr Recht durchzusetzen.
Doch der öffentliche Ausbruch warf Fragen auf, die schnell eine Antwort fanden: Nach MAZ-Recherchen ist Rainer Link ein mehrfach angeklagter Holocaust-Leugner aus dem Umfeld des berüchtigten Anwalts Horst Mahler. Link, der aus Berlin nach Zossen zog, weil seine zweifelhafte Prominenz es ihm nahezu unmöglich machte, noch eine Wohnung zu bekommen, war zeitweise Schatzmeister des inzwischen verbotenen „Vereins zur Rehabilitierung der wegen Bestreitens des Holocaust Verfolgten“, dem neben Mahler auch weitere prominente Holocaust-Leugner wie Ernst Zündel, Robert Faurisson und Anneliese Remer angehörten. Fotos im Internet zeigen ihn mit anderen Neonazis beim „Aufstand der Wahrheit“ auf der Wartburg im Sommer 2003, wo Plakate wie „Den Holocaust gab es nicht“ in die Kamera gehalten werden. Auf die MAZ-Veröffentlichung hin schrieb Rainer Link einen Brief an Zossens Bürgermeisterin und beklagte sich über das geschäftsschädigende Gebaren der Stadt und darüber, „hinterrücks besteinigt“ worden zu sein. Er forderte die Entfernung der „Schuldkultsteine“. Eine öffentliche Reaktion der Stadt steht bislang aus.
Link ist neben Gerd Walther bereits der zweite prominente Neonazi in Zossen. Ins nähere Umland sind einige NPD-Leute aus der Hauptstadt gezogen, darunter auch Berlins NPD-Chef Jörg Hähnel. In und um Zossen mehren sich nun Stimmen, die einen Imageschaden für die Wachstumsregion befürchten.

Erschienen am 28.11.2008

Mehr zum Thema (chronologisch):

Rangelei wegen eines Gedenksteins

Freitag, 21. November 2008

Eklat: Zossener Ladeninhaber verlor die Kontrolle, weil vor seinem Geschäft ermordeter Juden gedacht wird

Was als Zeremonie zur Erinnerung an jüdisches Leben in Zossen geplant war, wurde von einem brüllenden, prügelnden Internet-Café-Betreiber überschattet.

ZOSSEN| Es begann ganz harmlos: 15 Leute hatten sich gegen Mittag vor dem Rathaus versammelt, um unter der Leitung von Kurt Liebau Orte jüdischen Lebens in Zossen aufzusuchen. Es regnete, es stürmte, es war kalt, aber es war eben auch „ein wichtiger Tag für Zossen“, wie Liebau betonte. Ehrenamtlich verfolgt der studierte Indienwissenschaftler seit Jahren die Spuren jüdischer Bewohner der Stadt und ihrer Ortsteile. Für den Nachmittag war die Verlegung der ersten sechs Stolpersteine geplant. Unter diesem Namen setzt der Kölner Künstler Gunter Demnig seit 15 Jahren an den ehemaligen Wohnstätten von Juden, die von den Nationalsozialisten vertrieben, ermordet oder in den Tod getrieben wurden, Steine ins Pflaster. Sie sind zehn mal zehn Zentimeter groß und tragen auf einer Messingplatte Namen und Lebensdaten der Opfer. Rund 17000 Steine in mehr als 350 Städten und Gemeinden hat Demnig bisher verlegt.
Die ersten vier dieser Steine zum „darüber Stolpern“ kamen gestern vor dem Buchladen auf dem Marktplatz, Hausnummer 16, in die Erde. Dort lebte seit 1924 die vierköpfige Familie Falk in der oberen Etage. Sie wurde in Auschwitz ausgelöscht. Zwei weitere Steine sollten danach vor dem Haus Berliner Straße 11 eingelassen werden, wo Martha und Lesser Weinberg ein Textilgeschäft unterhielten. Sie wurden nach Theresienstadt deportiert. Doch schon auf dem Marktplatz machte das Gerücht die Runde, der dortige Ladenbesitzer wolle die Steine verhindern. Einer kurzen Beratung von Organisatoren, Stadtverwaltung und Polizei zufolge musste man sich keine Sorgen machen: Der Weg befindet sich im öffentlichen Straßenraum, und die Steinlegung ist durch Beschluss der Stadtverordnetenversammlung eindeutig legitimiert.
Die inzwischen auf rund 20 Personen gewachsene Gruppe wanderte also guten Mutes in die Berliner Straße, aber dort eskalierte es: Aus dem Internetcafé „Medienkombin@t“ stürmte ein Mann, der sich als „Eigentümer Herr Link“ vorstellte und das Setzen des Steines verbot. Auf die freundliche Mitteilung hin, dass er das nicht könne, weil es sich um städtischen Raum handle, rief er die Polizei – die war ohnehin schon im Anmarsch. Als dann die Spaten angesetzt wurden, stürmte der Ladeninhaber brüllend heraus, stieß wahllos umstehende Zuschauer um und verwickelte einen Mitarbeiter der Stadt in eine Rangelei. Der blutete am Ende. Die Polizei versuchte sich in Deeskalation und riet dem Ladenbesitzer, gegen den Beschluss der Stadt vorm Amtsgericht zu klagen. Die Chancen auf Erfolg dürften verschwindend gering sein. Indes wurden die Steine ins Pflaster gelassen. Seine Drohung, sie „wieder rauszureißen“, sollte der Geschäftsmann besser nicht wahr machen: Ihm drohen ohnehin schon Anzeigen wegen versuchter Körperverletzung. Gegenüber der MAZ und der „gesamten Scheißpresse“ wollte er sich zu den Gründen für seinen Unmut nicht äußern. Lediglich, dass die Steine „geschäftsschädigend“ seien, brüllte er mehrfach mit hochrotem Kopf.

Erschienen am 21.11.2008

Mehr zum Thema (chronologisch):

Kallinchens radelndes Uhrwerk

Mittwoch, 19. November 2008

Menschen: Leser loben zuverlässige MAZ-Zustellerin

KALLINCHEN| „Eigentlich“, sagt Hannelore Siecke, „bin ich ja Langschläferin“. Das ist schwer vorstellbar, denn sechsmal pro Woche klingt ihr Wecker um 3.45Uhr – eine Uhrzeit, die viele Menschen bestenfalls mal an Silvester mit eigenen Augen auf dem Display sehen. Doch sie hat sich halt dran gewöhnt, die 62-Jährige aus Kallinchen.
Um 4.30Uhr kommen die Zeitungen an. Dann holt Hannelore Siecke ihr Fahrrad aus dem Schuppen. Wenn es nach Regen aussieht, packt sie die druckfrischen Blätter in Plastiktüten. „Ich mag das nicht, wenn die Zeitung nass auf dem Frühstückstisch liegt“, sagt sie. Dann geht es zuerst die Hauptstraße runter, in die Töpchiner Straße, die Burgstraße, die Straße zur Försterei, schließlich die andere Hälfte der Hauptstraße entlang, in die Seestraße und die Nebenwege. Etwa 70 Mal steigt Hannelore Siecke ab und wirft die MAZ ein, manchmal auch mit MazMail geschickte Post. Das macht sie mit der Präzision eines Uhrwerks. Nicht wenige Kallinchener stellen morgens ihre Uhr nach Hannelore Siecke. „Wenn ich mal krank werde, kommen alle zu spät zur Arbeit“, scherzt die Zustellerin. Das muss niemand fürchten: Nur einmal in zwölf Jahren fiel sie aus, und natürlich stand eine Vertretung bereit. Urlaub braucht Hannelore Siecke auch nicht, jedenfalls nicht fern der Heimat. „Kallinchen ist so schön, wir haben Seen, Wald und Hügel, warum sollte ich da weg?“ fragt sie, und ihr Blick verrät, dass das nicht ironisch zu verstehen ist.
Wenn es ausnahmsweise doch mal nicht ganz auf die Minute läuft, sind die Umstände schuld: Bei Eisglätte kommt der Fahrer oft später, und einmal entleerte der Dorn einer Akazie das Vorderrad ihres Drahtesels. Da ging Hannelore Siecke eben zu Fuß, ein Bekannter nahm sich derweil des platten Reifens an. Soviel Engagement wissen die Leser in Kallinchen zu würdigen: Nicht nur, dass sie ihre Zustellerin bei der MAZ lobten, bei nasskaltem Wetter bietet auch mal jemand einen Kaffee und im Sommer ein Glas Mineralwasser an.
Wo bei diesem Arbeitseifer eigentlich der Spaß bleibt? „Den habe ich“, sagt Hannelore Siecke – weil sie gern unterwegs ist, gern Menschen trifft und gern in der Natur ist. Nur einen Luxus gönnt sie sich ab und an: Wenn „In aller Freundschaft“ über die Mattscheibe flimmert, bleibt sie bis 22 Uhr statt bis 20.15Uhr auf. Dann ist sie morgens zwar müde, aber sie steht keine Sekunde später auf. Langschläfer hin oder her.

Erschienen am 19.11.2008

Mehr Integration, weniger Medienkonsum

Mittwoch, 12. November 2008

Jugendkriminalität: Experten, Helfer und Betroffene suchten nach Antworten

Wie lässt es sich verhindern, dass in Frankreich die Vorstädte brennen und in der Münchner U-Bahn Jugendliche einen Mann fast zu Tode prügeln? Die Stiftung Genshagen lud deutsche und französische Experten zur Debatte ins Schloss.

GENSHAGEN| Die Idee zur Debatte ist schon drei Jahre alt: Als in Frankreich Ende 2005 die Banlieues brannten, reifte in der Stiftung Genshagen der Gedanke heran, ein Austausch über Jugendgewalt könnte für Franzosen wie Deutsche gewinnbringend sein. Angezündet wurden die Vorstädte damals von wütenden Jugendlichen – meist mit Migrationshintergrund -, die ihren Gefühlen von Chancenlosigkeit und Ausgrenzung mit Streichholz und Baseballschläger Ausdruck verliehen. Der Plan der Stiftung, die sich der deutsch-französischen Zusammenarbeit in Europa verschrieben hat, erwies sich nahezu als prophetisch. Nicht zuletzt wegen der Münchner U-Bahn-Schläger und weil Jugendkriminalität in Hessen zum Wahlkampfthema wurde, erreichte die Debatte auch Deutschland. Die Ausrichtung der Tagung in Genshagen indes scheiterte zunächst an Förderhürden, wie Noémie Kaufman, Projektleiterin der Stiftung, bedauerte. Doch das Warten lohnte: Am Wochenende trafen sich 75 Wissenschaftler, Sozialarbeiter, Polizisten, Staatsanwälte, Lehrer und Integrationsbeauftragte, um sich über den Umgang mit Jugendkriminalität auszutauschen. Das Publikumsinteresse war groß, auch hochkarätige Referenten sagten gern zu. Darunter Jean-Yves Camus, Frankreichs bekanntester Experte für Rechtsextremismus und Christian Pfeiffer, ehemaliger niedersächsischer Innenminister und heute Professor und Direktor eines kriminologischen Forschungsinstituts.
Große Namen sichern breite Aufmerksamkeit, bergen aber auch Gefahren, wie sich am Freitagabend zeigte. Christian Pfeiffer, der sich etwas verspätete, platzte in eine bereits laufende, aber recht unemotional plätschernde Debatte: Man war sich in vielem einig. Der streitbare Pfeiffer hingegen riss sofort die Aufmerksamkeit an sich. Er sagte zwar nichts, was er nicht auch sonst bereitwillig in Kameras und Journalistenblöcke diktiert, aber er sagte es mit einer Schärfe und Gewissheit, als gäbe es keine offenen Fragen mehr: dass Migrantenkinder, speziell türkische, deutlich häufiger zu Gewalt neigen; dass sie meist weniger gebildet, aber nicht dümmer sind, sondern nachweislich nur nicht gefördert und integriert wurden; dass Misshandlung und übermäßiger Medienkosum bei Kindern kriminelle Karrieren deutlich befördern; dass Computerspiele von großem Übel und die Hauptschule wie die Pest zu meiden sei; dass in Niedersachsen alles besser und in Berlin alles ganz besonders schlimm sei. Doch er wusste auch Rat: Nicht auf die Politik hoffen, den Medienkonsum reduzieren, bürgerschaftliches Engagement wagen, Integration fördern, dann klappt’s auch mit den Gewalttätern. Ein Integrationsbeauftragter im Publikum wagte den Einwand, dass ihm diese Sicht zu einseitig und „verkrampft optimistisch“ erscheine und wurde von Pfeiffer harsch abgekanzelt. Der ebenfalls anwesende Direktor der Berliner Rütli-Schule – mittlerweile eine Vorzeigeeinrichtung – sah zwischendurch aus, als wolle er platzen, bemeisterte sich aber und betonte am Ende nur sarkastisch, es sei doch schade, dass der Herr Pfeiffer so dringend zum Flugzeug musste und nicht zur Diskussion bleiben konnte. Schwerer wog, dass der französische Soziologe Marwan Mohammed und Safter Cinar vom Türkischen Bund Berlin-Brandenburg kaum zu Wort kamen. Sie saßen zwar auch auf dem Podium, ihre leiseren und differenzierteren Beiträge wurden aber durch die schiere Präsenz Pfeiffers fast erdrückt.
Es standen noch weitere Debatten auf dem Programm: über wirksame Mittel gegen Gewalt an der Schule; über die Frage, ob Prävention oder Strafe die geeignetere Antwort auf Jugendkriminalität sind und wie man rechtsextremen Jugendlichen wirkungsvoll begegnet. Alles Fragen, zu denen auch Professor Pfeiffer sicher eine wortreiche Antwort gehabt hätte. Aber der war ja schon weg.

Erschienen am 12.11.2008

Wadenkrampf und Freudentränen

Freitag, 17. Oktober 2008

Wettbewerb: Bademode im Bierdunst: Auf dem Diedersdorfer Oktoberfest wurde wieder eine Miss gesucht

Sie konnten sich direkt fürs Landesfinale der „Miss Germany“ qualifizieren, die elf Teilnehmerinnen im Vorausscheid.

DIEDERSDORF| Der Wadenkrampf sollte sich am Ende lohnen. Doch vor die Schärpe haben die Götter den Schmerz gesetzt: Nicole Reimer lächelte eisern durch, aber über ihren 10-Zentimeter-Stiletto-Absätzen krampften die Wadenmuskeln erkennbar. Doch was soll man tun, wenn man nur 1,60 Meter groß ist, aber trotzdem Miss Germany werden möchte?
Sie hatte auch noch die längste Stehzeit, die 21-jährige Berlinerin, denn ihr war die Startnummer 1 zugelost worden. Im cremefarbenen Abendkleid musste sie am Mittwochabend als erste auf den weiß-blau karierten Laufsteg im Diedersdorfer Oktoberfestzelt, zehn weitere Miss-Anwärterinnen folgten. Das Zelt war nur gut halb voll, aber die Stimmung – auch dank genügend Maßkrügen – von Beginn an gut. Zweimal auf und ab, unter den prüfenden Blicken der Jury, dann galt es, ein einminütiges Kurzinterview zu überstehen, das von Moderatorin Carmen Franke mit einer Vorstellung eingeleitet wurde. So erfuhren die staunenden Gäste, dass Nicole eine Violine spielende Reisekauffrau sei, die gern nach Griechenland reist und ihre Maße 84-58-84 betrügen. Nuria, deren Name nach eigenem Bekunden „so was wie Sonnenaufgang auf arabisch oder jüdisch oder so“ bedeutet, turnt gern am Trapez und hat im Übrigen 82-52-89, war zu erfahren. Die 17-jährige Jennifer, 84-62-92, kann vier Sprachen, will Stewardess werden und hatte das Preisschild unter den Schuhen kleben lassen. Denise, 25, beeindruckte das Publikum mit einem bedrohlich ausladenden Dekolleté und dem Hinweis, Cocktails seien ihr größtes Hobby. Schließlich kam Juliane, 86-68-99, Polizistin und Exsoldatin – „weil ich für mein Leben gerne schieße“ –, die als besonderes Talent die Fähigkeit zum Telefonieren beim Autofahren nannte, zur Freude des bierseligen Publikums, als Hobbys Reiten und ihre zwei Katzen (Zuruf: „Geil! Drei Muschis zuhause!“) aufzählte. Sie durften noch zwei-, dreimal paradieren, dann wurde der Ruf der Menge („Ausziehen! Ausziehen!“) erhört, und die elf möglichen Missen verschwanden, um sich in Bademode zu werfen.
Im grün-blauen Tankini kehrten sie einige Saalrunden später zurück, und das Spiel wiederholte sich. Das Publikum goutierte das entweder enthemmt-gröhlend mit „Mach-Dich-nackig“-Rufen oder fachlich-abschätzig mit ausgefeilten Potenzialanalysen: „Ganz annehmbar“, urteilte ein Herr im Anzug, „kommerziell kaum verwertbar“, entgegnete ein anderer, und ein dritter diagnostizierte kühl hier und da „Hautstrukturprobleme an den Oberschenkeln“. In der Tat zeigte sich, dass es nur ein Vorausscheid war: Von zu großen Schritten bis Trampeln, von Speckröllchen bis zu viel Push-Up, von unnatürlichem Dauerlächeln bis dem gefürchteten „Oh-Gott-sind-diese-Absätze-hoch“-Gang waren alle Anfängerfehler mehr oder minder häufig vertreten. Carmen Franke aber moderierte über solche Spitzfindigkeiten elegant hinweg, und den meisten Gästen waren diese Nickligkeiten ohnehin längst egal. Nachdem alle Sponsoren zum wiederholten Male aufgezählt waren und die Jury ihre Punktelisten abgegeben hatte, riss der DJ mit „Heidi“, „Biene Maja“ und dem „Holzmichl“ das Publikum von den Bänken, und eine Stunde später standen die Siegerinnen fest: Nicole Reimer wurde für ihre verhärtete Wadenmuskulatur mit dem ersten Platz, Schärpe und Krone, einem Ring, Champagner und zahllosen anderen Preisen entschädigt, die anwesenden Eltern wollten vor Stolz schier platzen, Carolin Ludwig (84-62-92) wurde Vize-Miss Schloss Diedersdorf, Platz drei ging an Merit Büttner. Damit hatten sich drei Berlinerinnen durchgesetzt. Die Siegerin darf nun zum Landesausscheid und könnte sich dort für das Bundesfinale qualifizieren.

Erschienen am 17.10.2008

Bilaterale Entspannung

Mittwoch, 8. Oktober 2008

Post: Ein Zusammentreffen natürlicher Feinde: Briefträger übten den Umgang mit Hunden

Das Verhältnis von Hunden und Postboten ist vielerorts zerrüttet. Man trägt sich gegenseitig Bisse und Revierverletzungen nach. Ein Seminar in Mahlow sollte Abhilfe schaffen

MAHLOW| Warum beißen Hunde bevorzugt Briefträger? An dieser Frage haben sich schon Generationen von Erkenntnistheoretikern erfolglos die Hirnzellen wund gemartert. Es existiert eine Hypothese, die besagt, wenn Stubenhunde, deren Alltags-Temperament der Rubrik „Sofarolle“ zuzuordnen ist, plötzlich gegen jede Gewohnheit nach dem Postillion schnappen, sei eine genetisch bedingte Abneigung gegen Uniformen im Spiel. Andere Kynologen wiederum vermuten, das überkommene Gerücht, der Briefträger nutze die Abwesenheit des Ehegatten, um Hausfrauen nicht nur mit schönen Päckchen zu beglücken, habe unter den Fiffis dieser Welt die Runde gemacht, und sie verteidigten Muttis Ehre an Vatis Statt.
Von solchen epistemologischen Feinheiten mussten sich die 25 Mitarbeiter des Zustellstückpunkts Mahlow gestern früh nicht irre machen lassen. Ihr Interesse war ein ganz handfestes – sie wollten weniger gebissen werden. Nicht, dass das noch an der Tagesordnung wäre: Nur 31 Mal schnappten Vierbeiner in Brandenburg 2007 nach dem Briefträger, ein deutlicher Rückgang zum Jahr davor, als sich noch 63 Mal die Zähne des Haushundes ins Fleisch eines Postboten gruben. „Hunde und Postboten verstehen sich immer besser“, titelte daher die Pressestelle der Post ganz verwegen, und Tiertrainer Jörg Ulbricht wusste auch anzugeben, warum: Weil der Briefträger aus Hundesicht langsam lernt, sich anständig zu benehmen.
Was das heißt, erklärte er den 25 aufmerksam zuhörenden Zustellern an diesem Morgen. Kardinalfehler Nummer eins sei noch immer der Brief- oder Paketwechsel über dem Hund, erinnerte Ulbricht, der in Freital bei Dresden eine Hundeschule betreibt und der für Post in Sachsen und Süd-Brandenburg Seminare gibt. Von fremden Füßen umstellt, fühle sich der Hund eingeengt, und alles, was über seinem Kopf geschehe, mache ihn zusätzlich nervös, so der Trainer. Bei aggressiven Tieren empfahl er Ruhe, auch wenn’s schwerfalle: Keine hektischen Bewegungen, kein Weglaufen. „Wenn sie trotzdem gebissen werden, war’s ohnehin nicht zu verhindern. Aber wenn sie fuchteln oder weglaufen, provozieren sie womöglich einen Biss, den sie sonst nicht bekommen hätten“, erklärte er. „Na toll“, kommentierte eine Zustellerin, „was für eine Auswahl.“ Wer Patentrezepte erwartet hatte, musste zwangsläufig enttäuscht sein. Doch die Tipps und Strategien des Hundetrainers können immerhin das Risiko senken. Wie das Briefing vor einem Geheimdiensteinsatz nahm sich Ulbrichts Gefahrenanalyse aus, zu deren Durchführung er ein typisches Grundstück an die Wand warf und besonders gefährliche Punkte, Aktionsradien, Vermeidungsstrategien und Fluchtweganalysen durchsprach.
Im Praxisteil auf dem Parkplatz des Zustellstützpunkts schärfte Ulbricht den Blick der Teilnehmer für typisches Hundeverhalten anhand eines Schäferhundes und eines Terriers: Die Postboten lernten, Hundeverhalten richtig zu deuten, Angst zu erkennen, Schwanzwedeln nicht misszuverstehen und Drohgesten einzuschätzen. Das beste Mittel, gestand der Trainer, sei immer noch, über Leckerli eine Beziehung zu schwierigen Tieren aufzubauen. Das ist bei der Post aber verboten.
Gut möglich also, dass letztlich doch ein Philosoph das Rätsel der besonderen Vorliebe von Hunden für Briefträger lösen muss, bevor die Post titeln kann: „Hunde und Postboten verstehen sich grundsätzlich blendend.“

Info-Box: Kleine Hundekunde
Um so biss-sicher zu werden wie ein Postbote, empfiehlt es sich, einige Grundregeln zu befolgen:
Hunde fühlen sich vom Eindringen in ihr Revier bedroht, von schnellen Bewegungen oder raschem Entfernen, das als Flucht gedeutet werden kann.
Je höher ein Hund in der Familienrangordnung ist, desto angriffslustiger ist er – er glaubt ja, das Rudel schützen zu müssen.
Angst zu zeigen ist wie eine Einladung zum Angriff, Schreien oder Weglaufen sind daher keine besonders gute Idee.
Auch Drohgebärden, Blickkontakt, Störungen beim Fressen, Weglaufen oder das Entwenden ihres Spielzeugs mögen aggressive Hunde gar nicht.
Der beste Rat ist grundsätzlich, stehenzubleiben und keine Angst zu zeigen, wenn ein Hund auf einen Menschen zukommt. Oft will er ihn einfach nur erschnuppern. Wenn schon Rückzug, dann langsam.

Erschienen am 08.10.2008

Provokanter Brückenbauer

Mittwoch, 13. August 2008

Gedenken: Bob Bahra erinnert an die Toten der Hinterlandmauer/Vor der Ostalgie hat er längst kapituliert

Mauertote sind für Bob Bahra nicht nur die an der Grenze Erschossenen – auch still Gestorbene zählt er zu den Opfern

POTSDAM Die Idee, Ostalgie-Kurse für all jene anzubieten, die der DDR keine Träne nachweinen, gefällt ihm. Da könnten die Teilnehmer ostalgisches Argumentieren lernen: „Wenn sie etwa die Titelseiten der DDR-Zeitungen vom Tag des Mauerbaus in den Händen halten und beim Lesen erschüttert denken: ,Um Gottes Willen, was für Lügen, was für eine Sprache, was für ein Betrug!’, kann der ostalgisch Geschulte antworten: ,Ja, aber schau, die Zeitung kostete nur 15 Pfennig!’“
Bob Bahra provoziert gern, vor allem, wenn er resigniert ist. Die Resignation liegt hier auch räumlich nahe: Bahra steht am Potsdamer Ufer des Griebnitzsees, wo das von ihm gegründete „Forum zur kritischen Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte im Land Brandenburg“ im November ein Holzkreuz am letzten verbliebenen Mauerabschnitt aufstellte und mit einer kleinen Tafel an die Toten erinnert. Der Grafiker Bahra, der in der DDR wegen Regimekritik zweimal im Gefängnis saß, informiert die Presse über eine weitere Veranstaltung: Von 17 bis 20Uhr werden an diesem 13. August Schauspieler, Pfarrer und Autoren Texte verlesen – Grußworte, Erinnerungen, Tagebucheinträge, Protokolle – um an die 17 Menschen zu erinnern, die auf diesem Abschnitt der Hinterlandmauer zwischen Wannsee und Sacrow gestorben sind.
Bahra, 66, mit Rauschebart und immer in Bewegung, geht keinem Streit aus dem Weg, doch er streitet auf eine eigene, versöhnliche Art. Während er am Mauerrest darüber spricht, dass man ehemaligen Stasi-IM die Hand geben müsse – „Wer, wenn nicht wir?“ – mischt sich eine Radlerin ein, die das Gespräch mit anhörte. Unter den IM seien so schlimme Menschen gewesen, dass sie diese Haltung nicht verstehen könne, sagt sie. Doch Bahra lässt sich nicht beirren. „Das ist doch Quatsch“, entgegnet er sanft. Überzeugen kann er die Frau nicht, aber zum Gedenken an die Mauertoten verspricht sie zu kommen.
Mauertote sind für den Michendorfer nicht nur die an der Grenze Erschossenen. Er rechnet auch jene Toten hinzu, die sich wegen des Eingesperrtseins in der DDR das Leben nahmen, dazu Menschen, die in Folge der Grenzkontrollen an einem Herzinfarkt starben, ja sogar den 14-Jährigen, der 1990 beim Pickern an den Mauerresten von einem Segment erschlagen wurde.
Die scheinbar einfachen Wahrheiten über den Umgang mit der DDR sind Bahra suspekt. Für die Aufregung etwa, wenn wieder eine Studie herausfindet, dass ostdeutsche Schüler ein verklärtes Bild von der DDR haben, hat er Verständnis. „Man kann doch nicht sagen, die Leute würden heute verdrängen“, sagt er, „sie haben damals verdrängt!“ Die DDR sei eine einzige Verdrängung gewesen. „Wir haben alle nicht hingeguckt und die Schnauze gehalten. Selbst im Mai 1989 haben noch 95 Prozent freiwillig Honecker gewählt – dabei wäre niemand bestraft worden, der nicht zur Wahl ging.“
Vor der Ostalgie hat er längst kapituliert. Nur manchmal macht er sich noch den Spaß und sprengt ostalgische Runden, in dem er so lange mittut und übertreibt, bis den Ostalgikern ihre Verklärung offensichtlich wird – oder werden müsste. Opfer sind für Bahra aber beide Bevölkerungsgruppen: diejenigen, die noch immer im Schatten der Mauer leben, die Linkspartei als Mauerpartei bezeichnen und keinen Ex-SED-Mann je grüßen würden ebenso wie jene Ostalgiker, deren DDR sich offenbar in Trabi, Club-Cola und kostenloser Kitabetreuung erschöpfte. Der Schatten der Mauer, sagt er, liegt noch immer über dem Land.
Deshalb, und um der Toten zu gedenken, kämpft Bahra um das Mahnmal am Griebnitzsee-Ufer, auch wenn es wohl nie unter Denkmalschutz gestellt werden wird und die Stadt Potsdam es am liebsten weg hätte, wie er sagt. Eine Bank direkt gegenüber fehlt seit einigen Tagen. Bahra hat das Grünflächenamt im Verdacht. Nur die aufgeworfene Erde kündet davon, dass dort ein städtisch gepflegter Platz zum Verweilen war. Dass Ministerpräsident Matthias Platzeck in seinem Grußwort den Erhalt des Mauersegments fordert, ist da willkommene Schützenhilfe, denn das Denkmal, das streng genommen sogar illegal dort steht, sei ein „notwendiger Pfahl im Fleisch“, der beweise, dass jedes Idyll bedroht ist. Dass viele Touristen und Spaziergänger anhalten, begeistert Bahra. Motiviert, es zu pflegen, wurde Bahra durch einen Schreck: Den Schreck, festzustellen, dass 15 der 17 Toten an diesem Mauerabschnitt aus seiner Generation waren.
Was die entidealisierende Wirkung der improvisierten Gedenkstätte angeht, macht sich Bahra dennoch wenig Hoffnungen: „Wenn ich jungen Leuten erzähle, was hier war, und ihr Opa erzählt, er hatte ein schönes Leben in der DDR, kann ich nicht sagen, das hatte er nicht. Das dürfen wir nicht, aber wir dürfen Ostalgie vermiesen durch Stätten wie diese. Den Rest muss man aussitzen.“
In solchen Momenten ist die Provokation nicht weit, und sie kommt zuverlässig, wenn er nachschiebt, dass „in der normalen brandenburgischen Familie 1932 das letzte Mal frei gedacht wurde“ – sei es nun durch Hirnwäsche, Resignation, freiwilligen Verzicht oder Abgeschnittensein von Information. In diesem Augenblick ist Bahra von dem Brückenbauer, der er gern wäre und oft ist, meilenweit entfernt. Es geht auch versöhnlicher: Dass er heute mit der Regierung telefonieren und mit ihr in vielen Punkten einig sein kann, ist für ihn immer noch ein „unglaubliches Gefühl“. Auch 20 Jahre nach dem Fall jener Mauer, an die sein Verein heute erinnert.

Info-Box: Mauer-Opfer
Von 1303 Toten an der Mauer geht das private Berliner Mauermuseum nach neuesten Schätzungen aus.
Das sind 58 Tote mehr als noch vor einem Jahr geschätzt.
Die Zahl fällt höher aus, weil aus der Zeit vor dem Mauerbau mehr Opfer an der innerdeutschen Grenze ermittelt wurden, sagt Museumsleiterin Alexandra Hildebrandt.
Allein für die Berliner Mauer geht das Museum nun von 289 Opfern aus, von denen 67 vor dem Mauerbau am 13. August 1961 starben.
Alle Angaben sind allerdings noch Schätzungen.
Über die Gesamtzahl wird seit Jahren gestritten, weil es zu keiner Einigung kommt, welche Erfassungs- und Bewertungskriterien gelten.
Das Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung etwa ermittelt für die Berliner Mauer lediglich 136 Tote.

Erschienen am 13.08.2008

Schippern für Flugsäuger

Dienstag, 15. Juli 2008

Spandaus Artenschützer und das Bezirksamt sorgen mit Kreativität für satte Fledermäuse

Spandaus Fledermäuse lebten bislang von Eintrittsgeldern. Als die weggefielen, drohte Hunger. Doch findige Menschen hatten eine Idee: Jetzt leben die Fledermäuse von geführten Bootstouren.

Als der Katamaran zuviel Schlagseite bekommt, begann Gerhard Hanke, öffentlich an seinem Diäterfolg zu zweifeln. Er sitzt von seinem Mitarbeiter begleitet auf der linken Seite, ihm gegenüber sitzen sechs Journalisten. Genau genommen hängen sie in der Luft, denn der Katamaran kippt bedrohlich in Richtung Bezirksstadtrat – auch wenn schnell versichert wird, das Boot sei unsinkbar. Wären die Fotografen nicht an Bord, sie könnten vom Kai aus ein sehr unvorteilhaftes Bild schießen. Doch Spandaus Bildungs- und Kulturstadtrat ist schlagfertig: Es handle sich um sein politisches Gewicht, das für die Einseitigkeit an Bord sorge. Einseitigkeit? Die Pressevertreter dürfen sich was denken.
So munter geht es zu an diesem sonnigen Junimorgen, ein gut gelaunter Stadtrat trifft gut gelaunte Journalisten, die sich eine Stunde lang durch die Sonne schippern lassen, an Bord eines Katamarans, mit dem ab sofort die Kanäle rund um die Spandauer Zitadelle erkundet werden dürfen. Gekauft hat das 12 000 Euro teure Gefährt das Bezirksamt, nutzen dürfen es die Herren vom Berliner Artenschutz-Team (BAT), das in der Zitadelle eine Fledermausstation betreibt.
Es handelt sich quasi um eine Kompensationsleistung: Früher, als die Zitadelle noch ohne Eintritt besucht werden konnte, namen die Artenschützer einen kleinen Obolus am Eingang des Fledermaushauses, damit sie davon Futter für die Tiere kaufen können. Seit kurzem kostet die Zitadelle jedoch Eintritt, und innerhalb der Festung will niemand ein zweites Mal bezahlen. Irgendwo musste aber Geld herkommen, wenn die geflügelten Säuger nicht hungern sollen. Also setzten sich BAT und Bezirksamt an einen Tisch, und so wurde die Idee des Katamarans geboren.
Für geführte Touren entlang der Gräben der mächtigen Zitadelle dürfen die Artenschutz-Freunde nämlich eine geringe Gebühr nehmen, und auch wenn das nicht die Kosten deckt oder die Höhe der Eintrittsgelder erreicht, ist zumindest der Futterstrom für die Fledermäuse vorerst wieder gesichert. 3,50 Euro kostet die zirka 45-minütige Rundfahrt für Erwachsene, ermäßigt werden zwei Euro fällig. Der Katamaran fährt in der Saison (März bis Oktober) samstags immer um 12.30, 13.30, 14.30 und 15.30 Uhr; sonntags dann um 11.30, 12.30, 13.30, 15 und 16 Uhr, in der Woche nach Anmeldung. Jörg Harder vom Berliner Artenschutz-Team kündigte zudem Nachtfahrten an, um die Fledermäuse über dem Wasser beim Jagen zu beobachten. Dazu werden sie mit einem speziellen Rotlicht angestrahlt, dass die Tiere nicht irritiert, aber den Mitfahrern Gelegenheit gibt, die Mini-Vampire bei der Futterbeschaffung zu beobachten. Vermutlich sechs Euro wird die Teilnahme kosten, der 13 Personen fassende Katamaran kann aber auch für Feiern oder Betriebsausflüge gebucht werden. Das alles soll dem Verein zugute kommen, auch Werbung an den Außenseiten ist geplant.
Ein fast unhörbarer Elektromotor treibt das zwei Meter breite Gefährt an, das wie ein umzäuntes Floß auf dem Wasser liegt. Damit kommt der Kapitän sogar durch die engen Stellen im Festungsgraben, ein Tiefgang von nur 40 Zentimeter sorgt dafür, dass das Boot jede Untiefe im zwischen drei Meter und 50 Zentimeter tiefen Graben sicher übergleitet.
Durch geschicktes Umsetzen ist Gerhard Haukes politisches Gewicht mittlerweile neutralisiert, und Jörg Harder steuert sicher durch den Graben auf das Ravelin „Schweinekopf“ zu. Dieser Vorposten der Festung vor dem Graben soll zum Naturlehrpfad umgebaut werden, Bezirksstadtrat Hanke erwägt auch, hier ein offenes Klassenzimmer für die Spandauer Schulen einzurichten. Am Festungstor ist kein Durchlass: Es ist dauerhaft heruntergelassen, und zöge man es hoch, so versperrte weiterhin ein Abwasserrohr den Weg. Der Kamataran muss kehrt machen und fährt die Zitadelle, deren beeindruckende Dimensionen vom Wasser aus erst richtig deutlich werden, von der anderen Seite an.
Jörg Harder jedenfalls ist sichtlich zufrieden: Die Festungsgrabenrundfahrt zum Fledermauslehrpfad ist ganz in seinem Sinne, vereint sie doch touristische Nutzung mit Naturerlebnis und einem tieferen Verständnis für seine zeitweise 10

000 geflügelten Schützlinge, während die Schippergebühr dem Futterhaushalt zugute kommt. Bei soviel Freude nimmt er es auch gern in Kauf, dass beim Unterzeichnen der Nutzungserklärung zwischen dem Bootsinhaber Bezirksamt und dem Nutzer BAT der Kugelschreiber mehrfach vom Tisch rollt: Das politische Gewicht Gerhard Hankes hat trotzdem Nutzen gebracht..

Erschienen am 15.07.2008


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