Archiv für die Kategorie „Bericht“

Mehr Integration, weniger Medienkonsum

Mittwoch, 12. November 2008

Jugendkriminalität: Experten, Helfer und Betroffene suchten nach Antworten

Wie lässt es sich verhindern, dass in Frankreich die Vorstädte brennen und in der Münchner U-Bahn Jugendliche einen Mann fast zu Tode prügeln? Die Stiftung Genshagen lud deutsche und französische Experten zur Debatte ins Schloss.

GENSHAGEN| Die Idee zur Debatte ist schon drei Jahre alt: Als in Frankreich Ende 2005 die Banlieues brannten, reifte in der Stiftung Genshagen der Gedanke heran, ein Austausch über Jugendgewalt könnte für Franzosen wie Deutsche gewinnbringend sein. Angezündet wurden die Vorstädte damals von wütenden Jugendlichen – meist mit Migrationshintergrund -, die ihren Gefühlen von Chancenlosigkeit und Ausgrenzung mit Streichholz und Baseballschläger Ausdruck verliehen. Der Plan der Stiftung, die sich der deutsch-französischen Zusammenarbeit in Europa verschrieben hat, erwies sich nahezu als prophetisch. Nicht zuletzt wegen der Münchner U-Bahn-Schläger und weil Jugendkriminalität in Hessen zum Wahlkampfthema wurde, erreichte die Debatte auch Deutschland. Die Ausrichtung der Tagung in Genshagen indes scheiterte zunächst an Förderhürden, wie Noémie Kaufman, Projektleiterin der Stiftung, bedauerte. Doch das Warten lohnte: Am Wochenende trafen sich 75 Wissenschaftler, Sozialarbeiter, Polizisten, Staatsanwälte, Lehrer und Integrationsbeauftragte, um sich über den Umgang mit Jugendkriminalität auszutauschen. Das Publikumsinteresse war groß, auch hochkarätige Referenten sagten gern zu. Darunter Jean-Yves Camus, Frankreichs bekanntester Experte für Rechtsextremismus und Christian Pfeiffer, ehemaliger niedersächsischer Innenminister und heute Professor und Direktor eines kriminologischen Forschungsinstituts.
Große Namen sichern breite Aufmerksamkeit, bergen aber auch Gefahren, wie sich am Freitagabend zeigte. Christian Pfeiffer, der sich etwas verspätete, platzte in eine bereits laufende, aber recht unemotional plätschernde Debatte: Man war sich in vielem einig. Der streitbare Pfeiffer hingegen riss sofort die Aufmerksamkeit an sich. Er sagte zwar nichts, was er nicht auch sonst bereitwillig in Kameras und Journalistenblöcke diktiert, aber er sagte es mit einer Schärfe und Gewissheit, als gäbe es keine offenen Fragen mehr: dass Migrantenkinder, speziell türkische, deutlich häufiger zu Gewalt neigen; dass sie meist weniger gebildet, aber nicht dümmer sind, sondern nachweislich nur nicht gefördert und integriert wurden; dass Misshandlung und übermäßiger Medienkosum bei Kindern kriminelle Karrieren deutlich befördern; dass Computerspiele von großem Übel und die Hauptschule wie die Pest zu meiden sei; dass in Niedersachsen alles besser und in Berlin alles ganz besonders schlimm sei. Doch er wusste auch Rat: Nicht auf die Politik hoffen, den Medienkonsum reduzieren, bürgerschaftliches Engagement wagen, Integration fördern, dann klappt’s auch mit den Gewalttätern. Ein Integrationsbeauftragter im Publikum wagte den Einwand, dass ihm diese Sicht zu einseitig und „verkrampft optimistisch“ erscheine und wurde von Pfeiffer harsch abgekanzelt. Der ebenfalls anwesende Direktor der Berliner Rütli-Schule – mittlerweile eine Vorzeigeeinrichtung – sah zwischendurch aus, als wolle er platzen, bemeisterte sich aber und betonte am Ende nur sarkastisch, es sei doch schade, dass der Herr Pfeiffer so dringend zum Flugzeug musste und nicht zur Diskussion bleiben konnte. Schwerer wog, dass der französische Soziologe Marwan Mohammed und Safter Cinar vom Türkischen Bund Berlin-Brandenburg kaum zu Wort kamen. Sie saßen zwar auch auf dem Podium, ihre leiseren und differenzierteren Beiträge wurden aber durch die schiere Präsenz Pfeiffers fast erdrückt.
Es standen noch weitere Debatten auf dem Programm: über wirksame Mittel gegen Gewalt an der Schule; über die Frage, ob Prävention oder Strafe die geeignetere Antwort auf Jugendkriminalität sind und wie man rechtsextremen Jugendlichen wirkungsvoll begegnet. Alles Fragen, zu denen auch Professor Pfeiffer sicher eine wortreiche Antwort gehabt hätte. Aber der war ja schon weg.

Erschienen am 12.11.2008

Wadenkrampf und Freudentränen

Freitag, 17. Oktober 2008

Wettbewerb: Bademode im Bierdunst: Auf dem Diedersdorfer Oktoberfest wurde wieder eine Miss gesucht

Sie konnten sich direkt fürs Landesfinale der „Miss Germany“ qualifizieren, die elf Teilnehmerinnen im Vorausscheid.

DIEDERSDORF| Der Wadenkrampf sollte sich am Ende lohnen. Doch vor die Schärpe haben die Götter den Schmerz gesetzt: Nicole Reimer lächelte eisern durch, aber über ihren 10-Zentimeter-Stiletto-Absätzen krampften die Wadenmuskeln erkennbar. Doch was soll man tun, wenn man nur 1,60 Meter groß ist, aber trotzdem Miss Germany werden möchte?
Sie hatte auch noch die längste Stehzeit, die 21-jährige Berlinerin, denn ihr war die Startnummer 1 zugelost worden. Im cremefarbenen Abendkleid musste sie am Mittwochabend als erste auf den weiß-blau karierten Laufsteg im Diedersdorfer Oktoberfestzelt, zehn weitere Miss-Anwärterinnen folgten. Das Zelt war nur gut halb voll, aber die Stimmung – auch dank genügend Maßkrügen – von Beginn an gut. Zweimal auf und ab, unter den prüfenden Blicken der Jury, dann galt es, ein einminütiges Kurzinterview zu überstehen, das von Moderatorin Carmen Franke mit einer Vorstellung eingeleitet wurde. So erfuhren die staunenden Gäste, dass Nicole eine Violine spielende Reisekauffrau sei, die gern nach Griechenland reist und ihre Maße 84-58-84 betrügen. Nuria, deren Name nach eigenem Bekunden „so was wie Sonnenaufgang auf arabisch oder jüdisch oder so“ bedeutet, turnt gern am Trapez und hat im Übrigen 82-52-89, war zu erfahren. Die 17-jährige Jennifer, 84-62-92, kann vier Sprachen, will Stewardess werden und hatte das Preisschild unter den Schuhen kleben lassen. Denise, 25, beeindruckte das Publikum mit einem bedrohlich ausladenden Dekolleté und dem Hinweis, Cocktails seien ihr größtes Hobby. Schließlich kam Juliane, 86-68-99, Polizistin und Exsoldatin – „weil ich für mein Leben gerne schieße“ –, die als besonderes Talent die Fähigkeit zum Telefonieren beim Autofahren nannte, zur Freude des bierseligen Publikums, als Hobbys Reiten und ihre zwei Katzen (Zuruf: „Geil! Drei Muschis zuhause!“) aufzählte. Sie durften noch zwei-, dreimal paradieren, dann wurde der Ruf der Menge („Ausziehen! Ausziehen!“) erhört, und die elf möglichen Missen verschwanden, um sich in Bademode zu werfen.
Im grün-blauen Tankini kehrten sie einige Saalrunden später zurück, und das Spiel wiederholte sich. Das Publikum goutierte das entweder enthemmt-gröhlend mit „Mach-Dich-nackig“-Rufen oder fachlich-abschätzig mit ausgefeilten Potenzialanalysen: „Ganz annehmbar“, urteilte ein Herr im Anzug, „kommerziell kaum verwertbar“, entgegnete ein anderer, und ein dritter diagnostizierte kühl hier und da „Hautstrukturprobleme an den Oberschenkeln“. In der Tat zeigte sich, dass es nur ein Vorausscheid war: Von zu großen Schritten bis Trampeln, von Speckröllchen bis zu viel Push-Up, von unnatürlichem Dauerlächeln bis dem gefürchteten „Oh-Gott-sind-diese-Absätze-hoch“-Gang waren alle Anfängerfehler mehr oder minder häufig vertreten. Carmen Franke aber moderierte über solche Spitzfindigkeiten elegant hinweg, und den meisten Gästen waren diese Nickligkeiten ohnehin längst egal. Nachdem alle Sponsoren zum wiederholten Male aufgezählt waren und die Jury ihre Punktelisten abgegeben hatte, riss der DJ mit „Heidi“, „Biene Maja“ und dem „Holzmichl“ das Publikum von den Bänken, und eine Stunde später standen die Siegerinnen fest: Nicole Reimer wurde für ihre verhärtete Wadenmuskulatur mit dem ersten Platz, Schärpe und Krone, einem Ring, Champagner und zahllosen anderen Preisen entschädigt, die anwesenden Eltern wollten vor Stolz schier platzen, Carolin Ludwig (84-62-92) wurde Vize-Miss Schloss Diedersdorf, Platz drei ging an Merit Büttner. Damit hatten sich drei Berlinerinnen durchgesetzt. Die Siegerin darf nun zum Landesausscheid und könnte sich dort für das Bundesfinale qualifizieren.

Erschienen am 17.10.2008

Bilaterale Entspannung

Mittwoch, 8. Oktober 2008

Post: Ein Zusammentreffen natürlicher Feinde: Briefträger übten den Umgang mit Hunden

Das Verhältnis von Hunden und Postboten ist vielerorts zerrüttet. Man trägt sich gegenseitig Bisse und Revierverletzungen nach. Ein Seminar in Mahlow sollte Abhilfe schaffen

MAHLOW| Warum beißen Hunde bevorzugt Briefträger? An dieser Frage haben sich schon Generationen von Erkenntnistheoretikern erfolglos die Hirnzellen wund gemartert. Es existiert eine Hypothese, die besagt, wenn Stubenhunde, deren Alltags-Temperament der Rubrik „Sofarolle“ zuzuordnen ist, plötzlich gegen jede Gewohnheit nach dem Postillion schnappen, sei eine genetisch bedingte Abneigung gegen Uniformen im Spiel. Andere Kynologen wiederum vermuten, das überkommene Gerücht, der Briefträger nutze die Abwesenheit des Ehegatten, um Hausfrauen nicht nur mit schönen Päckchen zu beglücken, habe unter den Fiffis dieser Welt die Runde gemacht, und sie verteidigten Muttis Ehre an Vatis Statt.
Von solchen epistemologischen Feinheiten mussten sich die 25 Mitarbeiter des Zustellstückpunkts Mahlow gestern früh nicht irre machen lassen. Ihr Interesse war ein ganz handfestes – sie wollten weniger gebissen werden. Nicht, dass das noch an der Tagesordnung wäre: Nur 31 Mal schnappten Vierbeiner in Brandenburg 2007 nach dem Briefträger, ein deutlicher Rückgang zum Jahr davor, als sich noch 63 Mal die Zähne des Haushundes ins Fleisch eines Postboten gruben. „Hunde und Postboten verstehen sich immer besser“, titelte daher die Pressestelle der Post ganz verwegen, und Tiertrainer Jörg Ulbricht wusste auch anzugeben, warum: Weil der Briefträger aus Hundesicht langsam lernt, sich anständig zu benehmen.
Was das heißt, erklärte er den 25 aufmerksam zuhörenden Zustellern an diesem Morgen. Kardinalfehler Nummer eins sei noch immer der Brief- oder Paketwechsel über dem Hund, erinnerte Ulbricht, der in Freital bei Dresden eine Hundeschule betreibt und der für Post in Sachsen und Süd-Brandenburg Seminare gibt. Von fremden Füßen umstellt, fühle sich der Hund eingeengt, und alles, was über seinem Kopf geschehe, mache ihn zusätzlich nervös, so der Trainer. Bei aggressiven Tieren empfahl er Ruhe, auch wenn’s schwerfalle: Keine hektischen Bewegungen, kein Weglaufen. „Wenn sie trotzdem gebissen werden, war’s ohnehin nicht zu verhindern. Aber wenn sie fuchteln oder weglaufen, provozieren sie womöglich einen Biss, den sie sonst nicht bekommen hätten“, erklärte er. „Na toll“, kommentierte eine Zustellerin, „was für eine Auswahl.“ Wer Patentrezepte erwartet hatte, musste zwangsläufig enttäuscht sein. Doch die Tipps und Strategien des Hundetrainers können immerhin das Risiko senken. Wie das Briefing vor einem Geheimdiensteinsatz nahm sich Ulbrichts Gefahrenanalyse aus, zu deren Durchführung er ein typisches Grundstück an die Wand warf und besonders gefährliche Punkte, Aktionsradien, Vermeidungsstrategien und Fluchtweganalysen durchsprach.
Im Praxisteil auf dem Parkplatz des Zustellstützpunkts schärfte Ulbricht den Blick der Teilnehmer für typisches Hundeverhalten anhand eines Schäferhundes und eines Terriers: Die Postboten lernten, Hundeverhalten richtig zu deuten, Angst zu erkennen, Schwanzwedeln nicht misszuverstehen und Drohgesten einzuschätzen. Das beste Mittel, gestand der Trainer, sei immer noch, über Leckerli eine Beziehung zu schwierigen Tieren aufzubauen. Das ist bei der Post aber verboten.
Gut möglich also, dass letztlich doch ein Philosoph das Rätsel der besonderen Vorliebe von Hunden für Briefträger lösen muss, bevor die Post titeln kann: „Hunde und Postboten verstehen sich grundsätzlich blendend.“

Info-Box: Kleine Hundekunde
Um so biss-sicher zu werden wie ein Postbote, empfiehlt es sich, einige Grundregeln zu befolgen:
Hunde fühlen sich vom Eindringen in ihr Revier bedroht, von schnellen Bewegungen oder raschem Entfernen, das als Flucht gedeutet werden kann.
Je höher ein Hund in der Familienrangordnung ist, desto angriffslustiger ist er – er glaubt ja, das Rudel schützen zu müssen.
Angst zu zeigen ist wie eine Einladung zum Angriff, Schreien oder Weglaufen sind daher keine besonders gute Idee.
Auch Drohgebärden, Blickkontakt, Störungen beim Fressen, Weglaufen oder das Entwenden ihres Spielzeugs mögen aggressive Hunde gar nicht.
Der beste Rat ist grundsätzlich, stehenzubleiben und keine Angst zu zeigen, wenn ein Hund auf einen Menschen zukommt. Oft will er ihn einfach nur erschnuppern. Wenn schon Rückzug, dann langsam.

Erschienen am 08.10.2008

Schluss mit lustig

Samstag, 19. Juli 2008

Musik: Deutschlands vulgärste Boygroup Knorkator hört auf

BERLIN 2006 hieß es noch, „Wir werden auf die Kacke hauen, bis man uns das per Gesetz verbietet oder unsere zerfetzten Körper es nicht mehr zulassen.“ Nach Erschlaffung sah es aber zum Auftakt der Knorkator-Abschiedstournee am Donnerstag im Berliner Monbijoupark gar nicht aus: Frontmann „Stumpen“ wirkte wendig und vulgär wie eh und je und eröffnete gut gelaunt mit „Es kotzt mich an“ das zweistündige Konzert, in dessen Verlauf kein Knorkator-Klassiker wie „Ding in die Schnauze“, „Ich hasse Musik“, „Ick wer zun Schwein“ und einige weitere mit nicht zitierfähigen Titeln und Texten folgten.
Die Atmosphäre war trotz mehrerer hundert Gäste im hölzernen Amphitheater familiär. Knorkator, die sich selbst die „etwas andere Boygroup“ nennen, sind eine Band des Entspanntseins: Ohne Konzept, ohne Schuhe, ohne politische Korrektheit. Etwa die Hälfte der Lieder wurde nicht zu Ende gespielt, weil irgendwer daneben griff, „Stumpen“ aus dem Rhythmus kam oder den Text vergessen hatte.
Das passierte ihm besonders gern bei „Westliedern mit englischem Text“ wie seiner Persiflage auf „Highway to Hell“, das er im Falsett als Ballade anlegte. Die Fans lieben Knorkator nicht nur für hintergründige Komik: Sie kommen vor allem, um den Anarcho-Charme der „weltweit meisten Band Deutschlands“ zu genießen.Knorkator machen alles, was anstößt: Sie beschimpfen das Publikum, sie nehmen nichts ernst – sich selbst zum Glück auch nicht –, sie beleidigen jeden, zelebrieren den Ekel und alles Fäkale, lassen an nichts ein gutes Haar. Sie sind wie Riesenbabys, die sich weigern, erwachsen zu werden, aber das mit soviel Charme und Selbstironie und – ja, doch – auch Intelligenz, dass es schon wieder fast reif wirkt. Lange galt die Band aus Berlin als subversiver Geheimtipp. Dann kam der Grand-Prix-Vorentscheid im Jahr 2000, und Deutschland reagierte auf die Provokationen der Spaßrocker, die im ARD-Abendprogramm in Plüschkostümen Möbel zersägten, wie es sollte: beleidigt. Einen größeren Gefallen hätte man der Band kaum tun können. „Soviel Spaß hatten wir selten“, sagte Stumpen.
Nun, nach elf Jahren, ist erstmal Schluss mit lustig. „Es hat einfach Gründe“, ist alles, was von Stumpen an diesem Abend zu den Gründen zu hören ist. Mehr war von einer Band, die nichts ernst nimmt, nicht zu erwarten.

Erschienen am 19.07.2008

Schippern für Flugsäuger

Dienstag, 15. Juli 2008

Spandaus Artenschützer und das Bezirksamt sorgen mit Kreativität für satte Fledermäuse

Spandaus Fledermäuse lebten bislang von Eintrittsgeldern. Als die weggefielen, drohte Hunger. Doch findige Menschen hatten eine Idee: Jetzt leben die Fledermäuse von geführten Bootstouren.

Als der Katamaran zuviel Schlagseite bekommt, begann Gerhard Hanke, öffentlich an seinem Diäterfolg zu zweifeln. Er sitzt von seinem Mitarbeiter begleitet auf der linken Seite, ihm gegenüber sitzen sechs Journalisten. Genau genommen hängen sie in der Luft, denn der Katamaran kippt bedrohlich in Richtung Bezirksstadtrat – auch wenn schnell versichert wird, das Boot sei unsinkbar. Wären die Fotografen nicht an Bord, sie könnten vom Kai aus ein sehr unvorteilhaftes Bild schießen. Doch Spandaus Bildungs- und Kulturstadtrat ist schlagfertig: Es handle sich um sein politisches Gewicht, das für die Einseitigkeit an Bord sorge. Einseitigkeit? Die Pressevertreter dürfen sich was denken.
So munter geht es zu an diesem sonnigen Junimorgen, ein gut gelaunter Stadtrat trifft gut gelaunte Journalisten, die sich eine Stunde lang durch die Sonne schippern lassen, an Bord eines Katamarans, mit dem ab sofort die Kanäle rund um die Spandauer Zitadelle erkundet werden dürfen. Gekauft hat das 12 000 Euro teure Gefährt das Bezirksamt, nutzen dürfen es die Herren vom Berliner Artenschutz-Team (BAT), das in der Zitadelle eine Fledermausstation betreibt.
Es handelt sich quasi um eine Kompensationsleistung: Früher, als die Zitadelle noch ohne Eintritt besucht werden konnte, namen die Artenschützer einen kleinen Obolus am Eingang des Fledermaushauses, damit sie davon Futter für die Tiere kaufen können. Seit kurzem kostet die Zitadelle jedoch Eintritt, und innerhalb der Festung will niemand ein zweites Mal bezahlen. Irgendwo musste aber Geld herkommen, wenn die geflügelten Säuger nicht hungern sollen. Also setzten sich BAT und Bezirksamt an einen Tisch, und so wurde die Idee des Katamarans geboren.
Für geführte Touren entlang der Gräben der mächtigen Zitadelle dürfen die Artenschutz-Freunde nämlich eine geringe Gebühr nehmen, und auch wenn das nicht die Kosten deckt oder die Höhe der Eintrittsgelder erreicht, ist zumindest der Futterstrom für die Fledermäuse vorerst wieder gesichert. 3,50 Euro kostet die zirka 45-minütige Rundfahrt für Erwachsene, ermäßigt werden zwei Euro fällig. Der Katamaran fährt in der Saison (März bis Oktober) samstags immer um 12.30, 13.30, 14.30 und 15.30 Uhr; sonntags dann um 11.30, 12.30, 13.30, 15 und 16 Uhr, in der Woche nach Anmeldung. Jörg Harder vom Berliner Artenschutz-Team kündigte zudem Nachtfahrten an, um die Fledermäuse über dem Wasser beim Jagen zu beobachten. Dazu werden sie mit einem speziellen Rotlicht angestrahlt, dass die Tiere nicht irritiert, aber den Mitfahrern Gelegenheit gibt, die Mini-Vampire bei der Futterbeschaffung zu beobachten. Vermutlich sechs Euro wird die Teilnahme kosten, der 13 Personen fassende Katamaran kann aber auch für Feiern oder Betriebsausflüge gebucht werden. Das alles soll dem Verein zugute kommen, auch Werbung an den Außenseiten ist geplant.
Ein fast unhörbarer Elektromotor treibt das zwei Meter breite Gefährt an, das wie ein umzäuntes Floß auf dem Wasser liegt. Damit kommt der Kapitän sogar durch die engen Stellen im Festungsgraben, ein Tiefgang von nur 40 Zentimeter sorgt dafür, dass das Boot jede Untiefe im zwischen drei Meter und 50 Zentimeter tiefen Graben sicher übergleitet.
Durch geschicktes Umsetzen ist Gerhard Haukes politisches Gewicht mittlerweile neutralisiert, und Jörg Harder steuert sicher durch den Graben auf das Ravelin „Schweinekopf“ zu. Dieser Vorposten der Festung vor dem Graben soll zum Naturlehrpfad umgebaut werden, Bezirksstadtrat Hanke erwägt auch, hier ein offenes Klassenzimmer für die Spandauer Schulen einzurichten. Am Festungstor ist kein Durchlass: Es ist dauerhaft heruntergelassen, und zöge man es hoch, so versperrte weiterhin ein Abwasserrohr den Weg. Der Kamataran muss kehrt machen und fährt die Zitadelle, deren beeindruckende Dimensionen vom Wasser aus erst richtig deutlich werden, von der anderen Seite an.
Jörg Harder jedenfalls ist sichtlich zufrieden: Die Festungsgrabenrundfahrt zum Fledermauslehrpfad ist ganz in seinem Sinne, vereint sie doch touristische Nutzung mit Naturerlebnis und einem tieferen Verständnis für seine zeitweise 10

000 geflügelten Schützlinge, während die Schippergebühr dem Futterhaushalt zugute kommt. Bei soviel Freude nimmt er es auch gern in Kauf, dass beim Unterzeichnen der Nutzungserklärung zwischen dem Bootsinhaber Bezirksamt und dem Nutzer BAT der Kugelschreiber mehrfach vom Tisch rollt: Das politische Gewicht Gerhard Hankes hat trotzdem Nutzen gebracht..

Erschienen am 15.07.2008

Eine noch unentdeckte Welt

Samstag, 28. Juni 2008

Einladung: Madagaskar hofft auf deutsche Besucher: Auf der Insel und in der Botschaft

Die Falkenseer sind stolz auf „ihre“ madagassische Botschaft. An diesem Wochenende dürfen sie einen Blick hinter die Mauern werfen. Anlässe dafür gibt es viele.

FALKENSEE Die Frage kam ganz beiläufig: „Mensch, Werner, du warst schon mal auf Madagaskar?“ Werner schaut irritiert auf seinen Begleiter, der vor einer Infotafel zur Tierwelt der Insel steht. „Nee, wieso?“ „Na da ist doch ein Foto von dir!“ Der Mann tippt auf die wenig schmeichelhafte Aufnahme eines Feuchtnasenaffen, der mit seinen großen Lemurenaugen etwas verschreckt in die Kamera blinzelt. Der Humor dieses Späßchens erschließt sich Werner nicht, und nein, Werner war wirklich noch nicht auf Madagaskar. Das ist nicht nur schade für ihn, sondern auch schade für die Insel, deren paradiesische Landschaft bislang nur von wenigen Touristen besichtigt wurde. Dem abzuhelfen, hat die madegassische Botschaft in Falkensee gestern und heute ihre Türen weit geöffnet. Das Land kann Touristen gut gebrauchen: es ist noch immer bitterarm, es zählt zu den zehn ärmsten Ländern der Erde. Gerade die Deutschen mit ihrer Naturliebe wären da hochwillkommen, sagt Fidy Raharimanana von der Entwicklungsgesellschaft Harson, der an diesen Tagen die Besucherfragen beantwortet. Die viertgrößte Insel der Welt hat auf 600 000 Quadratkilometern vom zentralen Hochplateau über 1600 Kilometer Küstenlinie, Reste tropischer Regenwälder, dicht besiedelte Städte und feuchte wie trockene Savannen einen immensen Landschaftsreichtum zu bieten.

Den Massentourismus suchen die Madagassen trotzdem nicht, denn das sensible Ökosystem – wegen der frühen Abspaltung von Afrika und Indien hat Madagaskar als Mikrokontinent eine eigene und weltweit einzige Flora und Fauna ausgebildet – würde das nur schwer verkraften. Der aus der Armut geborene Umweltfrevel hat schon jetzt den Bestand tropischer Regenwälder auf vier Prozent der ursprünglichen Fläche schrumpfen lassen, viele einzigartige Tier- und Pflanzenarten sind ausgestorben. Nicht nur wegen der Umwelt- und Naturschutzkompetenz sucht Präsident Marc Ravalomanana einen engen Kontakt zu Deutschland, wie Fidy Raharimanana betont: Die Verbindung beider Länder hat auch eine lange Tradition. Vor 125 Jahren schlossen Kaiser Wilhelm I. und die madagassische Königin einen Freundschaftsvertrag, dessen Jubiläum am Donnerstag gefeiert wurde, zusammen mit dem Tag des Endes der französischen Kolonialherrschaft vor 48 Jahren. Genug Gründe also zum Feiern und um die Tore zu öffnen. Der Besucherstrom gestern war schwach, aber stetig. „Wir haben auch nicht damit gerechnet, überrannt zu werden“, sagt Fidy Raharimanana mit einem Augenzwinkern, war aber ob des kontinuierlichen Kommens und Gehens der Falkenseer sehr zufrieden. Die meisten Besucher kamen zu Fuß aus der Nachbarschaft und wollten die Gelegenheit nutzen, mal hinter die Mauern und den hohen Eisenzaun zu blicken. Beim Geruch der Vanilleschoten (Madaskar ist der weltweit größte Produzent), des Kaffees und der Schokolade und beim Schwärmen über die Schönheit der Natur bekamen nicht wenige Lust, den „achten Kontinent“ zu besuchen. Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass auch Werner wirklich noch nach Madagasgar kommt – Feuchtnasenaffen hin oder her.

Erschienen am 28.06.2008

„Der Kanal ist voll!“ – „Ist er nicht!“

Samstag, 17. Mai 2008

Bürgerprotest: Auf der Krisensitzung zu feuchten Kellern vertieften sich die Gräben, und neue taten sich auf

FALKENSEE Falls es noch eines Beleges bedurft hätte, dass die Stadt Falkensee das Problem der nassen Keller unterschätzte, ein Blick ins Hotel „Kronprinz“ hätte am Donnerstag genügt: Der Saal war viel zu klein, viele Zuhörer standen auf dem Flur, auf den Treppen oder sogar draußen unter dem offenen Fenster. Die Temperatur war hoch, die Luft stickig, die Stimmung explosiv. Das kalte Wasser – Thema des Abends – blieb dabei abstrakt: Wovon die meisten zuviel hatten, hier hätte es sich mancher gewünscht.

Mit großem Podium hatte sich die Stadt den seit Wochen klagenden Bürgern gestellt: Neben Bürgermeister Heiko Müller und den betroffenen Amtsleitern waren auch die Spitzen des Wasser- und Bodenverbandes (WBV), des Kreisumweltamtes und des Wasserverbandes dabei. Weit kamen sie mit ihren einführenden Worten freilich nicht. Anke Pingel vom Landesumweltamt wurde bereits nach zwei Sätzen unterbrochen, in denen sie erklären wollte, dass es immer mal wieder Jahre mit extrem viel Niederschlägen gebe. „Das wissen wir alles. Das Problem ist aber, dass die Gräben nicht mehr funktionieren“, rief ein Teilnehmer aus dem Falkenseer Ortsteil Waldheim. Andere fielen ein, und unter den Zuhörern kam Stöhnen auf, wenn das Wort Waldheim fiel. Von einer Bürgerversammlung aufgeputscht, waren die Waldheimer in Scharen gekommen und schienen wild entschlossen, ihre Probleme zum Hauptthema zu machen. Das ging eine Weile gut, dann platzte jemandem der Kragen. „Wir reden hier nicht nur über Waldheim. Waldheim ist eine Sumpfwiese, wer da baut, weiß, was ihm blüht“, rief er, und im sich nun entspannenden Wortgefecht hatte das Expertengremium erstmal Sendepause.

Kreisumweltdezernent Henning Kellner schließlich gelang es mit einer geschickten Wendung, sich Aufmerksamkeit und sogar etwas Sympathie zu verschaffen: Er räumte Versäumnisse ein. „Wir haben in den letzten 13 Jahren Gräben vernachlässigt, Flächen zu sehr verdichtet und auch Gräben aufgegeben. Es gibt keine Linderung, wenn wir nicht weitere Entwässerungsanlagen bauen und die bestehenden in einen besseren Zustand bringen“, sagte er und forderte sowohl die Unterstützung des Landes als auch die Initiative der Hauseigentümer ein. Für ein paar Minuten waren Waldheim und der Rest Falkensees wieder vereint.

Das gab sich. Schon als WBV-Geschäftsführer Horst Jorgas anhob, er habe 2116 Kilometer Gräben zu unterhalten, aber nur 26 Mitarbeiter, die jetzt schon restlos überlastet seien, schlug ihm wieder hörbarer Unmut entgegen. Dass und warum die Lage kaum zu bessern ist, wollte im „Kronprinz“ niemand hören, und Jorgas’ Zugeständnis, viele Gräben seien in katastrophalem Zustand, quittierte das Publikum nur mit Hohn. „Ihre Probleme sind uns Wurst! Tun sie etwas“ riefen ihm die Waldheimer zu, und sofort taten sich auch die Gräben im Auditorium wieder auf, die sich im Gegensatz zu denen fürs Grundwasser im Laufe des Abends stetig vertieften. Nun nahm die Debatte zuweilen skurrile Züge an: Einer forderte den Austritt aus dem Wasser- und Bodenverband, ein anderer wollte die Einführung eines Wasserwirtschaftsministeriums erzwingen und eine Frau bekannte, ein trockener Keller sei ihr wichtiger als jedweder Umweltschutz. Als sich dann zwei Herren hochroten Kopfes wechselseitig quer über den Saal zuriefen „Der Kanal ist voll!“ – „Nein, ist er nicht!“, war zumindest für Heiko Müller der Kanal voll: Er nahm seine Mitarbeiter in Schutz, die teilweise harsch und persönlich angegriffen wurden, versprach „weiterhin alles Menschenmögliche“ zu tun, um das Problem zu mildern, kündigte an, sich mit der Bahn in Verbindung zu setzen, weil der Waldheimer Manfred Eckert einen zu hoch gelegenen Durchlass an der ICE-Strecke als Ursache für die Überschwemmungen ausgemacht hatte und wischte im Übrigen die Drohung Betroffener vom Tisch, sie ließen sich die Sanierungskosten von der Stadt zurückzahlen: „Da mache ich ihnen rechtlich wenig Hoffnung.“ Dann löste er die Versammlung nach zweieinhalb Stunden auf, und alle gingen recht unbefriedigt nach Hause. Bis auf den Herren, der Flugblätter für einen Falkenseer Pumpenhändler und Abpumpservice verteilt hatte. Er lächelte.

Erschienen am 17.05.2008

Kratzen am Kohlrabi

Samstag, 10. Mai 2008

Esskunst: Karsten Kindler fertigt filigrane Wunderwerke aus gewöhnlichem Gemüse

Um eine Chrysantheme aus einem Kohlrabi zu befreien, braucht es Geschick, Konzentration und Hingabe. Doch der Aufwand lohnt, wie ein Nauener täglich beweist.

NAUEN Die chinesische Distel ist die schwerste. Ihre filigranen Strukturen bringen selbst hartgesottene, beherrschte asiatische Meister zum Fluchen. Nicht so Karsten Kindermann. Kindermann liebt seine chinesische Distel – auch wenn, so darf vermutet werden, selbst ihm nicht gleich jede gelang. Doch Kindermann ist ein Perfektionist am Messer, und je kniffliger die Aufgabe, desto konzentrierter und motivierter geht der Nauener zu Werke. Das Ergebnis bringt ihm regelmäßig viele „Ahs“ und „Ohs“ ein, und neben der Reputation des Restaurants, in dem der Koch arbeitet, hebt es auch den Pegel von Kindlers Taschengeldkasse, denn der 45-Jährige beliefert auf Wunsch auch private Feiern oder Firmen mit seiner essbaren Filigrankunst.

Die meisten und lautesten Entzückensrufe erntet Kindermann, wenn er, hochkonzentriert und etwas entrückt wirkend, auf der Grünen Woche die im Kohlrabi verborgenen Chrysanthemen oder die zartblättrigen Rosen aus dem Radieschen freilegt. Dort ist meist viel Trubel am Stand. Trubel, der den eher zurückhaltenden Kindermann fast schüchtern wirken lässt. Dann schiebt er das 32-teilige Spezialmesserset, das ein wenig an die Werkzeuge von Linolschneidern erinnert, und seine Werkstücke zwischen sich und die Welt. Karsten Kindermann tritt gern hinter seinen Werken zurück.

Wie jedes Kunstwerk, sind auch die Rettichrosen, die Ananasvasen, die Kohlrabitauben und das Zucchini-Laub von der Vergänglichkeit bedroht – nur schneller. Höchstens zwei Tage hält sich Kindlers Können, und auch das nur, wenn es feucht gehalten und kühl aufbewahrt wird. „Essen mögen sie das dann aber auch schon nicht mehr“, sagt der Nauener trocken. Deshalb fertigt er für jede Bestellung frisch am jeweiligen Tag. Lediglich an den Kürbissen kann der Besteller auch mal länger Freude haben. Aber eigentlich, sagt Kindler, ist das ja auch nicht der Sinn der Angelegenheit – die Vergänglichkeit gehört wie bei einer Eisskulptur dazu. Und echte Blumen halten schließlich auch nicht ewig.

Sein Erweckungserlebnis hatte Karsten Kindler vor zehn Jahren auf einer Lebensmittelmesse, wo der mehrfache Weltmeister Xiang Wang für sein Gemüseschnitz-Messerset warb. Schwer beeindruckt, versuchte Kindler zu Hause auf eigene Faust das nachzumachen. „Kann man vergessen“, lautete sein Fazit, und so importierte er sich zwei chinesische Lehrbücher, von denen er zwar kein Wort verstand, aber die Bilder studierte. So ging es schon besser, und nach mehreren Lehrgängen beim Meister – Kindler besuchte jeden Kurs, den Xiang Wang anbot – entwickelte er jene Perfektion, die selbst die asiatischen Profis mittlerweile anerkennen.

Dort, in Asien, hat das Gemüseschnitzen eine Jahrhunderte alte Tradition, es prägten sich verschiedene Stile aus. Die Chinesen etwa, erzählt Kindler, benutzen hunderte hochspezialisierter Werkzeuge, in Thailand hingegen wird nur mit dem Messer geschnitzt.

Karsten Kindler geht einen Mittelweg. In seinen Kursen, die er für Senioren oder anderweitig Interessierte anbietet, lehrt er nur jene Figuren, die auch mit dem Küchenmesser zu bewältigen sind, denn kaum jemand gibt mehrere hundert Euro für Spezialwerkzeug aus. Doch Filigranes wie seine Distel könnte er ohne Hilfsmittel nicht aus einem schnöden, runden Kohlrabi befreien.

Nach mehr als zehn Jahren Übung hat der Nauener nun so ziemlich alles geschnitzt, was die einschlägigen Bücher zeigen. Selbst Tiere sind keine echte Herausforderung mehr, weshalb Karsten Kindler vermehrt zu Eigenkreationen wie extravaganten Halloweenkürbissen oder exklusivem Gemüseschmuck für Themenbuffets übergeht.

Info: Tel. (03321) 83 58 46 oder (0177) 64 64 963

Erschienen am 10.05.2008

Mehr Sicherheit dank teurer Technik

Samstag, 19. April 2008

Feuerwehr: Neue Drehleiter übergeben / Stadt konnte sparen

Die Vorgeschichte war lang, doch das Warten lohnte: Falkensee hat eine neue Drehleiter – und noch gespart.

FALKENSEE Wenn Männeraugen wie die von Kindern strahlen, gibt es nur zwei Möglichkeiten: Der Sohn bekommt die Eisenbahn geschenkt, die Papa nie hatte, oder die Feuerwehr ein neues Auto. Letzteres war gestern in Falkensee zu beobachten: Gestandene Männer in Uniform, die sich an Größe und Kraft ihres neuen Drehleiterfahrzeugs begeisterten, die an jedem Hebel ziehen und jeden Knopf drücken mussten, dazu ein Maschinist, der in bester Captain-Kirk-Manier auf seinem Kommandosessel vor Schalttafeln und Bildschirm thronte, per Funk den Überblick behielt und die lokale Prominenz mit einem Finger fast geräuschlos in luftige Höhen von 30 Metern und wieder auf den Boden der Tatsachen zurückbeförderte.

Zunächst galt es aber, auf das edle Stück zu warten. Stadtbrandmeister Michael Sahr begann daher mit seiner Rede, in der er das neue Fahrzeug das größte Ereignis seit der 100-Jahr-Feier der Wehr im Jahr 2004 nannte. Er erinnerte an das lange Ringen um die Drehleiter, an den Stadtverordnetenbeschluss von 2006, in dem man sich schweren Herzens zu der Investition von 650 000 Euro entschloss, an die Freude über die Ernennung zur Stützpunktfeuerwehr, die das Vorhaben förderfähig machte und der Stadt in Kombination mit der Sammelbestellung des Landes fast 400 000 Euro sparte – Geld, das nun für anderen Feuerwehrbedarf ausgegeben werden kann.

Die Rede war durch, doch von der Drehleiter noch keine Spur. Die Damen brachten Sekt, die Kameraden traten von einem Fuß auf den anderen, erste Witze machten die Runde: Altbürgermeister Jürgen Bigalke, der mit an Bord saß, genieße die Aussicht über seine Stadt wohl zu lange. Die Musik spielte „Triumpfwagen des Feuers“ und niemandem fiel mehr ein Grußwort ein, da bog sie endlich mit Blaulicht um die Ecke, und in den Augen der Feuerwehrmänner stand nur noch ein Wort: Bescherung!

Erschienen am 19.04.2008

Ein bisschen anachronistisch

Samstag, 9. Februar 2008

Nostalgie: Der ehemalige „Chor der Parteiveteranen“ hat die Wende überlebt und so manchem Mitglied das Weltbild gerettet

Sie sind im Durchschnitt 72 Jahre alt, und sie proben im Sitzen – doch die Stimmen des einstigen Parteichors sind noch ungebrochen.

BERLIN Beim 60. Jahrestag der Gründung der DDR-Grenztruppen haben sie auch gesungen. Die liebevoll geführte Chronik vermerkt es genau: Es war am 1. Dezember 2006 in Strausberg (Märkisch-Oderland). Der ehemalige DDR-Verteidigungsminister Heinz Keßler war dabei und andere ranghohe Ex-NVA-Leute. Der Ernst-Busch-Chor sang das „Einheitsfrontlied“ von Brecht. „Bisschen anachronistisch“ findet Jochen Fischer das beim Durchblättern der Chronik, und auch historisch nicht korrekt: 1946 gab es die DDR noch nicht. Aber Fischer ist ja auch nur hier, weil er jeden Dienstag seine Frau zur Chorprobe bringt, wie er betont.
Die probt mit etwa 50 anderen Mitgliedern des Ernst-Busch-Chors im Kulturhaus Berlin-Karlshorst gerade einen russischen Walzer. Gäbe es hier nicht modernes Mobiliar, man könnte glauben, es habe die Wende nie gegeben. Das ist den meisten Chormitgliedern durchaus willkommen. Schließlich hieß das Ensemble bis zur Wende „Chor der Parteiveteranen der SED“ und unterstand direkt der SED-Bezirksleitung. Um Mitglied zu werden, bedurfte es 25-jähriger Parteimitgliedschaft, davon mindestens 15 Jahre als Funktionär.
Dass der Chor die Wende überhaupt überlebte, verdankt er vornehmlich Rolf Stöckigt. Der frühere Professor für die Geschichte der Arbeiterbewegung kam 1987 mit seiner Pensionierung zum Ensemble und freute sich auf einen ruhigen Lebensabend. Der November 1989 machte einen Strich durch diese Rechnung: Stöckigt wurde Vorsitzender und musste die Sänger durch die Wendewirren dirigieren. „Der alte Vorstand tat sich schwer, die waren ohne Anleitung durch die SED völlig hilflos“, erinnert er sich. Gegen einige Widerstände boxte Stöckigt, der noch heute im Vorstand wegen seiner liberalen Haltungen kritisiert wird, die neue Satzung durch: Die parteipolitische Unabhängigkeit sicherte das Überleben des Chores. Auch im Repertoire räumte er auf: „,Die Partei, die Partei, die hat immer recht’, das haben wir ersatzlos gestrichen. Stattdessen singen wir jetzt ,Die Gedanken sind frei’“, sagt der 86-Jährige. Seit dem Jahreswechsel ist Rolf Stöckigt kein aktiver Sänger mehr. Nicht, weil die Stimme nicht mehr mitspielt, sondern weil ihn seine Beine nicht mehr lange genug tragen. Er ist mit diesem Problem nicht allein: Der Chor probt im Sitzen, das älteste Mitglied ist 99, das jüngste 60 Jahre alt, das Durchschnittsalter liegt bei 72. Chorleiter Klaus Hartke, der früher beim Ernst-Weinert-Ensemble, der „Musiktruppe der NVA“ arbeitete, sagt, er müsse neue Lieder abschleifen, ihnen die Höhen und Tiefen nehmen, weil die alternden Stimmen mit dem Neuen nicht so gut zurechtkommen. „An der Stimmgewalt mangelt es aber nicht, die muss ich eher bremsen.“ Das 250 Lieder starke Repertoire hat er behutsam erweitert. Neben die Kernkompetenz der Arbeiterlieder – am liebsten von Hanns Eisler – sind Volkslieder und klassische Chöre getreten, sogar das eine oder andere Kirchenlied hat sich eingeschlichen. „Das Publikum soll ja bedient werden“, sagt Hartke, als wolle er sich entschuldigen. Die Parteilieder der SED probt er hingegen nicht mehr, „das wäre irreal“, auch nicht die Grenzerlieder aus seiner Zeit als Oberst der Nationalen Volksarmee,, „obwohl einige davon sehr schön sind“, wie er betont.
Rolf Stöckigt mag keine Interviews. Die zahlreichen Journalisten, die immer noch anfragen, kommen meist nur, um sich lustig zu machen über die ewig Gestrigen. „Die wollen gar nicht wahrhaben, dass wir nur noch ein antifaschistischer Chor sind, der Wert legt auf seine Tradition aus der Arbeiterbewegung.“ Dass es je ein Arbeiterchor war, darf aber bezweifelt werden: Auf der Mitgliederliste stehen ein Ex-General beim Wachbataillon, Offiziere, Ex-Generaldirektoren von Kombinaten und Wissenschaftler.
Seiner Linie ist der Chor treu geblieben. Neben etwa 25 Konzerten pro Jahr vermerkt die Chronik, die stets ein bisschen an Wandzeitung erinnert, auch Spendensammlungen für Kuba, eine Grußnote an Täve Schur zum 75., das „Lob des Revolutionärs Ernst Thälmann“ und die Forderung, das KPD-Verbot aufzuheben.
Immer häufiger sind auch Traueranzeigen ehemaliger Mitglieder eingeklebt und Fotos vom Singen an deren Gräbern. Während sie vorn „Conquest of paradise“ proben, erzählt Rolf Stöckigt, dass einige Mitglieder in Chorkleidung beerdigt werden möchten. In einer Uniform, die sie mit den Genossen verbindet, die noch immer, wenn nicht gar stärker als zu DDR-Zeiten, zusammenhalten. Genossen, die eine Welt pflegen, die nur noch in ihren kollektiven Erinnerungen und den Liedern besteht. Sie haben ihr Paradies nach der Wende nicht erobert – aber verteidigt.

Info-Box: ERNST-BUSCH-CHOR
Der „Chor der Parteiveteranen der SED“ wurde 1972 gegründet. Er entstand im Rahmen der Singebewegung.
Die SED fand schnell Gefallen an dem Ensemble, unterstützte es finanziell und unterstellte den Chor schließlich der Bezirksleitung in Berlin.
1983 benannte sich der Chor nach dem Schauspieler, Regisseur und Sänger Ernst Busch, der unter anderem durch seine Interpretationen von Arbeiterliedern Ruhm erntete.
Busch zu Ehren gibt der Chor noch heute jährlich ein großes Konzert an oder um Buschs Geburtstag, dem 22. Januar.
Rund 4000 Menschen hören den Chor jährlich – bei fünf eigenen Konzerten und zahlreichen Gastauftritten, etwa dem Pressefest des „Neuen Deutschland“.
2008 erscheint die dritte CD des Chors.

Erschienen am 09.02.2008


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