Archiv für die Kategorie „Kommentar“

Rechnung geht nicht auf

Donnerstag, 6. Dezember 2007

Jan Bosschaart über den DAK-Gesundheitsreport für Potsdam

Im Vergleich mit anderen Kreisen in der Mark ist der Krankenstand in Potsdam nicht umwerfend. Grämen sollten sich die Landeshauptstädter darüber aber nicht, wie ein genauer Blick in die Statistik beweist: Den Spitzenplatz – sprich: den niedrigsten Krankenstand – behaupten nämlich die Uckermärker, jener Landkreis, der auch chronisch die rote Laterne in Sachen Arbeitslosigkeit erhält. Einen Zusammenhang muss niemand konstruieren, er ist offenkundig: Die Sorge um den Arbeitsplatz hält keineswegs gesund, sie sorgt nur dafür, dass sich der kranke Arbeitnehmer, von Fieber wie von Angst gleichermaßen geschüttelt, trotz Grippe oder Bandscheibenvorfalls noch zum Dienst schleppt. Die Rechnung „Angst vor Arbeitslosigkeit sorgt für geringe Fehlzeiten“, die manch Unternehmer gern anstellt, geht trotzdem nicht auf, auch das wird aus dem Gesundheitsreport ersichtlich: Wird die Krankheit erst chronisch, steigen die Fehltage exponenziell. Die zahlt ironischerweise dann aber meist die Krankenkasse, also die Solidargemeinschaft. Der Unternehmer hingegen besetzt die Stelle flugs neu, mit einer gesunden Kraft. Wie es besser ist, zeigt das prosperierende Baden-Württemberg: Dort sind Krankenstand und Arbeitslosigkeit rekordverdächtig niedrig.

Erschienen am 06.12.2007

Absurd

Freitag, 16. November 2007

Die Vorstellung ist außerordentlich absurd: Für jeden Knirps, der sich bei der „Spirellibande“ eine warme Mahlzeit holt, müsste die Awo Meldung machen, damit seine Eltern weniger aus den Hartz-IV-Töpfen bekommen – schließlich erhält die Familie schon Geld für die Verpflegung des Kindes. Wo es keine „Spirellibande“ gibt, müssen sozial schwache Familien das Mittagsmahl schließlich vom Regelsatz bezahlen. Auch wenn das prinzipiell gerecht wäre, dürfte allein der finanzielle Aufwand, diese Meldungen entgegenzunehmen, in Geldwerte umzurechnen und vom Regelsatz abzuziehen, den erhofften Spareffekt bei weitem übersteigen. Dabei würde auch übersehen, dass Kinder, die sonst mittags ohne warme Mahlzeit blieben, nicht hungern, weil der Regelsatz zu niedrig ist, sondern weil die Eltern für das Geld oft eine andere Verwendung haben. So bliebe es bei allem guten Willen in Sachen Verteilungsgerechtigkeit mal wieder am schwächsten Glied der Kette, das Problem auszubaden: den Kindern. Dass die Paga daher soziales Gewissen vor Rechtslage gehen lässt, verdient Lob. Eine bundeseinheitliche Klärung dieser Frage drängt dennoch. Jede Küche, die bislang aus Unsicherheit kalt bleibt, ist eine zuviel.

Erschienen am 16.11.2007

Unverkrampft aufgelegt

Dienstag, 23. Oktober 2007

Zugegeben, es ist befremdend zu lesen, es gehe um „Körper, Liebe, Doktorspiele vom ersten bis dritten Lebensjahr“. Selbst in unserer aufgeklärten Gesellschaft, der reflexartig Tabulosigkeit vorgeworfen wird. Doch die mediale Sexualisierung, all die Hintern und Brüste, die über den Bildschirm flimmern, das Internet bevölkern und auf tausenden Zeitschriftenseiten prangen, sie ersetzen keine frühe „Sexualerziehung“, wenn es denn unbedingt dieses gruselige Wort sein muss. Wir tragen gern das Etikett „aufgeklärt“ mit uns herum, und spätestens seit Sigmund Freud weiß auch die Wissenschaft, was man doch längst geahnt hatte: dass Kinder eine Sexualität besitzen. Doch es scheint, als ließe man es gern dabei bewenden. Und so wird weiterhin eher verschämt und verdruckst Doktor gespielt, weil Kinder die Tabus spüren, die ihre Eltern schon lange nicht mehr hinterfragen oder gar zu pflegen leugnen. Eine entsprechende Kampagne, erst recht, wenn sie so frisch und unverkrampft aufgelegt wird wie in „Nase, Bauch und Po“, kann für die gern zitierte „psychosexuelle Entwicklung“ nur förderlich sein. Die Praxen der Psychologen sind voll von Menschen, die derlei nie genossen haben.

Erschienen am 23.10.2007

Wie Münzenwerfen

Freitag, 14. September 2007

Das klingt zunächst nach einer guten Nachricht: In Potsdam geblitzt zu werden, ist wie ein Münzwurf – 50 Prozent Trefferwahrscheinlichkeit. Gerade angesichts der drohenden Allgegenwart der überteuerten „Passbildautomaten“, die selbst mancher Staatsanwalt schon als „moderne Wegelagerei“ schalt, ist das eine tröstliche Vorstellung. Doch das hämische Grinsen, das dem geplagten Fahrzeuglenker darüber aufs Gesicht huscht, verschwindet schnell zugunsten eines schalen Nachgeschmacks: Geschwindigkeitskontrollen sind – wenn nicht extensiv und an reinen Abzockpositionen eingesetzt – ein wichtiges Mittel, die Allgemeinheit vor notorischen Bleifuß-Hasardeuren zu schützen. Diese Abschreckungswirkung auf als „Flitzer“ verharmloste Raser dürfte unter der „guten“ Nachricht nachhaltig leiden. Und auch der relativ reuige Normalbürger, der schamhaft das Bußgeld bezahlt, um die Sache aus der Welt zu schaffen, ist letztlich der Dumme, wogegen chronische Prozesshanseln (statistisch) in jedem zweiten Fall triumphieren. Das beweist erneut, dass Autofahrer längst zu Melkkühen degradiert wurden. Die Polizei sollte ihre Mehr-Einnahmen in Kurse zu investieren: Wo stellt man Blitzer wirklich sinnvoll auf?

Erschienen am 14.09.2007

Den Tiefpunkt unterboten

Montag, 27. August 2007

„Es geht vor allem um die Tiere“, das werden alle Beteiligten am Tierheim-Debakel nicht müde, zu betonen. Doch daran darf man getrost ernsthaft zweifeln. Vielmehr scheint es, als wären die ohnehin Leidenden in diesem ewig währenden, unwürdigen Gerangel nie der Zweck, sondern stets nur Mittel der Auseinandersetzung. Ob es um persönliche Animositäten zwischen Tierschutzverein und Stadtverwaltung geht, um Profilierungstendenzen oder vorgezogenen Wahlkampf, ist letztlich egal: Fest steht, dass es für die Landeshauptstadt mittlerweile mehr als nur peinlich ist, dass sie ihr Tierheimproblem nicht gelöst bekommt. Nach unzähligen Anläufen, nach all dem Streit um alternative Standorte, markierte der Vorstoß vom Mai, den Betrieb eines neuen Heimes nicht dem engagierten Tierschutzverein zu überlassen, sondern ihn europaweit auszuschreiben, den vorläufigen Tiefpunkt des Gezerres. Der ist nun mit dem hinter den Kulissen offenbar lange vorbereiteten und ohne Information der Fraktionen zur Unzeit kommunizierten Vorschlag, einen privaten Anbieter zu wählen, erneut unterboten worden. Ganz gleich, warum: Es geht nicht um Hund und Katze, es geht zu wie zwischen beiden Arten.

Erschienen am 27.08.2007

Das wahre Leben

Freitag, 20. Juli 2007

Es ist verdienstvoll, dass das Medienlabor Potsdam und die „Politikfabrik“ junge Menschen die EU „abchecken“ lassen. Und es ist nötig. Denn obwohl die Abiturienten, Azubis und Studenten heute weltgewandt und weltoffen sind und mit 20 Jahren oft mehr von der Welt gesehen haben, als ihre Eltern mit 40 oder 50, rauscht die politische und gesellschaftliche Wirklichkeit im Zielland häufig im Zug oder Bus an ihnen vorbei. Clubs sind halt keine Vorstädte, Strände keine Provinz und Bars keine Bergdörfer. Genau in letztere aber werden die EU-Checker gesandt, und die Pflicht zur Berichterstattung schürt das Interesse am Leben und Leiden dort. Selbst der gern und oft zu Recht vorgebrachte Einwand, es bewerbe sich ohnehin nur, wer schon politisches Interesse habe, zieht diesmal nicht: Durch die Auswahl per Abstimmung im Internet und dadurch, dass man die Reise online verfolgen und mitbestimmen kann, kommt ein wesentlich größerer Kreis von Jugendlichen mit dem wahren Leben vor Ort in Berührung. Nicht zuletzt ist es sympathische Werbung für Deutschland: Dass unsere Jugend so sehr an seinem Alltag interessiert ist, dürfte den rumänischen Bauern und den bulgarischen Vorstädter recht positiv überraschen.

Erschienen am 20.07.2007

Ein Schmuckstück

Freitag, 13. Juli 2007

Er wünsche sich die Überschrift „Villa Quandt macht Riesenfortschritte“, erklärte Demir Arslantepe nach einer Baustellenführung mit schelmischem Grinsen dem Pressetross. Der Baudenkmalpfleger der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten fügte hinzu, er wolle das nicht für sich, sondern für seinen geschundenen Presse-Chef, der unter der massiven Kritik an der neuen Parkordnung schwer leide. Nun sind Journalisten ein renitenter Haufen, der sich höchst ungern etwas vorschreiben lässt, und so musste dem Denkmalpfleger schon aus Prinzip seine Wunschzeile verwehrt werden. Davon abgesehen aber ist selbst bei kritischem Blick wenig auszusetzen am Baugeschehen in der Großen Weinmeisterstraße: Die Arbeiten liegen im Zeitplan, die künftigen Nutzer wurden, wo immer es ging, in die Planung einbezogen, und den Teilnehmern der Baustellenführung war die Begeisterung über die Wandlung der Villa von einer düsteren Ruine in ein helles, repräsentatives Schmuckstück deutlich anzusehen. Selbst die „Russensauna“ im Keller hat die Stiftung liebevoll restaurieren lassen, auch wenn sich wohl keine Nutzung dafür finden wird. Zusammengefasst heißt das wohl: Die Villa Quandt macht Riesenfortschritte.

Erschienen am 13.07.2007

Unverzichtbar

Dienstag, 10. Juli 2007

Es ist eine Plage, seine Erinnerungen an nachfolgende Generationen weiterzugeben. Nachfolgende Generationen tendieren dazu, ihre Erfahrungen und ja, auch ihre Fehler, selbst machen zu wollen. Nachfolgende Generationen fühlen sich schnell belehrt oder – und das ist angesichts heikler Themen wie des Holocaust um so schlimmer – schlichtweg gelangweilt. Das trifft besonders auf Jugendliche zu, für die das irgendwie graue Vorzeit ist, die keinen Bezug zu ihrem Alltag zu haben scheint, der sich eher um Pop, Pickel und Pubertät dreht. Es ist nicht mal eine Saat, die schnell aufgeht, denn die Erfolge zeigen sich oft erst, wenn der Weitergebende nicht mehr lebt. Und nicht jeder ist ein Talent wie Anne Franks Freundin Hannah Pick-Goslar, das mühelos größere Säle fesselt.

Es kann aber auch ein Kinderspiel sein, Erinnerungen weiterzugeben. Nichts macht mehr Spaß, als etwas zu schaffen, das einen überdauert. Im Alter wächst der Wunsch, etwas über das Materielle Hinausreichendes zu hinterlassen. Wenn es auch noch in einer Gruppe wie den „Zeitzeugen“ geschieht, kann es kaum Schöneres geben. Doch egal, ob Weitergabe Frust oder Freude ist, eines ist sie sicher: unverzichtbar.

Erschienen am 10.07.2007

Engagement als Feigenblatt

Dienstag, 12. Juni 2007

Es ist ein von der Geschichte hundertfach widerlegter Irrtum, zu glauben, mit Gewalt ließe sich etwas zum Besseren wenden. Ein Irrtum, der unausrottbar ist. Rostock hat das erneut bewiesen: Einige Hundert autonome Steinewerfer genügten, den Protest tausender friedlicher Globalisierungsskeptiker zu diskreditieren.
Daran sind die Attac, Hedonistische Linke und wer sonst noch mittat beim Gipfelsoli, durchaus mitschuldig: Wer sich nicht deutlich vom gewaltsamen Protest distanziert, wer ein waberndes „Im Prinzip nicht, aber mal sehen, wie sich die Lage entwickelt“ propagiert, darf am Ende des Tages nicht klagen, wenn er sich von der öffentlichen Meinung in den Schwarzen Block, die Abordnung aggressiver Autonomer, versetzt sieht. Selbstverständlich gibt es zwischen beiden Gruppen große Unterschiede – aber eine überzeugende Erklärung, warum der Verzicht auf Gewalt die eigene Schlagkraft schmälert, war bislang nicht zu vernehmen.
Attac hat es ja versucht. Es wurde ein Bumerang. Als sich Peter Wahl vom Attac-Koordinierungsrat im März öffentlich von Gewalt beim G8-Gipfel distanzierte, distanzierte sich der Gipfel-Soli – ein Zusammenschluss verschiedenster Globalisierungsskeptiker – sofort von Attac. Es sei eine Frechheit, dass Attac sich anmaße, für alle zu sprechen, stand in der wütenden Pressemitteilung, nur, um den „eingeschlagenen Kuschelkurs“ mit der öffentlichen Meinung fortsetzen zu können.
Dabei gehört es doch zu den ewig bestrittenen Lebenslügen von Attac, dass diese prominenteste Gruppe der Globalisierungsskeptiker auch aufgrund von Gewalt zu ihrer Prominenz kam. Die Ereignisse von Genua 2001, wo bei gewaltsamen Protesten während eines G8-Gipfels ein Demonstrant getötet und hunderte verletzt wurden, platzierten Attac plötzlich an die Spitze der internationalen Bewegung. Es ist zynisch und doch dadurch nicht weniger wahr: Dass die Gruppe in den letzten Jahren Attraktivität und Mitglieder einbüßte, hat neben vielem anderen auch damit zu tun, dass es bei Protesten weniger Randale gibt.
Schaut man den gewaltbereiten Protestierern bei ihrem Tun zu, wird schnell klar, dass das vermeintliche Engagement für Afrika, die Umwelt und eine Regulierung der Finanzmärkte nur ein Vorwand ist, ein Selbstzweck, um sich an Autoritäten abzuarbeiten, um auch im reiferen Alter noch Räuber und Gendarm spielen zu dürfen – hinter dem Feigenblatt gesellschaftlichen Engagements. Nur ein paar Transparente und Buttons mit Losungen unterscheiden den Schwarzen Block bei seinen Scharmützeln mit der Polizei von Fußball-Hooligans, die sich zur Straßenschlacht treffen. Selbst renommierte Medien laufen hier regelmäßig einem Irrtum auf, wenn sie meinen, der vermeintliche Zweck solcher Proteste adle sie oder hebe sie zumindest über die tumbe Gewalt prügelnder Fußballfans hinaus.
Grundlegende Werte – und dazu gehört eine weit reichende Gewaltfreiheit – sind entweder universell oder obsolet. Es ist absurd, einen Grundwert zu verletzen, um einen anderen durchzusetzen. Wer mit Gewalt startet, kann nicht gutes vollbringen. Das gilt für die (über-)reagierende Staatsmacht ebenso.

(unveröffentlicht)

Zum Spielball degradiert

Dienstag, 12. Juni 2007

Wozu brauchen die USA einen Raketenabwehrschild in Europa? Zum Schutz vor Angriffen aus Schurkenstaaten, sagt die US-Regierung. Doch wer soll hier eigentlich geschützt werden? Hat Europa nach diesem Schutz gerufen? Umfragen zufolge sind selbst zwei Drittel der Polen und fast drei Viertel der Tschechen gegen die Stationierung amerikanischer Abfangraketen und Radarstationen in ihrem Land. Und: Die Bedrohung bleibt – zunächst und mindestens auf zehn Jahre hinaus – abstrakt. Iran und Nordkorea sind weit davon entfernt, mit ihren Raketen bis auf mittel- oder westeuropäisches Territorium vorzudringen. Wissenschaftler zweifeln, ob das je möglich wird. Ähnliche Bedenken gelten für den US-Abwehrschild, der vor turmhohen technischen Schwierigkeiten steht.
Doch auch Putins „ernsthafte Bedrohung Russlands“ ist nur konstruiert. Zehn Abfangraketen taugen nicht für einen Angriff, und sie würden angesichts tausender russischer Atomwaffen die militärische Schlagkraft des Landes nicht nennenswert schwächen.
So entsteht der Eindruck, Bushs vorgebliche Sorge um die europäischen Verbündeten und Putins überzogene Kalter-Kriegs-Rhetorik dienen nur den beiden Supermächten: der einzig verbliebenen und der gerade mit aller Macht wieder aufstrebenden. Europa verkommt dabei zum Spielball der Interessen, und erschreckend brav, fast schon reflexartig, lässt es sich für einen Schutz instrumentalisieren, dessen es möglicherweise gar nicht bedarf. Jene Politiker, die für Europa eine gewichtigere Rolle in der Weltpolitik anstreben, können von Bush und Putin noch eine Menge lernen.

(Veröffentlicht am 12. Juni 2007)


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