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Knapp 7 Gramm

Donnerstag, 1. März 2012

Geschichte Preußenprinz verkauft prestigereichsten Diamanten aus dem Kronschatz

Um finanzielle Verpflichtungen zu erfüllen, lässt das aktuelle Oberhaupt der Hohenzollern-Familie einen Edelstein versteigern, der wie kaum ein zweiter die europäische Adelsgeschichte dokumentiert.

POTSDAM/GENF Es sind nicht einmal sieben Gramm, doch obgleich lupenrein, haben sie es in sich: Mehr als 400 Jahre europäischer Geschichte stecken im „Beau Sancy“, einem Diamanten aus dem preußischen Kronschatz, der am 15. Mai in Genf zur Auktion kommt. Friedrich I., der die Königswürde nach Preußen holte, ließ den fast 35 Karat schweren Edelstein, der schon damals berühmt und daher prestigeträchtig war, in die Königskrone einarbeiten. Sein Enkel Friedrich II. schenkte den Stein seiner Gattin, und seither trugen alle preußischen „First Ladys“ den im Doppel-Rosenschliff gehaltenen größten Edelstein des Hauses Preußen (zirka 23 mal 20 mal 11 Millimeter) bei ihrer Hochzeit und anderen hohen Anlässen. Es darf daher vermutet werden, dass Georg Friedrich Prinz von Preußen, der im August in Potsdam geheiratet hat, die Entscheidung zum Verkauf dieses wertvollen Familienerbstückes nicht leicht gefallen ist. Die Familie habe viele Renten und sonstige finanzielle Verpflichtungen zu erfüllen, die den Verkauf erforderlich machten, hieß es dazu knapp von einer Sprecherin. Zuletzt getragen wurde der Diamant nach Kenntnis des Hauses bei der Hochzeit des letzten deutschen Kaisers Wilhelm II. von dessen Gattin Auguste Viktoria. Als Wilhelm II. 1918 ins Exil floh, blieben die Kronjuwelen in Berlin. Im zweiten Weltkrieg wurden sie in eine zugemauerte Krypta in Bückeburg gebracht, wo sie britische Truppen fanden und dem Haus Preußen schließlich zurückgaben.
Auf rund 1,5 bis drei Millionen Euro Wert schätzen die Gutachter des Auktionshauses Sotheby’s den Stein, der aus den berühmten indischen Minen nahe der Stadt Golconda stammen soll, aus denen die weltweit bekanntesten Diamanten stammen, auch der „große Bruder“ des „Beau Sancy“, der „Grand Sancy“, mit rund 55 Karat (elf Gramm) deutlich schwerer.
Doch auch bevor der Stein in preußische Hände fiel, hatte er schon eine bewegte Geschichte hinter sich. Erworben vom „Lord von Sancy“ in Konstantinopel im Jahr 1500, kaufte ihn 1604 der französische König Heinrich IV. auf Drängen seiner Gattin Maria de Medici, die um so nachdrücklicher bat, als sie erfuhr, dass der große „Sancy“ an die englische Krone verkauft war. Als Heinrich IV. 1610 ermordert wurde und seien Frau vorübergehend den Thron bestieg, ließ sie den Stein in ihre Krone einarbeiten. Maria musste 1631 in die Niederlande fliehen und verkaufte den Beau Sancy an das Haus Oranien-Nassau (Niederlande) für 80 000 Gulden – damals die höchste Ausgabe im Staatshaushalt des gesamten Jahres. So ging es weiter: Durch die Hochzeit eines Nassauischen Königs mit Maria Stuart gelangte der Stein nach Schottland, später an den Thron von England und fiel schließlich wegen Kinderlosigkeit wieder an Oranien-Nassau zurück. 1702 übernahm der Preuße Friedrich I. das Vermächtnis des Hauses von Oranien und gelangte so in den Besitz des prestigereichen Diamanten, der perfekt zur soeben errungenen Königswürde passte. Dort blieb der Stein fast 300 Jahre. Georg Friedrich – auch er ist noch ein Prinz von Oranien – verkauft also nicht nur ein Prestigeobjekt der Familienhistorie, sondern auch ein Stück europäischer Geschichte.

Erschienen am 01.03.2012

Mit Links und mit der Lupe

Donnerstag, 2. Februar 2012

Armenischer Kartograph malte die erste Potsdam-Karte seit 150 Jahren

Den ohnehin schon unzähligen Stadtplänen werden jedes Jahr ein paar neue hinzugefügt – manche davon benötigen aber einen hohen Aufwand.

Ein gutes Jahr lang hat Ruben Atoyan gebraucht, um Potsdam unter der Lupe auferstehen zu lassen – hauptsächlich das heutige Potsdam, an manchen Ecken das künftige, an anderen das frühere. Mittlerweile kennt sich der Armenier in der Stadt besser aus als mancher Fremdenführer oder Architekt, denn jedes Dach, jede Gaube, jeder Straßenbaum ging einmal durch seine linke Hand. Der 58-Jährige malt dreidimensionale Karten aus der Vogelperspektive, er ist Kartograph und Künstler zugleich, und ganz nebenbei auch promovierter Naturwissenschaftler. Seine Verlegerin sagt, sein Schnuller müsse ein Bleistift gewesen sein, denn schon mit drei habe er erste Skizzen gezeichnet, mit sechs einen Mondatlas. Über 80 Karten von Atoyan sind veröffentlicht, sein jüngstes Werk ist nun eine Karte Potsdams. Fünfmal hat er die Stadt dazu besucht, ist sie in vielen, 45 Kilometer langen Gewaltmärschen mit dem Skizzenblock abgeschritten und hat schließlich noch eigene Fotos und Videos zu Hilfe genommen. Das Ergebnis ist im großen B1-Format zu bewundern – als Touristenkarte mit Straßenverzeichnis, als Wandposter und als Faltplan mit Leselupe und Geschenkumschlag, herausgebracht vom polnischen Verlag „Terra Nostra“. Während der Vorbereitungen zum 1000. Geburtstag Danzigs traf Ruben Atoyan die Verlegerin Elzbieta Kuzmiuk, die sein Talent für ihren Verlag urbar machte – eine fruchtbare Zusammenarbeit: Schon zweimal bekam Atoyan den Oscar der Kartografen, den Preis der Internationalen Gesellschaft kartographischer Verleger – für seine Panoramen von Venedig und Berlin.
In Potsdam stellte sich zunächst die Frage, ob nur die historische Innenstadt vom Brandenburger Tor bis zur Nikolaikirche oder ein größeres Areal abgebildet werden soll. Weil die Arbeit so zeitaufwändig und detailgenau ablaufen muss, beschränkt sich Ruben Atoyan für gewöhnlich auf die Stadtzentren. Doch in Potsdam hätte das bedeutet, sowohl die Schlösser und Gärten als auch die Seen auszusparen, und das brachte der Armenier nach eigenem Bekunden nicht übers Herz – obgleich es bedeutete, dass die Potsdamer Karte eines seiner größten und zeitaufwändigsten Projekte wurde. Nun sind 34 Quadratkilometer vom Neuen Palais bis zum Schloss Babelsberg abgebildet.
Als besondere Herausforderung erweist sich die Perspektive, sagt Atoyan. Es gilt, einen Winkel zu finden, der möglichst viel abbildet, ohne dass vordere Gebäude hintere verdecken. Ruben Atoyan wählte für Potsdam Winkel zwischen 30 bis 45 Grad über der Horizontlinie. Trotz moderner Werkzeuge wie Google Maps muss er dabei aus der Straßenperspektive die Vogelperspektive denken – was nicht nur künstlerische, sondern auch geometrische Meisterschaft verlangt.

Erschienen am 02.02.2012

Pathos und Superlative

Mittwoch, 26. Oktober 2011

Pläne für die Alte Fahrt haben nun ein Gesicht / Bauten werden „ein Stück Stadtgeschichte“ schreiben

Der Alte Markt soll Potsdam sowohl ein Stück Geschichte wiedergeben als auch in die Zukunft weisen. Die Bauherren sind überzeugt, dass das gelingen wird.

Es war die Stunde großer Worte. Man schreibe heute ein Stück Stadtgeschichte, betreibe ein Stück Stadtreparatur, sagte Erich Jesse, Chef des städtischen Sanierungsträgers, bei der Vorstellung der Bauvorhaben für die Alte Fahrt. Jesse ist sonst nicht eben für übertriebenes Pathos berühmt, eher für wohlplatzierte Spitzen. Die Historizität des Augenblicks riss ihn offenbar mit. Im „aufwändigsten und transparentesten Verfahren, dass es je gab“ (Jesse) seien die Bauherren für die Alte Fahrt und das Eckgrundstück an der Schwertfegerstraße/Friedrich-Ebert-Straße gefunden worden, und sie hätten „die besten Ergebnisse gezeitigt, die wir kriegen konnten“, davon sei er überzeugt. Der Superlative war damit noch kein Ende: Man habe im Auswahlgremium und bei der Vorbereitung der aufwändigen zweistufigen Ausschreibung „die besten Leute bundesweit“ gehabt, ergänzte Baudezernent Matthias Klipp, auf den das zugrunde liegende Leitbautenkonzept zurückgeht. Egal, was nun die Politik sage – die Stadtveordneten müssen die Verkäufe im Dezember noch absegnen –, etwas Besseres könne die Stadt unmöglich vorlegen. Klipp dankte den künftigen Bauherren, denn das Verfahren sei „eine Zumutung“ gewesen: „Ich bin glücklich, dass wir am Ende noch willige Bauherren haben“. Architekten und Investoren mussten nicht nur zunächst ein Interessenbekundungsverfahren und dann, bei Erfolg in dieser ersten Runde, ein ausgefeiltes Bau- und Finanzierungskonzept vorlegen, sie waren auch gezwungen, sich dem Auswahlgremium und dem Gestaltungsrat zu stellen, die jeweils noch Änderungswünsche und Anforderungen an die Gebäude hatten. Das alles kostete viel Zeit und Geld, und bis zur Vertragsunterzeichnung konnte niemand sicher sein, auch den Zuschlag zu bekommen.

Ein Großteil der Arbeit fängt nun erst an: Die Investoren müssen Bauanträge schreiben, die Stadt muss sie möglichst schnell bearbeiten und zeitgleich die archäologischen Untersuchungen im Baugrund voranbringen. Die ersten Käufer würden gern im Frühjahr mit dem Bau beginnen, die letzten spätestens Anfang 2013. 15 bis 24 Monate soll die reine Bauzeit betragen; die Baustellenlogistik neben der Großbaustelle Stadtschloss und auf dem engen Uferstreifen an der Alten Fahrt dürfte dann noch eine Herausforderung der ganz besonderen Art werden.

Größter und prunkvollster Bau wird sicher das Palais Barberini. Hotelbesitzerin Gertrud Schmack hat das Grundstück bekommen und plant dort in der historischen Kubatur – das Barberini ist der einzige echte Leitbau – ein weiteres Hotel mit 80 Suiten. Für Überraschung und viel Lob sorgte die Nachricht, dass der junge Potsdamer Bauingenieur Christopher Kühn, der sich bei „Mitteschön“ sehr für historische Rekonstruktion einsetzt, am Barberini mitbauen darf. Weil Schmack nicht, wie gewünscht, noch das Grundstück nebenan bekam, auf dem sie Wirtschaftsräume des Hotels unterbringen wollte, dürfen auf den (nicht leitbau-geschützten) Hofflügeln des Barberini nun Staffelgeschosse errichtet werden, die aber laut Christopher Kühn so weit versetzt sind, dass sie von der Straße und selbst von der Freundschaftsinsel aus kaum zu sehen sein werden. Über eine Durchwegung in der Mitte bleibt der Durchgang zur Havel für alle Besucher offen; für Hotelgäste entsteht eine Tiefgarage. Auch zwei historische Säle im Barberini sollen wiedererrichtet werden und „für öffentliche Nutzungen zugänglich“ sein.

Am längsten diskutiert und mit den meisten Änderungswünschen belegt war der Komplex am Standort des ehemaligen Palasthotels in der Humboldtstraße 1 und 2. Der Baukonzern Kondor Wessels will dort ein kombiniertes Ärzte- und Bürohaus sowie Wohnen einrichten. Im Erdgeschoss ist ein Restaurant geplant; auch hier wird eine Tiefgarage ausgehoben. Als Brückenkopf zur Langen Brücke und nächster Nachbar zum Stadtschloss war das modern zu planende Gebäude besonderen Anforderungen unterworfen. Im Laufe des Verfahrens wurden die Ecke zur Brücke hin durch eine breite Kante ersetzt und die Dachform angepasst. Auch sollte das Haus nicht höher als das Stadtschloss werden, um sich nicht in den Vordergrund zu spielen. Unter den beauftragten Architekten ist hier auch der renommierte Potsdamer Bernd Redlich.

In der Humboldstraße 4 baut ebenfalls Kondor Wessels – ebenfalls mit Bernd Redlich – das Palais Chiericati mit historischer Fassade wieder auf – als Wohn- und Geschäftshaus. An der Humboldtstraße 3 kam die Prinz von Preußen AG zum Zuge, die dort hinter der historischen Fassade des Palais Pompeji ebenfalls ein Wohn- und Geschäftshaus plant sowie ein Gartenhaus, das nur zum Wohnen gedacht ist.

Auf den schwierigen, weil sehr schmalen Grundstücken links neben dem Barberini baut unter anderem Star-Architekt Franco Stella für die Lelbach-Gesellschaft ein Stadthaus und eine Gartenvilla mit moderner Architektur, aber im Stile Palladios. Im Erdgeschoss sind ein Kunstsalon und ein Café geplant, darüber Wohnungen, ebenso im Gartenhaus. Daneben hat die Complan Kommunalberatung ein Grundstück erworben, das ähnlich genutzt wird: Gewerbe im Erdgeschoss, Wohnen darüber und im Gartenhaus. Die Fassade ist ebenfalls modern gehalten.

Erschienen am 26.10.2011

Die alten Fehler bauen

Dienstag, 11. Oktober 2011

Mit dem Architekten Martin Reichert auf Rundgang in Semmelhaacks jüngstem Viertel: „Potsdam lernt nicht dazu“

Die architektonische Qualität des neuen Wohngebietes am Bahnhof wird gern gescholten – wir baten Chipperfield-Direktor Martin Reichert um eine Expertise.

Der große Mann – Martin Reichert misst knapp zwei Meter – kommt ganz unprätentiös mit der S-Bahn in Potsdam an. Keine Limousine, kein Chauffeur. Zwar pendelt Reichert derzeit beständig zwischen Südkorea, Berlin und Russland, den Dauer-Jetlag sieht man ihm aber nicht an: Der Architekt wirkt, als habe er zuvor noch einen Termin beim Herrenausstatter gehabt. „Wir wollen doch heute sozialen Wohnungsbau besichtigen, da hielt ich die S-Bahn für angemessen“, kommentiert er die Wahl seines Verkehrsmittels mit feinem Lächeln.
Sozialer Wohnungsbau – das stimmt nicht ganz. Reichert, Direktor des Berliner Büros des Star-Architekten David Chipperfield, will an diesem Tag das „City-Quartier“ der Firma Semmelhaack am Bahnhof einer kritischen Würdigung unterziehen. Im Gestaltungsrat der Stadt fällt der Architekt, der für Chipperfield das „Neue Museum“ in Berlin behutsam restaurierte und dafür seither mit nationalen und internationalen Preisen geradezu überschüttet wird, stets durch seine glasklaren, schneidend scharfen Analysen auf. Diesmal hat er sich bereit erklärt, mit der MAZ ein umstrittenes Projekt zu besichtigen. An Stigmen mangelt es dem „City-Quartier“ auf dem Gelände des ehemaligen Reichsbahnausbesserungswerkes nicht: Von „gesichtsloser Büroarchitektur“ bis zu „maximaler Verwertung“ lauteten die Anwürfe, etwa im Bauausschuss.
Mit dem Architekten kommen auch die Tropfen. Kaum verlässt Reichert den Bahnhof, geht ein Regenguss nieder. Mit den Worten „Ich bin ziemlich wetterfest“ lehnt er einen angebotenen Schirm ab. Dann ist es wohl auch nur Regen und keine Träne der Verzweiflung, was ihm mitten im 85 000 Quadratmeter großen Areal über das Gesicht rinnt. Die erste Runde absolviert Reichert weitgehend schweigend, nur einmal entfährt ihm ein „Diese Dichte ist wirklich grenzwertig!“ 639 Wohnungen hat Semmelhaack in fünf Geschossen auf die Fläche gequetscht.
Vom Balkon eines Penthouses lässt Martin Reichert den Blick über das gesamte Areal schweifen: über den L-Riegel, dessen langer Schenkel parallel zur Bahn verläuft, über die mit drei U-förmigen Blöcken vollgestellte Mitte, schließlich das halbrunde Seniorenheim, das den massiven Block an der Friedrich-Engels-Straße zum Bahnhofsvorplatz hin öffnet. Der Blick geht ausschließlich über betongraue Flachdächer. „Die Dachlandschaft ist speziell“, sagt Martin Reichert, während er sich den Regen aus der Stirn wischt. Er betont „speziell“ in einer Art, dass es wie „katastrophal“, „monströs“ oder „schauerlich“ klingt, doch der 43-Jährige mit dem hanseatisch wirkenden Charme nähme solche Worte nicht in den Mund. Immerhin inspiriert ihn der Anblick zu einem Zwischenfazit: Alles sei sehr ökonomisch und effizient gebaut und daher lobenswert, befindet Reichert, andererseits könne man nicht verkennen, dass der Bauherr die Gewinnmaximierung über alles gestellt habe. Es fehle allerorten an Raffinesse, beim Material und den Oberflächen, alles sei günstig und ohne Liebe zu den Details entstanden. Das könne man allerdings nicht dem Architekten anlasten, sondern dem Kostendruck, den der Bauherr verordne. Das Viertel sei architektonisch vom Funktionalismus der 1920er und 1970er Jahre inspiriert, stehe in der Tradition des nüchternen sozialen Wohnungsbaus. Dem stünden allerdings die hohen Kaltmieten zwischen neun und zehn Euro entgegen: „Für 5,50 Euro würde man es loben können.“
Reichert findet noch mehr Lobenswertes: Die rigide Abwendung von der Bahn – nach hinten haben die Wohnungen nur Bad und Abstellräume sowie eine gute Lärmdämmung – findet seinen Beifall, auch die Laubengänge, die zu den Wohnungen führen, hält er für eine gute Idee. Die minimalen Freiflächen im City-Quartier seien „immerhin gestaltet“, wenn auch wenig nutzbar. Da es ohnehin Tiefgaragenplätze in großer Anzahl gibt, hätte Reichert das Parken auf den wenigen Freiflächen nicht gestattet. Auf einer dieser „Freiflächen“ stehend, dreht er sich einmal im Kreis: „Diese Dichte ist trotzdem an der Grenze des Erträglichen. Wer das genehmigt hat“, murmelt er kopfschüttelnd.
Wer eine Erdgeschosswohnung gemietet hat, bekommt von Martin Reichert das Bedauern obendrauf. Deren Mieter schauen nicht nur auf grauen Beton, wohin sie auch blicken, sondern auch noch auf die wenig einladenden Tiefgaragenfenster. Völlig unverständlich bleibt dem Architekten, warum die Terrassen im Erdgeschoss mit Dachgrün „verunstaltet“ wurden, statt sie mit Rasen einladend zu gestalten. Außerdem kann dank eines Metallgeländers den Bewohnern jeder auf die Strandliege oder den Grill schauen. Sichtschützende Mauern gibt es sinnloserweise nur zwischen den einzelnen Terrassen. Den eigentlich Schuldigen benennt Martin Reichert erst etwas später beim Tee. Vorher hat er den unvermeidlichen Architektenschal ausgewrungen. Von der Stuhllehne tropft die Jacke. „Das ist alles typisch Potsdam“, resümiert der Architekt, der nicht nur ein Jahr Gestaltungsratserfahrung in die Waagschale werfen kann, sondern sich auch schon zuvor bestens in den Bauten der Stadt auskannte. „Ein so großes Gebiet wäre anderswo nie ohne Bebauungsplan gelaufen. Dort wäre auch die mögliche Dichte festgelegt worden, und zwar eine deutlich geringere“, sagt er. Während Potsdam im historischen Bestand seit der Wende alles richtig gemacht habe, umsichtig, sensibel und mit hohem materiellen Aufwand vorgegangen sei, gebe es bei Neubauten stets eine nachlaufende Debatte, weil vorher nicht reguliert werde, sondern schlicht „vollgestellt“ – ein Fehler, der der Bauverwaltung anzulasten sei. Er sieht auch durch den Gestaltungsrat kein Umdenken dort, obwohl er dem Baudezernenten großes Engagement bescheinigt. „Das Traurige ist doch, dass die schlechten Erfahrungen, etwa mit dem Bahnhof, nicht dazu führen, dass es künftig besser wird. Potsdam wiederholt die alten Fehler, verkauft ohne Auflagen, ohne kleinteilige Parzellierung“, so Reichert. Er erregt sich nicht, sagt es ganz kühl. Und was hätte er zum City-Quartier gesagt, wenn es ihm im Gestaltungsrat vorgestellt worden wäre? „Dass es in diesem Umfeld nicht so problematisch ist, wie es in der Innenstadt wäre, dass die lieblose Gestaltung akzeptabel wäre, wenn die Mieten gering wären, dass das Farbkonzept höchst fragwürdig ist. Es sei denn, man mag betongrau“. Dann geht Reichert zurück zur S-Bahn. Korea wartet. Wo seine Jacke hing, ist eine kleine Pfütze.

Erschienen am 11.10.2011

Das Captain-Kirk-Gefühl

Samstag, 30. April 2011

Freizeit: Filmpark eröffnet 1,6 Millionen Euro teure Star-Trek-Ausstellung / Wertvolle Exponate aus den Serien und Filmen

Vor kurzem noch in Hollywood, jetzt in Potsdam: Requisiten aus Star-Trek-Film sind erstmals in Europa zu sehen.

Sich einmal kraftvoll aus dem Chefsessel drücken und energisch „Auf den Schirm!“ rufen. Oder „Energie auf die vorderen Phaserbänke.“ Oder „Übernehmen Sie, Nr. 1“ – dieses James-T.-Kirk oder Jean-Luc-Picard-Gefühl können alle Star-Trek-Fans ab morgen bis Ende Oktober für 13 Euro Eintritt im Filmpark genießen. Solange währt die Star-Trek-Ausstellung in der Caligari-Halle, die Filmpark-Geschäftsführer Friedhelm Schatz gestern vorstellte. 1,6 Millionen Euro lässt der Filmpark sich die aufwändige Schau auf 12 000 Quadratmetern kosten, 130 000 Besucher müssen kommen, um die Kosten zu refinanzieren. Im Gegenzug erleben sie zweitgrößte Schau des elf Filme und sechs Serien mit 726 Folgen umfassenden Star-Trek-Universums um Raumschiffe, fremde Planeten und eigentümliche Rassen, die bislang in Europa zu sehen war. Erstmals ausgestellt wird der Transporter-Raum, der im bislang jüngsten Star-Trek-Film zum Beamen der Mannschaft zum Einsatz kam. Unumstrittener Höhepunkt ist dennoch die Kommandobrücke der „USS Enterprise 1701-D“, der erfolgreichsten Serie mit Captain Jean-Luc Picard. Der Versuchung, in seinem Sessel Platz zu nehmen oder in dem seines ersten Offiziers William T. Riker konnten beim Pressetermin nur die wenigsten Journalisten widerstehen.
Für Nicholas Cooper waren hingegen die fast eine dreiviertel Tonne schweren Modelle der „Enterprise“ und der „Voyager“ die größte Herausforderung. Das Unternehmen des Australiers hat die Ausstellung konzipiert, transportiert und aufgebaut. Die schweren Modelle, die in den Serien für die Außenaufnahmen der Schiffe benutzt wurden, unter die Decke zu bringen, sei keine leichte Aufgabe gewesen, sagt er. Auch der Transport der wertvolle Stücke auf dem Seeweg sei eine Herausforderung. Zu den wertvollsten Stücken zählen indes die 26 Originalkostüme, die von Spock, Kirk, Uhura und Co. in den Filmen getragen wurden. Drittes Originalset ist die Bar des Ferengi „Quark“ aus der dritten Serie „Deep Space Nine“. Sie soll „behutsam“ auch für Partys im Rahmen der Ausstellung genutzt werden, so Friedhelm Schatz.
Rund zwei Stunden Zeit brauchen die Besucher, um all die Masken, Kostüme und Ausrüstungsgegenstände wie Phaser-Waffen, Kommunikatoren und Tricorder zu bewundern, Picards Schreibtisch, Worfs Schwert und den klingonischen Kaiserthron zu bewundern oder sich vor dem Green-Screen virtuell ins All zu begeben. Gerhard Raible von der Trek-World-Marketing versprach ein spannendes Begleitprogramm mit wissenschaftlichen Vorträgen und den Besuchen von Originalschauspielern in den nächsten Monaten. Welche das sein würden, verriet er aber noch nicht. „Wir sind mit fast allen im Gespräch, aber es ist nicht immer leicht“, so Raible. Lediglich einen Auftritt von „Mr. Spock“ alias Leonard Nimoy sei ausgeschlossen. Der 80-Jährige ziehe sich langsam aus dem Star-Trek-Zirkus zurück. Die „Kapitäne“ Kirk (William Shatner) und Picard (Patrick Steward) würden aber noch von ihm „bearbeitet“.

Erschienen am 30. April 2011

Präsident beim König

Dienstag, 20. Juli 2010

Feuerwehr: Mit sechs Monaten Verspätung besichtigt Matthias Platzeck die neue Wache

Auf seiner Sommernöte-Tour machte der Ministerpräsident in der neuen Feuerwache an der Humboldtbrücke Station – es wurde ein eher munterer Termin.

POTSDAM| Er hatte zwar schon einen halben Liter Blut, aber nicht seinen Humor verloren: Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) kam gestern Vormittag mit einem jovialen Schulterklopfen zu Potsdams Feuerwehr-Chef Wolfgang Hülsebeck und sagte, „König Hülsebeck“ möge ihm doch nun seine Gemächer zeigen. Schließlich sei er, Platzeck, bei der Einweihung der neuen Wache im Januar verhindert gewesen und wolle nun „die längst überfällige Aufwartung machen“. In der Staatskanzlei hatte man diese Aufwartung geschickt in einen Thementag zu den Sommernöten des Landes gepackt, und so war der Besuch beim „Feuerwehrkönig“ dezent zwischen den Blutspendetermin (Konservenknappheit in der Ferienzeit) und jenem in der Zossener Waldbrandzentrale (hohe Warnstufe bei der Hitze) geschoben worden.
Interessiert preschte Platzeck dem Pressetross (Saure-Gurken-Zeit) voran, erfuhr, dass die Feuerwehr in Potsdam auch alle Rettungseinsätze fährt, dass es neben der Hauptwache Dependancen in Neufahrland und Babelsberg gibt, dass die Potsdamer Kameraden im Schnitt 15 Minuten bis zum Einsatzort brauchen und dass wegen der Hitze 50 Prozent mehr Rettungseinsätze wegen Kreislaufproblemen anfallen. Der Ministerpräsident erkundigte sich bei jedem Mitarbeiter, dessen er habhaft werden konnte, ob die neue Wache ein Gewinn sei, und erhielt nur Zustimmung. Die Rettungsassistentinnen bestätigten ihm zudem den Segen der Klimaanlage in ihren Rettungswagen und verneinten die ministerpräsidiale Frage, ob sie bei Entbindungen im Auto notfalls die Nabelschnur durchbeißen müssten. Dazu gebe es Scheren.
Als sei er bestellt geworden, hallte dann ein Einsatzalarm durch die riesige Fahrzeughalle: Es brannte ein Müllcontainer in der Henning-von-Tresckow-Straße, wie auf den Monitoren gut zu lesen war. „Hat der Innenminister wohl wieder heimlich geraucht?“, scherzte Platzeck unverdrossen auf Kosten seines Zigarren liebenden Parteigenossen Rainer Speer, alles lächelte pflichtschuldig, währenddessen die erste Löschwagenbesatzung in Stiefel, Jacken und Helme sprang und davonbrauste.
Im Herzen der Wache, der Leitstelle für ganz Nordwest-Brandenburg, führte Platzecks routinierte Frage nach der Zufriedenheit zu einem kurzen Zögern. Ob sie die ehrliche oder die geplante Antwort geben solle, wollte eine Mitarbeiterin lächelnd von Wolfgang Hülsebeck wissen. Der lächelte zurück und räumte ein, dass die Klimaanlage zuweilen etwas laut sei und es zu Beginn Probleme bei der Alarmierung der Kollegen in Babelsberg gegeben habe. Sonst sei aber alles bestens. Drei bis vier Mitarbeiter besetzen derzeit tagsüber die Leitstelle, sobald auch der Kreis Ostprignitz-Ruppin hinzukommt, werden es bis zu acht Kollegen sein. „Das ist ja eine Feuerwache wie im Westen“, zeigte Matthias Platzeck begeistert, der, den Fluren folgend, auch forsch in eine Teeküche schritt und den entsetzten Ruf einer Mitarbeiterin, „hoffentlich macht niemand den Kühlschrank auf“, schon nicht mehr hörte.
Der Kühlschrank durfte daher sein Geheimnis behalten, und der Ministerpräsident, zufrieden ob der neuen Eindrücke, der schönen Wache, der glücklichen Mitarbeiter und der erledigten Aufwartung beim „Feuerwehrkönig“, setzte seine gut gelaunte Sommernötetour ’gen Zossen fort.

Erschienen am 20.07.2010

Kulka erläutert Schlosspläne

Donnerstag, 25. Februar 2010

Stadtentwicklung: Mitteschön fordert weiter / Architekt wütend / Ausschuss moderiert

POTSDAM |  Für einen Moment stand Peter Kulka kurz vor der Explosion. Der Architekt des Landtagsschlosses hat sich noch nicht an die typische Potsdamer Debattierfreude von Bauvorhaben gewöhnt, und eine an sich harmlose Frage im Bauausschuss machte Kulka sichtlich wütend. Eigentlich wollte Ausschuss-Mitglied Christian Seidel (SPD) nur wissen, welches Maß Kulka zum Anlass nahm, die Seitenflügel des künftigen Landtages zu verbreitern. Kulka aber, offenbar über einen weiteren Forderungskatalog der Bürgerinitiative „Mitteschön“ erbost, rief plötzlich etwas von „Polemik“ in den Raum und erinnerte daran, dass er auf Wunsch von Mitteschön bereits die Fenster auf seine Kosten umgeplant habe – „nachträglich, eigentlich war es schon zu spät“ –, und verkündete, wenn man wolle, dass er das Handtuch werfe, solle man nur so weitermachen. Erst ein besänftigender Zwischenruf des stets auf Ausgleich bedachten Ausschuss-Vorsitzenden beruhigte den aufgebrachten Stararchitekten wieder, dem der Bauausschuss mehr als eine Stunde Redezeit einräumte, um das Projekt vorzustellen. Kulka holte weit aus, ordnete das Vorhaben in seine bisherige Arbeit ein, erklärte, dass der Landtag innen in weiten Teilen ein Bürogebäude werde, sprach über die Notwendigkeit, Teile der Originalfassade in die zu rekonstruierende Fassade aufzunehmen, um der Gefahr der „Pappigkeit, Künstlichkeit und Unehrlichkeit“ entgegenzuwirken und wurde nicht müde, zu unterstreichen, dass er die Bürgerwünsche zu den Fensterlösungen „freiwillig“, „auf eigene Kosten“ und „sehr spät“ noch aufnahm, „obwohl die Pläne längst fertig waren“. Er kündigte zudem eine Schaustelle an, einen Pavillon in den Landesfarben, mit Rampen ringsherum, der mit einer Ausstellung über das Originalschloss und das Bauvorhaben informiert und zudem eine Plattform bereitstellt, von der die Baustelle zu überblicken ist.
Barbara Kuster von Mitteschön freute sich daraufhin öffentlich über die erfolgten Änderungen, um sofort einen weiteren seitlichen Durchgang zu fordern, da ansonsten der Alte Markt lahmgelegt sei. Außerdem werde die Außenfassade nicht original sein, die Knobelsdorffsche Asymmetrie fehle, und es würden zu wenig Originalteile eingebaut, klagte sie. Sie fürchte daher um Plattners Spende. Ein zweiter Redner hätte gern die Rampe zur Tiefgarage verlegt oder ganz verschwunden gesehen. Der Ausschuss beeilte sich nun, zu erklären, dass diese Diskussionen doch längst geführt seien, bevor Kulka wieder mit dem Handtuchwurf drohen konnte. Saskia Hüneke versicherte gar, sie habe „lustvolle Momente“ beim Betrachten der Entwürfe, und Baudezernent Klipp sagte, die Baugenehmigung stehe unmittelbar bevor. Lediglich, dass Saskia Hüneke anmerkte, es sei „nie zu spät für Anmerkungen“, weil doch die Entwürfe so lange nichtöffentlich waren, ließ Peter Kulkas Halsschlagader noch einmal kurz anschwellen. Dank des warmen Applauses endete der Tagesordnungspunkt aber ohne weitere Kollateralschäden.

Erschienen am 25.02.2010

2010 – was kommt!

Donnerstag, 31. Dezember 2009

Satire: Freiland wird besetzt, die Uferwege befreit und der Bahnhof verschwindet im Pflasterhagel

Unter dem Titel „Was bleibt“ glossiert die MAZ die Themen der Woche. Zum Jahreswechsel wagen wir einen nicht wirklich ernsten Blick voraus: Was kommt?

Das neue Jahr beginnt mit der Besetzung des „Freiland“-Geländes an der Friedrich-Engels-Straße durch seine künftigen Nutzer: zum einen, weil die Stadt mit dem Projekt über allem Workshoppen nicht in die Puschen kommt, zum anderen, weil das Besetzen soziokultureller Usus ist. Quasi eine Form von Traditionspflege, auch wenn die Vokabel „Tradition“ bei autonomen Selbstverwaltern nicht wohlgelitten ist. Was wäre schon ein „Freiland“, wenn es von der Stadt legal zur Verfügung gestellt würde? Ein Unfreiland, eine Manifestation obrigkeitsstaatlicher Gewalt, eine verordnete Gummizelle zum Austoben, damit die Soziokultur den Mainstream unbehelligt lasse – kurzum: eine Frechheit. Also besetzen!
Mit einer Tradition bricht hingegen der Schlaatz: Der Integrationsgarten brennt diesmal Silvester nicht ab, was für dessen Nutzer und die Polizei eine hervorragende, für Lokalpolitik und -presse aber eine schwierige Neuigkeit ist: In der nachrichtenarmen Zeit nach Neujahr bleiben daher einige Zeitungsspalten und Sendeminuten ungefüllt, und auch die rituellen Betroffenheitsbesuche der Politik vor Ort müssen ausfallen.
Doch das Jahr kommt auch so in Gang. Baubeigeordneter Matthias Klipp kann getrost auf den Einkauf einer Jahresration Shampoo verzichten, da ihm der Oberbürgermeister ohnehin regelmäßig den Kopf wäscht – spätestens, wenn der grüne Klipp Potsdam komplett zum verkehrsberuhigten Bereich erklärt (Februar), die Humboldtbrücke nur noch für Radfahrer zulässt (März) und die Tiefgaragen abreißen lässt (April bis Dezember). Flankiert wird er von „Mitteschön“, die den neuen Gestaltungsrat feindlich übernehmen und jeden B-Plan, in dem die Worte „Rekonstruktion“, „Knobelsdorff“, „Barock“ und „sklavisch genau“ vergessen wurden, von vornherein unter größtmöglicher Öffentlichkeitswirksamkeit ablehnen. Der Bauausschuss fühlt sich daraufhin ein wenig überflüssig, was eine leise Depressivität zur Folge hat: Erstmals seit der Wende werden einzelne Vorlagen nach nur 30-minütiger Debatte ohne große Änderungen zum Beschluss empfohlen. In der Alten Mitte legt Klipp zudem ein Tempo vor, dem der Ausschuss ohnehin nicht folgen kann.
Auch der leidige Pflasterstreit erledigt sich von selbst: Es gibt bald keines mehr, weil sich die Freiland-Besetzer der Steine als Wurfgeschosse bedienen, da ihrer Besetzung zu wenig Aufmerksamkeit zuteil wird. Sie bewerfen den nahe gelegenen Bahnhof mit seinem toten S-Bahngleis und das daneben entstehende Wohngebiet. Die Empörung ist jedoch gering, da beides ohnehin als städtebauliche Katastrophe gilt und viele Potsdamer heimlich sympathisieren.
Dank des heimlich angesammelten Überschusses im Haushalt, den Bürgermeister Burkhard Exner nach hochnotpeinlicher Befragung auf zirka 73 Millionen Euro schätzt, lassen sich die Griebnitzsee-Grundstücke vom Bund kaufen, die Sperranrainer knicken ein vor der Gewalt eines fehlerfreien B-Plan-Entwurfs und der ganze Uferweg ist nun wieder von Spaziergängern besetzt.
Und sonst? Ach ja, die Oberbürgermeisterwahl. Sie geht diesmal ausnahmsweise knapp aus. Dem Linken-Kandidaten Hans-Jürgen Scharfenberg fehlt am Ende exakt eine Stimme, um Amtsinhaber Jann Jakobs zu schlagen. Es ist die seines Noch-Immer-Partei- und Ex-Fraktionsgenossen Pete Heuer. Alternativ hätte es auch genügt, wenn jemand von den Freiland-Besetzern zur Wahl gegangen wäre. Doch die waren ja mit Schmollen ausgelastet.

Erschienen am 31.12.2009

Im Brennpunkt der Geschichte

Montag, 9. November 2009

Mauerfall: Potsdam erinnerte vielerorts an den 9. November / Villa Schöningen eröffnet

Zum 20. Jubiläum des Mauerfalls kamen Gorbatschow, Kissinger, Genscher und die Bundeskanzlerin in die Villa Schöningen. Am Griebnitzsee liefen Bürger den einstigen Grenzstreifen ab.

Niemand wurde geschont an diesem Abend. Nicht einmal Hausherr und Springer-Vorstand Mathias Döpfner. „Sagen Sie mal, wo arbeiten Sie eigentlich?“ schallte es aus dem Pulk der Kameraleute und Fotografen, die darüber verärgert waren, dass Döpfner, der rund zwei Meter misst, mit seiner imposanten Erscheinung Angela Merkel beim Signieren eines Mauerstücks vor der Villa Schöningen glatt verdeckte. Sie als Medienprofi, sollte das heißen, müssten es doch besser wissen – zumal wegen galoppierender Platznot angesichts von 500 hochkarätigen Gästen ohnehin kaum ein Journalist Zugang zu den Hallen erhielt, in denen ab heute ein Museum über die Glienicker Brücke, den Agentenaustausch, die Mauer und die wechselvolle Geschichte der Villa allen Interessierten offen steht.
Es war wohl die größte Ansammlung politischer Prominenz in Potsdam seit der Potsdamer Konferenz: Zur Eröffnung kamen nicht nur die Bundeskanzlerin und Außenminister Guido Westerwelle, auch Ex-Außenminister Hans-Dietrich Genscher, Ex-US-Außenminister Henry Kissinger und der ehemalige sowjetische Präsident Michail Gorbatschow sowie Polens Außenminister Radoslaw Sikorski signierten das Mauerstück und verschwanden dann in der hoffnungslos überfüllten Villa, flankiert von der Spitze der deutschen Medien-, Kultur- und Wirtschaftsprominenz. Die Kanzlerin war gar mit vereinzelten „Angie“-Rufen begrüßt worden, die Friedensnobelpreisträger Kissinger und Gorbatschow ernteten Applaus von zahlreichen Schaulustigen in der Schwanenallee.
Während sich der 86-jährige Kissinger in seiner Rede vor allem der bedeutenden Zeit, in der er amtierte – und damit seiner eigenen Bedeutung – vergewisserte, Angela Merkel das private Engagement Döpfners für das Museum lobte und über die Rolle der Glienicker Brücke reflektierte, erntete der polnische Außenminister den größten Beifall: Er habe beim Feiern auf der Mauer 1989 gemischte Gefühle gehabt, bekannte Sikorski: Einerseits habe er sich über das Ende des Kommunismus gefreut und andererseits ein wenig vor dem vereinten Deutschland gefürchtet. Doch das sei unnötig gewesen, heute leite die Bundesrepublik als „einflussreichstes Land Europas“ durch gutes Beispiel. „Es gelang gemeinsam“, sagte Sikorski auf deutsch, auch auf die Leistungen der polnischen Solidarnosc-Gewerkschaft anspielend.
Die Museums-Eröffnung war nicht das einzige Ereignis, das am Vorabend des 20. Jahrestags an den Fall der Mauer erinnerte. Am Mauerstück in der Stubenrauchstraße trafen sich auf Einladung der Fördergemeinschaft Lindenstraße mehr als 100 Potsdamer, um die „wichtigste Meile der Nachkriegsgeschichte“, wie Bob Bahra in seiner Begrüßung sagte, abzuwandern. Das „grellweiße Monstrum, das unser Leben auf Jahre verschattete und verdunkelte“ (Bahra) war der Ausgangspunkt für die rund einstündige Wanderung am Griebnitzseeufer entlang, die nur von gesperrten Ufergrundstücken unterbrochen wurde. Mit vorneweg marschierte Linken-Fraktionschef Hans-Jürgen Scharfenberg. Im Treffpunkt Freizeit berichteten Zeitzeugen, wie sie die Wendezeit erlebten – vom jungen Mann, der noch am 1. November in die NVA eingezogen wurde und bis zum 31. Dezember gar keinen Ausgang bekam, bis zur Westberliner Studentin, die flugs ihren Traum verwirklichte, einmal unter dem Brandenburger Tor zu stehen. Die Kinder und ihre Eltern hörten gebannt zu.

Erschienen am 09.11.2009

Versehrt an Körper und Seele

Dienstag, 8. September 2009

Bildung: DDR-Dopingopfer berichtet am OSZ „Johanna Just“ aus seinem Leben

Dass mancher die DDR nicht unbeschadet am Charakter überstand, hatten die Schüler schon gehört. Bernd Richter erweiterte ihr Wissen ins Körperliche.

POTSDAM | Anschaulicher kann Geschichtsunterricht kaum sein. „So wie ich hier sitze, bin ich ein Produkt der DDR“, sagt Bernd Richter gleich zu Beginn.
Er meint damit nicht nur, wie das Land, in dem er aufwuchs, seinen Charakter prägte, sondern auch und in erster Linie seinen Körper. Einen Körper, der fast alle Knorpelmasse abgebaut hat, der unter einer schweren Gerinnungsstörung des Blutes leidet, mit Embolien und Thrombosen kämpft und zeitweise nur durch Morphium vom Druck der Schmerzen entlastet werden kann. Er hat sich wirklich nichts dabei gedacht, sagt Richter, und die Schüler des Oberstufenzentrums (OSZ) „Johanna Just“ in der Berliner Straße glauben es ihm, als er, der begabte Sportler, der familiären Problemen auf dem Sportplatz davonlaufen oder sie mit dem Diskus und dem Hammer von sich werfen konnte, in der Sportschule „Vitamintabletten“, „Eiweißpillen“ und „Spezialessen“ angedient bekam.
Es war Anfang der 70er Jahre, Richter war erst in der 9. Klasse und gerade in die Jugend-Nationalmannschaft gekommen – der Begriff Doping war noch nicht etabliert. Dass dem 15-Jährigen Brüste wuchsen, wurde mit dem „vermehrten Schwitzen“ beim Sport erklärt, wie auch andere hormonelle Probleme, die er lieber nicht vor den 18- und 19-jährigen Zuhörern, überwiegend Frauen, erzählt. „Was wir da bekommen haben, war noch nicht mal für Tierversuche zugelassen“, weiß Richter heute.
Es war ziemlich still in der Aula, als Richter seine Erzählung begann. Eingeladen hatte Bildungsminister Holger Ruprecht (SPD), der gestern auf „Kreistour“ war und nach einem empörten Brief einer Gymnasiastin, die DDR-Geschichte käme in Brandenburgs Schulen zu kurz, beschloss, die Sache in die eigenen Hände zu nehmen: Bereits zum 21. Mal trat der Minister in Sachen DDR-Geschichte nebst einem weiteren Zeitzeugen auf. Doch die recht glatt und glücklich verlaufene Vita des Ministers verblasst neben der brüchigen des Gastes: Die Dopingerfahrung war erst der Anfang.
Als er kurz darauf nicht nach Kuba zu einem Wettkampf reisen durfte, beschloss der 17-Jährige, über Ungarn und Jugoslawien in den Westen zu fliehen. Von einem Freund verraten, wurde er in Jugoslawien gefasst, was ihm tage- und nächtelange Verhöre in Budapest, in Berlin-Hohenschönhausen und der Potsdamer Lindenstraße einbrachte. Im dortigen Stasi-Untersuchungsgefängnis musste er ein halbes Jahr Einzelhaft erdulden, eine Qual, an der Richter auch hätte sterben können: Seinem Körper, der zehn Stunden Training am Tag gewohnt war, drohte bei so plötzlichem Trainingsabbruch Herzversagen.
Selbst nach der Entlassung aufgrund einer Amnestie wurde es immer nur vorübergehend besser: Ob in der Armee oder bei der GST (Gesellschaft für Sport und Technik), ob beim Versuch, sich selbstständig zu machen oder bei der Arbeit in der Potsdamer Bauverwaltung: Stets legten Stasi oder SED dem Unbequemen Steine in den Weg.
Die Schüler nahmen es mit Schrecken und fragten vergleichsweise viel nach. Einer bat gar um zusätzlichen Geschichtsunterricht zur DDR.

Erschienen am 08.09.2009


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