Archiv für die Kategorie „Feature“

Kienberg entsteht neu

Samstag, 2. Juni 2007

Kleiner Ort weicht dem Flughafen / Baustart für die Umsiedlung

ROTBERG Der siebenjährige Timm steht mitten im Roggenfeld und grübelt angestrengt. „Wenn wir hier wohnen, wohnt die Celina dann dahinten?“ fragt er und streckt seine Hand über den frisch gemähten Weg.

Es ist eben alles noch etwas schwer vorstellbar an diesem Freitagmorgen im Getreide. Doch schon in vier Wochen, wenn der Roggen geerntet ist, rollen hier die Bagger an und erschließen das künftige Wohngebiet Rotberg-Süd. Bereits im Herbst können die ersten zu bauen beginnen, und mit dem Frühling ziehen die schnellsten Kienberger in ihre neuen Häuser ein.

Es ist kein gewöhnlicher erster Spatenstich, den Schönefelds Bürgermeister Udo Haase da absolviert, sondern ein europaweit einmaliges Projekt. Weil die kleine Gemeinde Waltersdorf-Kienberg mit dem Ausbau des Flughafens im kombinierten Lärm von Flugzeugen, Bahn und Autobahn zu versinken drohte, tauschten die meisten Einwohner ihre Grundstücke gegen eine exakt gleich große Parzelle in Rotberg-Süd. Dort entsteht Kienberg nahezu identisch neu: Die sechs Ortsstraßen heißen genau wie in Kienberg, sie sind gleich lang und im gleichen Winkel angeordnet. Und jeder bekommt sein „altes“ Grundstück zurück. Damit die rund 30 Familien, die zum Spatenstich gekommen sind, schon eine erste Vorstellung davon haben, wurden die Straßen kurzerhand aus dem Roggen herausgemäht. Da auch provisorische Schilder angebracht sind, findet Timm sein neues, altes Grundstück schnell.

Weil jedoch ein Grundstück noch kein Haus ist, mussten die Kienberger zusätzlich entschädigt werden. Dank des Engagements der Interessengemeinschaft (IG) um Andrea Jacker und Veronika Protz gelang es, die Lärmverursacher Bahn AG, Flughafen und Autobahnamt dazu zu bewegen, alle Entschädigungsgelder in einen Topf zu tun, aus dem sich die Umsiedler nun bedienen können.

Udo Haase sagte, er sei froh und stolz über das einzigartige Projekt, und lobte die IG sowie Ortsbürgermeisterin Renate Pillat und Stellvertreter Olaf Damm für ihr unermüdliches Engagement. Und Peter Kolb, Geschäftsführer der für die Erschließung zuständigen Projekta EG, lobt die „wunderschöne Lage“ des neuen Wohngebiets. Er versprach eine schnelle Erschließung. Auf dass Timm ab Frühjahr nicht lange knobeln muss, wenn er zu Celina möchte.

Erschienen am 02.06.2007

Wo Umziehen noch lohnt

Dienstag, 15. Mai 2007

Ein Traum von einer Party: Eine Stadt feiert ihren 33 333. Einwohner

KÖNIGS WUSTERHAUSEN Es war die größte Party seines jungen Lebens: Zum 6. Geburtstag zählte Arne Jach nicht weniger als 21 Gäste. Mit ihnen lieferte er sich zunächst wilde Verfolgungsjagden in schneidigen Sportwagen, wechselte danach aufs Grün zu einer gepflegten Partie Golf und bat hernach zum Italiener, um ausgiebig zu Schlemmen. Es versteht sich, dass der Transfer zur Party und zurück in die Kita sowie Getränke nach Herzenslust inbegriffen waren. Und das Schönste daran: Arne ließ sich die kostspielige Party, die die Mädels nachhaltig beeindruckte, von der Stadt bezahlen. Damit nicht genug, musste auch Bürgermeister Stefan Ludwig nebst Pressesprecher antreten, ihm seine Aufwartung zu machen. Huldvoll nahm der Jubilar das Geschenk aus den Händen des Stadtvaters entgegen, dem er daraufhin großzügig gestattete, im Flitzer Platz zu nehmen, um sich fürs Erinnerungsfoto ablichten zu lassen.

Ganz schön unverschämt, könnte man meinen, doch der Fall liegt anders: Als Arne am 2. Februar mit seinen Eltern aus Zeuthen nach Königs Wusterhausen zog, vermerkte der Computer im Einwohnermeldeamt, er sei der 33 333. Einwohner der Stadt, und diese Schnapszahl wollte der Bürgermeister nicht ungefeiert verstreichen lassen. Angesichts des zarten Alters des zu Ehrenden schied Schnaps allerdings aus, und daher entschied Stefan Ludwig auf „Party im Kiebitzpark“, die wegen des Wetters auf den Arnes gestrigen 6. Geburtstag verschoben wurde.

Er habe vor Aufregung kaum geschlafen, erzählte Mutter Diana, die dem Trubel aus 22 Kindern und zwei Erzieherinnen am Rande beiwohnte. Selten habe sie ihren ruhigen Sohn so aufgekratzt erlebt. Den Rest des Tages ließ Familie Jach daher etwas ruhiger angehen: Zum Geburtstagsbowling am Nachmittag kam nur noch ein Freund mit. Wie Arne die Tränen der vielen Mädchen getrocknet hat, deren Star er seit gestern ist, wurde nicht überliefert.

Erschienen am 15.05.2007

Ein halbes Leben unter Rentnern

Donnerstag, 19. April 2007

Erich Pfeil ist der dienstälteste Bewohner im Wildauer Seniorenheim

WILDAU Wer ins Seniorenheim geht, hat oft nur noch eine sehr überschaubare Lebenszeit vor sich. Nicht unbedingt eine schlechte, aber eine überschaubare. Als Erich Pfeil am 18. April 1972 ins „Feierabendheim Dr. Georg Benjamin“ geht, ist der gleichaltrige Erich Honnecker gerade Erster Sekretär des Zentralkomitees der SED geworden. In München finden im selben Jahr Olympische Spiele statt, Willy Brandt übersteht in Bonn ein Misstrauensvotum, und in den USA erschüttert der Watergate-Skandal das Weiße Haus. Heute, 35 Jahre später, ist das alles längst Geschichte. Erich Pfeil aber wohnt immer noch in jenem Haus, das mittlerweile Seniorenheim Wildau heißt. Genau genommen ist es seit dem Umbau 1997 auch nicht mehr das gleiche Haus. Erich Pfeil bekam ein neues, größeres, schöneres Zimmer. Er ist mittlerweile 85 Jahre alt, die Gesundheit machte es nötig, dass er schon mit knapp 50 Jahren ins Feierabendheim ging, auch, weil Verwandte fehlten, die sich um ihn kümmern konnten.

Viele Schwestern, die ihn heute betreuen, haben noch gar nicht gelebt, als Pfeil ins Heim kam. Unzählige Mitarbeiter hat er kommen und gehen sehen, nur zwei oder drei waren schon dort tätig, als Erich Pfeil mit seinem abgewetzten Koffer einzog. Von den damaligen Bewohnern lebt kein einziger mehr. Mit großem Bahnhof wurde das Jubiläum gestern begangen. Für Erich Pfeil gab es ein Glas Sekt, viele gute Wünsche und freie Wahl beim Mittagessen. „Er hat sich Gänsekeule gewünscht“, sagt Heimleiterassistentin Petra Furmanek. Die Mitbewohner werden es ihm gönnen. Pfeil sei sehr beliebt, habe früher, soweit er konnte, viel mit angepackt und sei gern mit anderen an der frischen Luft, ist zu erfahren.

Große Wünsche habe er nicht mehr, verrät Erich Pfeil, der manchmal etwas Mühe hat, dem Gespräch zu folgen. Aber ans Schwarze Meer, da würde er gern mal hin. Sein Urlaubsschein liege in der Direktion schon lange vor, erklärt er mit einem Lächeln. Schwer zu sagen, ob das als Scherz gedacht ist.

Erschienen am 19.04.2007

Anderthalb Millionen Eier pro Tag

Samstag, 7. April 2007

Hennen unter Dampf: Ostern bedeutet für Ostdeutschlands größten Eierproduzenten Arbeit rund um die Uhr

BESTENSEE Die Osterzeit ist purer Stress in der Eierproduktion. Für den Menschen. Die klassische Legehenne bleibt in der Karwoche hingegen ganz entspannt – aus gutem Grund. Sie kann sich mit biologischen Gegebenheiten herausreden. Mehr als ein Ei in 24 Stunden ist bauartbedingt nicht drin. Nachdem sie ihr Tagwerk vertragsgemäß ins Nest gelegt hat, gibt sich die Henne entspannt den kleinen Freuden des Alltags hin: Scharren, picken, gackern – und vielleicht mal einen sehnsüchtig-verstohlenen Blick auf einen der wenigen Hähne, die es hier gibt, werfen. Der Rest ist ländliche Idylle in der Frühlingssonne.

Von diesem geruhsamen Leben können die Landkost-Mitarbeiter dieser Tage nur träumen. Sie schuften im Drei-Schichten-System, um dem Eierbedarf der Verbraucher gerecht zu werden. In der Packabteilung stehen die Förderbänder bis zum Osterfest nicht mehr still. Etwa 30 bis 40 Prozent mehr Eier liefert Landkost in der kurzen Zeitspanne aus. Ginge es nach den Märkten, könnten es noch mehr sein. „Es tut fast körperlich weh, wenn man jahrelangen Kunden sagen muss: Tut uns leid, mehr haben wir nicht“, sagt Marketing-Chefin Marianne Wieland. Doch irgendwann sind selbst bei Landkost, dem größten Eierproduzenten in den neuen Bundesländern, die Kapazitäten erschöpft, alle Förderbänder ausgelastet, alle 145 Mitarbeiter nebst etwa 50 Saisonkräften im Einsatz. Und selbst die Zulieferer haben auch das letzte Ei noch abgeliefert. Die Hennen, wie gesagt, weigern sich, mehr zu legen.

An den Bedingungen in Bestensee kann es nicht liegen. Der Betrieb hat eine der höchsten Quoten an Freiland- und Bodenhaltungstieren. Nur die Hälfte der etwa eine Million Hennen muss mit einem immerhin relativ großzügigen Käfig vorlieb nehmen, die anderen scharren emsig auf dem Boden, ein Teil von ihnen sogar unter märkischer Sonne. Auch die Bodenhaltungs-Hennen haben dank großer Fensterfront keinen Mangel an natürlichem Licht zu beklagen. Von Produktionsstress ganz zu schweigen.

„Wir können ja nicht drängelnd hinter jeder Henne stehen“, sagt Geschäftsführer Heinz Pilz. Es würde auch nichts nützen: Ein Huhn, ein Tag, ein Ei, das ist das unumstößliche Gesetz der Eierproduktion. Also kauft Landkost zu, wo es nur geht. Die Verträge dafür werden bereits im Januar ausgehandelt, denn kurz vor Ostern kommen alle Eierhändler mit ihren Wünschen.

Wider Erwarten ist das Ostergeschäft nicht die wichtigste Zeit für Eierproduzenten. Aber die stressigste. „Das Ostergeschäft geht nur etwa sieben Tage lang. Längeren Vorlauf mögen die Kunden nicht. Und danach ist sofort wieder alles beim Alten“, sagt Heinz Pilz. Wesentlich mehr Umsatz macht Landkost vor Weihnachten, wenn alle fürs Plätzchen- und Stollenbacken Eier kaufen. Das zieht sich über vier Wochen hin, so dass auch die Mehrbelastung besser verteilt wird.

Nur vor Ostern hingegen verlangen die Kunden die knallbunten Eier. Jahr für Jahr steigen die Verkaufszahlen. Die in allen Regenbogenfarben leuchtenden Eier sind ein Verkaufsschlager. Die Zahl der Familien, die noch selbst färben, geht hingegen zurück. „Das Gemansche und die schmutzigen Töpfe tun sich immer weniger Familien an“, so Pilz, der es zu Hause ebenso hält. Bei Landkost lässt man Färben, in einem auf die Eierverarbeitung spezialisierten Betrieb. Für das Selbstkochen und -färben ist der Produzent in Bestensee nicht ausgestattet, eine Investition in diesen Bereich lohnt aus Sicht der Firma wegen der Saisonabhängigkeit im Moment auch nicht. Die ehemals weiße Ware kommt zum Vertrieb wieder zu Landkost zurück. 30 bis 40 Prozent der verkauften Eier in den Wochen vor Ostern sind mittlerweile gefärbt. Dass das Selbstfärben dennoch nicht völlig aus der Mode gekommen ist, zeigt die vorösterliche Nachfrage nach weißen Eiern: Nur in dieser Zeit bekommt Landkost von den Märkten 0,4 bis 0,6 Cent mehr pro Stück für die Hellen, auf denen die Farben besonders leuchten.

Wenn Heinz Pilz trotz des brummenden Geschäfts nur zufrieden, aber nicht restlos glücklich ist, so liegt das daran, dass die Deutschen zunehmend Ei-muffliger werden. Innerhalb weniger Jahre ist der Pro-Kopf-Verbrauch von 225 auf 205 Eier gefallen und liegt damit deutlich unter dem EU-Durchschnitt von 224. Daran dürfte der Trend zum Fertiggericht nicht unschuldig sein. Zwar ist das Kochen wieder in Mode gekommen, aber es wird hauptsächlich an den Wochenenden zelebriert. Unter der Woche dominieren Fertiggerichte, Fastfood und Kantine den Speiseplan. Auch die Nachrichten über Salmonellen und den vermeintlich hohen Cholesterinwert des Naturprodukts Ei hat Pilz im Verdacht, nicht eben umsatzfördernd zu wirken. Schließlich steht auch die Käfighaltung in keinem guten Ruf. Das Ei hat ein Imageproblem.

Meist zu unrecht, glaubt der Landkost-Geschäftsführer. Zumal sich die Argumente gegenseitig ausschließen: Käfighaltung mag aus Tierschutzgründen problematisch sein, der hygienische Zustand und die Salmonellen-Gefahr sind bei den Eiern aus dem Käfig hingegen wesentlich unbedenklicher. Doch es kommt noch dicker: Aus den neuen EU-Mitgliedsländern im Osten droht Gefahr für den Eiermarkt, weil dort günstiger produziert werden kann. Schließlich müssen die strengen EU-Richtlinien zur Hühnerhaltung in Polen und Tschechien vielerorts erst in einigen Jahren eingehalten werden. Der Ausweg für Landkost heißt Alternativhaltung: Freiland- und Bioeier werden verstärkt nachgefragt. Weil Landkost gleich nach der Wende große Freilaufareale und Ställe für Bodenhaltung eingeführt hat, ist das Unternehmen gut aufgestellt. Den boomenden Biomarkt bedienen die Bestenseer durch Zukäufe. Für einen großen Betrieb wie Landkost, der täglich mehr als eine Million Eier produziert, kommt eine eigene, aufwändige Biohaltung derzeit nicht in Frage. Doch Heinz Pilz ist beständig auf der Suche nach Höfen, die Mitglied in Bio-Verbänden sind und zwischen 15000 und 25000 Hühner halten. Sogar per Anzeige hat er schon nach Partnern gesucht, denn dank der großen Nachfrage kann Landkost im Biobereich derzeit gutes Geld verdienen. Zum Vergleich: Ein Bodenhaltungs-Ei muss fast zum Produktionspreis verkauft werden.

Die Quote an Bio-Eiern beträgt in Deutschland derzeit fünf Prozent, bei Landkost sind es sogar acht. Vor Ostern schwoll die Nachfrage derart an, dass die Firma nicht mehr alle bedienen konnte. Die Nachfrage steigt täglich, ein Zeichen dafür, dass auch im Osten Deutschlands ein Sinneswandel stattgefunden hat. Kurz nach der Wende, als sich Landkost auf den neuen Markt einstellte, ging die gesamte Alternativproduktion in den Westen, bis hinunter in die Schweiz. Dem Märker war die Herkunft seines Eis damals vollkommen schnurz.

Erschienen am 07.04.2007

Keine Anleitung zur Interpretation der DDR

Donnerstag, 29. März 2007

Ein Buch zur Debatte: Wie weit darf Politik das kollektive Gedächtnis normieren?

Den Begriff „Geschichtspolitik“ hört Martin Sabrow nicht gern. Er verliert dann für einen Augenblick sein entspannt-distanziertes Lächeln. Der Historiker war Vorsitzender einer Kommission, die im Auftrag der Bundesregierung zwischen 2005 und 2006 Vorschläge zur „Neuordnung der DDR-Erinnerungslandschaft“ erarbeitete. An der Arbeit und am Bericht entzündete sich eine aufgeregte Debatte, die in der medialen Wahrnehmung zeitweise zum „neuen Historikerstreit“ aufgebauscht wurde. Widerspruch entspann sich vor allem an der Forderung, dem DDR-Alltag im kollektiven Gedächtnis breiteren Raum zu gewähren. Damit öffne die Kommission einer „weichspülenden Diktaturverharmlosung“ Tür und Tor, so der Vorwurf. Ein Buch, das die Debatte dokumentiert, ist dieser Tage erschienen.
Es ist heiß und hoffnungslos überfüllt im Seminarraum des Zentrums für Zeithistorische Forschung (ZZF) am Neuen Markt in Potsdam, als ZZF-Direktor Sabrow das Werk vorstellt. Und es wird schnell deutlich, dass sich die Kampflinien seit der Präsentation des Berichts im Sommer 2006, die knapp an einem Eklat vorbeischrammte, nicht wesentlich verändert haben. „Eine Expertenkommission, die über die Zukunft der Erinnerung bestimmt, das hatten wir doch schon“, ruft ein älterer Herr erregt, „ich hatte gehofft, diese leidvolle Erfahrung nicht erneut machen zu müssen.“ Martin Sabrow räumt ein, die DDR sei eine „Konsensdiktatur“ gewesen, verwahrt sich aber gegen den Kern des Vorwurfs. Erinnerungen entstünden unabhängig von Kommissionen, sagt er, und weil das zugleich den Zweck seines Gremiums in Frage stellt, fügt er hinzu: „Wir wollten nur die Richtung beeinflussen.“ So recht überzeugen mag das die wenigsten. Der Journalist und Historiker Peter Bender betont, das immer Geschichtspolitik herauskomme, wenn Politik sich mit Geschichte befasse. Das müsse nicht per se schlecht sein. Die Kommission habe weder die Diktatur noch den Widerstand relativiert und der Versuchung widerstanden, ein Schwarz-Weiß-Bild der DDR zu zeichnen. Bender bemängelt allerdings das völlige Fehlen der Außenpolitik im Bericht. „Das ist ein großes Manko. Vieles, was in der DDR geschah, wurde nicht im Politbüro, sondern in Moskau und Washington entschieden.“ Zudem sei die DDR nicht immer gleich gewesen: „Es ist ein verdammter Unterschied, ob wir über Ulbrichts Rasereien der 50er oder die autoritäre Langeweile der 80er Jahre reden.“
Als auch noch Reinhard Rürup, ehemals Direktor der Berliner „Topografie des Terrors“, anfügt, zeitgeschichtliche Forschung sei immer Geschichtspolitik, und wer das verleugne, sitze einer Illusion auf, springt Rainer Eckert auf. Der Leipziger Historiker war Kommissionsmitglied. Die gesamte Debatte gründe vom ersten Tag an auf einem für Deutschland symptomatischen Missverständnis, schimpft er: „Wir wollten keine Geschichte der DDR schreiben, keine Interpretationsanleitung.“ Vielmehr lautete der Auftrag, Empfehlungen an die Politik zu formulieren, wie Gedenkstätten und Gedenkpolitik zu organisieren seien. „Wir haben nie politisch argumentiert“, fügt er hinzu. „Als ob das einen großen Unterschied machte“, murmelt jemand im Plenum.
Indirekt hat Martin Sabrow die Schwierigkeiten da längst eingeräumt. Auf die Frage, ob in und mit Hilfe seiner Kommission Stellvertreter-Kriege der wichtigsten politischen Richtungen in Deutschland ausgefochten wurden, verstummt er kurz: „Nach langem Nachdenken muss ich sagen: ja!“

Erschienen am 29.03.2007 (Kultur)

Noch eine Kapitulation

Freitag, 23. März 2007

Das Frankfurter Scheidungs-Urteil und die Leitkultur-Debatte

Von HENRY LOHMAR
und JAN BOSSCHAART

POTSDAM Henryk M. Broder ergeht sich in Sarkasmus. „Was sich noch nicht herumgesprochen hat: Ich habe diese Frau bezahlt“, sagt der Berliner Publizist über die Familienrichterin aus Frankfurt/Main, die Gewalt in einer muslimischen Ehe gerechtfertigt hat. In der Tat: Der am Mittwoch bekannt gewordene Fall passt wunderbar zu Broders These, wonach der Westen in der Auseinandersetzung mit dem Islamismus sein Heil zunehmend im Appeasement, in der vorauseilenden Selbstaufgabe, sucht. „Hurra, wir kapitulieren“, hat „Spiegel“-Autor Broder sein jüngstes Buch genannt, in dem er sich mit diesem Phänomen beschäftigt.
Die Frankfurter Richterin hatte die vorzeitige Scheidung einer Muslimin von ihrem Mann, der sie geschlagen haben soll, abgelehnt und festgelegt, dass es „keine unzumutbare Härte“ sei, das Trennungsjahr abzuwarten. Sie berief sich dabei auf eine Sure des Korans und argumentierte, im marokkanischen Kulturkreis des Paares sei das Züchtigungsrecht des Mannes gegenüber seiner Frau nicht unüblich (MAZ berichtete). Die Frau, eine Deutsche marokkanischer Abstammung, wollte eine schnelle Scheidung mit der Begründung, ihr Mann habe sie geschlagen. Sie lehnte die Richterin schließlich als befangen ab, ein anderer Richter gab diesem Antrag am Mittwoch statt.
Der Fall hat bundesweit für große Aufregung gesorgt und eine neue Debatte über westliche Leitkultur und die Wehrhaftigkeit des demokratischen Rechtsstaats ausgelöst. Eine vernünftige Erklärung aber, wie eine deutsche Richterin auf die Idee kommen kann, den Koran quasi über das Grundgesetz zu stellen, hat keiner. Ein Einzelfall? Keinesfalls, sagt Henryk M. Broder. Es komme immer wieder vor, „dass Leuten ihr kultureller Hintergrund als mildernder Umstand angerechnet wird.“ Bekannteste Beispiele aus jüngster Zeit sind wohl der Streit um die dänischen Mohammed-Karikaturen und, in dessen Gefolge, die Absetzung der Berliner „Idomeneo“-Inszenierung. In der Interpretation des Mozart-Stücks war ein abgeschlagener Mohammed-Kopf auf der Bühne gezeigt worden.
Aber auch aus der Justiz gibt es Beispiele. So hatte ein Urteil des Potsdamer Landgerichts gegen das ZDF im vergangenen Mai für Unverständnis gesorgt. Die Richter untersagten dem Sender, einen früheren Imam der Berliner Mevlana-Moschee „Hassprediger“ zu nennen. Das ZDF-Magazin „Frontal21“ hatte über den Imam berichtet und ihn im Frühjahr 2005 auf der Internetseite ZDF-Online als „Hassprediger“ bezeichnet, der unter anderem Deutsche als „stinkende Ungläubige“ tituliert habe, die in die Hölle kämen. In der Urteilsbegründung hieß es, der Begriff „Hassprediger“ sei keine reine Meinungsäußerung, sondern enthalte den Vorwurf einer strafbaren Aussage.
Die Begründung der Frankfurter Familienrichterin wurde gestern einhellig zurückgewiesen. Der Zentralrat der Muslime bezeichnete das Verhalten als „skandalös und auch rassistisch“, die Frauenrechtlerin Seyran Ates warf der Richterin gar Menschenverachtung vor. „Gewalt darf mit nichts gerechtfertigt werden. Die Richterin sollte schleunigst suspendiert werden“, forderte der Bundesvorsitzende der türkischen Vereinigung, Kenan Kolat. Frauenrechtlerin Alice Schwarzer beklagte auf Spiegel Online „eine Unterwanderung des deutschen Rechtssystems durch islamische Kräfte im Namen eines anderen Kulturkreises“.
Interessant ist nun, was aus der Frankfurter Familienrichterin wird. Disziplinarische Konsequenzen seien abwegig, sagte der Bundesgeschäftsführer des Deutschen Richterbundes, Jürgen Lünemann. Er bezeichnete den Fall aber als „klare Fehlentscheidung.“ Autor Broder hat eine andere Idee: „Ich wünsche dieser Frau, dass sie in einen saudi-arabischen Harem verheiratet wird. Dann hätte sie die Praxis zu ihrer Theorie.“

Erschienen am 23.03.2007

Dringend gesucht: 30 Hektar für ein Anti-G8-Camp

Mittwoch, 28. Februar 2007

Protestgruppen klagen über mangelnde Kooperation rund um Heiligendamm: Im Ernstfall sehen sie das Land in der Pflicht

SCHWERIN Etwa 20 000 Mitstreiter erwarten die vornehmlich linken Gruppen und Aktionsbündnisse, die beim G8-Gipfel in Heiligendamm im Juni gegen die Globalisierung protestieren wollen. Eine Fläche, um für sie ein Camp einzurichten, wird hingegen noch händeringend gesucht. Die teilnehmenden Organisationen – vor allem Attac und die Jugendgruppen der Grünen, des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) und des Bundes für Umwelt und Naturschutz in Deutschland (Bund) – haben für diese Aufgabe eine Camp AG ins Leben gerufen.
„Um alle unterzubekommen, bräuchten wir etwa 30 Hektar freie Fläche“, sagt Adolf Riekenberg von der Camp AG. Viele Bürgermeister rund um Heiligendamm begegnen dem Ansinnen mit Skepsis und würden sich auf eine Hinhalte-Taktik verlegen, so Riekenberg. „Die wissen offenbar nicht, was auf sie zukommt und was so ein Protest eigentlich ist“, vermutet er. Momentan führt die Camp AG nach eigenen Angaben Gespräche mit Bürgermeistern im Amtsbereich Bad Doberan. Einzelne Gesprächspartner hätten bereits zugesagt, sich im Gemeinderat für das Anliegen der Camp AG stark zu machen. Dennoch vermisst Riekenberg den „Willen, sich wirklich intensiv der Lösung des Platzproblems zu widmen“. Sollte es nicht gelingen, die geeigneten Flächen zu bekommen, sieht die Camp AG das Land in der Pflicht, für die Unterbringung der Protestler zu sorgen.
Ein Ansinnen, dass das Innenministerium in Schwerin energisch zurückweist. „Wir sind nicht verpflichtet, irgend etwas zur Verfügung zu stellen“, so Sprecherin Marion Schlender gegenüber der MAZ. Das gelte ebenso für die Kommunen vor Ort. Das Innenministerium würde es aber begrüßen, wenn Camp AG und Gemeinden zu einer einvernehmlichen Lösung kämen. „Es ist sicher im Interesse aller, wenn es zu einer Einigung kommt. Die Gemeinden haben dann Kontrolle darüber, wo gecampt wird, und die Polizei kann leichter für Ordnung sorgen“, so die Sprecherin. „Die Leute kommen nämlich ohnehin, auch wenn es kein offizielles Camp gibt.“ In einer Pressemitteilung hatte die Camp AG bereits gedroht, sie werde individuelle Lösungen finden, falls die Gemeinden rund um Heiligendamm nicht genügend Platz zur Verfügung stellten. Das soll im Klartext wohl heißen: Dann campen wir, wo es uns passt, und ihr habt den Schaden. Konkret wollte Adolf Riekenberg diese Drohung aber nicht bestätigen.
Auch die Pressestelle der extra für den G8-Gipfel eingerichteten Sonderpolizeieinheit „Kavala“ verweigerte mit Hinweis auf die laufenden Verhandlungen die Auskunft. Derweil ärgert sich die Camp AG über die jüngst bekannt gewordenen Pläne, um den umstrittenen Zaun um Heiligendamm noch eine zehn Kilometer breite Sicherheitszone zu ziehen, in der nicht protestiert oder gecampt werden darf. „Wir werden diese Zone nicht akzeptieren“, erklären die Gipfelgegner, freuen sich aber über die hohe Zahl der eingesetzten Polizisten: „Das zeigt, dass die internationale Protestbewegung ernst genommen wird.“

Erschienen am 28.02.2007

Klarheit und Reinheit

Mittwoch, 21. Februar 2007

2005 konvertierten mehr als 4000 Deutsche zum Islam – darunter auch einige Märker

POTSDAM Für Christian Hoffmann war es wie ein Blitz. Auf seinem Balkon sitzend, durchflutete ihn plötzlich die Erkenntnis: „Himmel und Erde sind Allahs Schöpfung, und der Islam ist die letzte von ihm offenbarte Religion.“ Glaubt man seinen Worten, so war er damals glücklich und nach nichts auf der Suche. Später hat der ehemalige CDU-Pressesprecher ein Buch über seinen Wechsel zum Islam und all die Folgen geschrieben, das 1995 für einigen Wirbel sorgte: „Zwischen allen Stühlen“ heißt es.
Nicht immer gibt es diesen einen Moment, wo sich eine neue Religion mit Blitz und Donner oder einem inneren Erdbeben zeigt. Bei Abdalhafidh Ullmann war es ein langsamer, konflikthafter Prozess. Am Anfang stand Unzufriedenheit. „Etwas war aus der Balance geraten“, sagt der 25-Jährige und rückt seinen leuchtendroten Fez zurecht. Was genau, das weiß er nicht. Oder er mag es nicht sagen. Es ist schwer, hinter Abdalhafidhs Stirn zu blicken. Nach jeder Frage nippt er am Espresso, schaut eine Weile zum Fenster und setzt ein wissendes Lächeln auf, bevor er antwortet. „Ich weiß nicht, was gefehlt hat, aber der Islam hat es mir gegeben. Ich bin jetzt ein glücklicher Mensch.“
Nach der Schule ging Abdalhafidh für vier Jahre zur Bundeswehr. Damals hieß er noch Alexander. Die klare Struktur, die Ordnung dort haben ihm gefallen. Und der Respekt, den Jüngere vor Älteren haben. „Draußen“, sagt er, und meint die Welt außerhalb der Kaserne, „draußen habe ich das vermisst“. „Draußen“, das war auch das Volkswirtschaftsstudium, auf das sich Abdalhafidh, der bereits eine Lehre zum Bankkaufmann in der Tasche hatte, schließlich einließ. Nicht für lange. Das Gebot des Geldvermehrens, „diesen Zynismus“, das habe er nicht ertragen. Die nächste Station, eine Ausbildung zum Heilpraktiker, füllte ihn mehr aus. Die Unzufriedenheit mit seinem Leben aber blieb. Alexander war ein Suchender, Abdalhafidh ist ein Angekommener. Sagt Abdalhafidh.
Klarheit, Reinheit, Respekt: Viele Deutsche, die zum Islam konvertieren, fühlen sich davon angezogen. In den letzten Jahren wurden es stetig mehr, rund 4000 ermittelte das Islam-Archiv in Soest für 2005, und die Tendenz scheint weiter steigend. „Die Konvertitenszene hat sich total verändert“, sagt Salim Abdullah, der Leiter des Islam-Archivs. Waren es früher Ehepartner, vorrangig Frauen, die bei der Heirat mit einem Muslim dessen Religion annahmen, so sind es heute vor allem junge Akademiker, die sich intensiv mit dem Koran beschäftigen und dann aus freien Stücken den Weg zu Allah suchen. „Die wenigsten sind älter als 35“, sagt Abdullah.
Über die Gründe lässt sich nur spekulieren. „Das ist eine ganz individuelle Entscheidung“, meint der Leiter des Islam-Archivs. Auffällig ist, dass die Zahl der deutschen Konvertiten seit etwa 2001 rapide ansteigt – von etwa 300 im Jahr vor 2001 auf mehr als 4000 heute. Es scheint, als habe der 11. September eine Lawine ausgelöst.
Eine Erklärung lautet: Durch die politische Entwicklung ist der Islam ins Zentrum des öffentlichen Interesses gerückt, und viele Menschen begannen, sich damit näher zu befassen. Einige fanden darin eine neue Heimat. Ahmad Gross, der Amir der Potsdamer Muslime, sagt, für manchen sei der Wechsel zum Islam auch eine politische Aussage: gegen Globalisierung, gegen die Macht des Zinses, den der Koran ausdrücklich verdammt, und gegen die amerikanische Außenpolitik. Das ist die andere Erklärung.
Auf Abdalhafidh treffen beide nicht zu. Der Islam ist für ihn ein Weg, sein Leben neu zu ordnen. Und nicht nur für ihn. „Meine Frau war depressiv. Jetzt ist sie zum zweiten Mal schwanger. Einen besseren Beweis für meinen Glauben gibt es nicht.“ Auch er schätzt am Islam die Klarheit. Mit der Dreifaltigkeit des christlichen Gottes kann er wenig anfangen. Für Moslems sind Christen Polytheisten. Außerdem stehe bei ihnen die Kirche zwischen dem Einzelnen und Gott.
„Im Islam schließt der Gläubige hingegen einen Privatvertrag mit Allah. Keine Priesterkaste entscheidet über Aufnahme oder Ablehnung“, sagt der Leiter des Islam-Archivs. Lediglich zwei muslimische Zeugen sind nötig, um die Schahada, das Bekenntnis, abzulegen. Auch einen formellen Austritt gibt es nicht. „Das muss der Gläubige mit Allah ausmachen“, so Abdullah.
Die Klarheit seines neuen Glaubens – ein Gott, ein Prophet, eine seit ihren Ursprüngen unveränderte heilige Schrift – korrespondiert für Abdalhafidh mit der Klarheit, die sein Leben seitdem gewann. Mit seiner Herkunftsfamilie habe er sich ausgesöhnt, nachdem er den Koran studiert hatte. Auf einige Freunde müsse er verzichten. „Die dachten, ich renne künftig mit dem Sprengstoffgürtel durch die Welt“, erzählt er und versucht ein Lächeln. Die Aufnahme in die muslimische Gemeinde ersetze sie ihm hundertfach.
Es ist ein enger Kreis, etwa 20 Familien, der sich in den hellen, spartanisch eingerichteten Räumen in der Potsdamer Weinbergstraße trifft. Der Sonntag gehört ganz den Familien. Man liest gemeinsam im Koran, hört Vorträge, betet und singt. Die Frauen bereiten im Obergeschoss Essen zu, die Männer sitzen in Grüppchen auf dem Boden und reden. Draußen tobt ein munterer Haufen Kinder. Aufgaben und Hierarchien sind klar verteilt, und Abdalhafidh findet hier den Respekt, den er „draußen“ so schmerzlich vermisst: Die Kinder sind höflich, und sie übernehmen selbstverständlich Pflichten: decken den Tisch, räumen auf, machen sauber. Reinheit ist auch eine Besonderheit des Islam. Viele Moslems fühlen sich schon von der christlichen Lehre der Erbsünde „irgendwie beschmutzt“, wie Abdalhafidh es nennt. Vor jedem Gebet ist eine Waschung Pflicht, um in den Zustand ritueller Reinheit zu gelangen. Wer Moslem wird, bekommt alle zuvor begangenen Sünden vergeben. Alkohol und Schweinefleisch lehnen Muslime als verunreinigend ab.
Abdalhafidh hat einige Religionen „angetestet“, wie er sagt, bevor er zum Islam fand. Das haben sie hier fast alle. Die meisten der Potsdamer Muslime sind in der DDR großgeworden und waren sehr skeptisch. „Wie in einem Warenhaus haben sie alles genau geprüft und abgewogen“, sagt Amir Gross. Für viele Ostdeutsche ist es die erste Religion, was die Skepsis nicht eben minderte. Die Geschichte von Christian Hoffmann und dem Blitz kann Abdalhafidh daher nicht nachvollziehen. „Der Glaube wächst in einem – dafür bleibt er dann auch.“

Erschienen am 21.02.2007


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