Mehr Integration, weniger Medienkonsum
Mittwoch, 12. November 2008Jugendkriminalität: Experten, Helfer und Betroffene suchten nach Antworten
Wie lässt es sich verhindern, dass in Frankreich die Vorstädte brennen und in der Münchner U-Bahn Jugendliche einen Mann fast zu Tode prügeln? Die Stiftung Genshagen lud deutsche und französische Experten zur Debatte ins Schloss.
GENSHAGEN| Die Idee zur Debatte ist schon drei Jahre alt: Als in Frankreich Ende 2005 die Banlieues brannten, reifte in der Stiftung Genshagen der Gedanke heran, ein Austausch über Jugendgewalt könnte für Franzosen wie Deutsche gewinnbringend sein. Angezündet wurden die Vorstädte damals von wütenden Jugendlichen – meist mit Migrationshintergrund -, die ihren Gefühlen von Chancenlosigkeit und Ausgrenzung mit Streichholz und Baseballschläger Ausdruck verliehen. Der Plan der Stiftung, die sich der deutsch-französischen Zusammenarbeit in Europa verschrieben hat, erwies sich nahezu als prophetisch. Nicht zuletzt wegen der Münchner U-Bahn-Schläger und weil Jugendkriminalität in Hessen zum Wahlkampfthema wurde, erreichte die Debatte auch Deutschland. Die Ausrichtung der Tagung in Genshagen indes scheiterte zunächst an Förderhürden, wie Noémie Kaufman, Projektleiterin der Stiftung, bedauerte. Doch das Warten lohnte: Am Wochenende trafen sich 75 Wissenschaftler, Sozialarbeiter, Polizisten, Staatsanwälte, Lehrer und Integrationsbeauftragte, um sich über den Umgang mit Jugendkriminalität auszutauschen. Das Publikumsinteresse war groß, auch hochkarätige Referenten sagten gern zu. Darunter Jean-Yves Camus, Frankreichs bekanntester Experte für Rechtsextremismus und Christian Pfeiffer, ehemaliger niedersächsischer Innenminister und heute Professor und Direktor eines kriminologischen Forschungsinstituts.
Große Namen sichern breite Aufmerksamkeit, bergen aber auch Gefahren, wie sich am Freitagabend zeigte. Christian Pfeiffer, der sich etwas verspätete, platzte in eine bereits laufende, aber recht unemotional plätschernde Debatte: Man war sich in vielem einig. Der streitbare Pfeiffer hingegen riss sofort die Aufmerksamkeit an sich. Er sagte zwar nichts, was er nicht auch sonst bereitwillig in Kameras und Journalistenblöcke diktiert, aber er sagte es mit einer Schärfe und Gewissheit, als gäbe es keine offenen Fragen mehr: dass Migrantenkinder, speziell türkische, deutlich häufiger zu Gewalt neigen; dass sie meist weniger gebildet, aber nicht dümmer sind, sondern nachweislich nur nicht gefördert und integriert wurden; dass Misshandlung und übermäßiger Medienkosum bei Kindern kriminelle Karrieren deutlich befördern; dass Computerspiele von großem Übel und die Hauptschule wie die Pest zu meiden sei; dass in Niedersachsen alles besser und in Berlin alles ganz besonders schlimm sei. Doch er wusste auch Rat: Nicht auf die Politik hoffen, den Medienkonsum reduzieren, bürgerschaftliches Engagement wagen, Integration fördern, dann klappt’s auch mit den Gewalttätern. Ein Integrationsbeauftragter im Publikum wagte den Einwand, dass ihm diese Sicht zu einseitig und „verkrampft optimistisch“ erscheine und wurde von Pfeiffer harsch abgekanzelt. Der ebenfalls anwesende Direktor der Berliner Rütli-Schule – mittlerweile eine Vorzeigeeinrichtung – sah zwischendurch aus, als wolle er platzen, bemeisterte sich aber und betonte am Ende nur sarkastisch, es sei doch schade, dass der Herr Pfeiffer so dringend zum Flugzeug musste und nicht zur Diskussion bleiben konnte. Schwerer wog, dass der französische Soziologe Marwan Mohammed und Safter Cinar vom Türkischen Bund Berlin-Brandenburg kaum zu Wort kamen. Sie saßen zwar auch auf dem Podium, ihre leiseren und differenzierteren Beiträge wurden aber durch die schiere Präsenz Pfeiffers fast erdrückt.
Es standen noch weitere Debatten auf dem Programm: über wirksame Mittel gegen Gewalt an der Schule; über die Frage, ob Prävention oder Strafe die geeignetere Antwort auf Jugendkriminalität sind und wie man rechtsextremen Jugendlichen wirkungsvoll begegnet. Alles Fragen, zu denen auch Professor Pfeiffer sicher eine wortreiche Antwort gehabt hätte. Aber der war ja schon weg.
Erschienen am 12.11.2008