Jede Taste, selbst die kleinste Luftklappe für das größte aller Instrumente werden in der Sieversdorfer Werkstatt per Hand gefertigt: Orgelbauer Christian Scheffler ist weltweit gefragt.
Im Grunde ist Christian Scheffler päpstlicher als der Papst. Denn Wilhelm Sauer, der geniale Orgelbauer, dessen Lebenswerk Scheffler und seine 16 Mitarbeiter noch heute ernährt, würde wohl längst mit modernen computergesteuerten Fräsen die Teile seiner Orgeln fertigen lassen. Doch das ist etwas, vor dem Scheffler zurückschreckt. Er schüttelt sich schon demonstrativ, wenn er es nur erwähnt. Und er tut gut daran: Christian Schefflers Orgelbaubetrieb im beschaulichen Sieversdorf (Märkisch-Oderland) ist weltweit gefragt, wenn es um die Restaurierung berühmter romantischer Orgeln geht – vorrangig solcher aus Sauerscher Produktion, aber nicht nur. Einer von vielen Gründen dafür dürfte sein, dass in Schefflers Werkstatt noch alles von Hand gefertigt wird: jede Taste, jedes Register, jede kleinste Luftklappe für das größte aller Instrumente.
Die Qualität aus der Mark hat sich mittlerweile herumgesprochen in den Zirkeln der Kirchenmusik: Mit den Orgeln im Bremer Dom, im Dom zu Tallinn (Estland), in der Leipziger Thomaskirche, der Pfarrkirche im rumänischen Sibiu (Hermannstadt) sowie im norwegischen Trondheim hat Christian Scheffler nahezu alle großen Sauerorgeln Europas restauriert. Lediglich die allergrößte im Berliner Dom fehlt in der Sammlung des umtriebigen Sieversdorfer Orgelbauers. Die Herausforderungen gehen Scheffler deshalb aber nicht aus. Die jüngste ist der komplette Neubau einer 1400 Pfeifen umfassenden Sauerorgel. Eine Stilkopie, nach Sauers Plänen, Sauers Prinzipien und Sauers Materialvorgaben; eine Orgel für Hafnarfjord. Hafnar-fjord in Island, 20 Kilometer vor den Toren Reykjaviks.
Die Anfrage erreichte Sieversdorf auf verschlungenen Pfaden. Der Leipziger Orgel-Professor Stefan Engels erhielt einen Anruf von einem ehemaligen Schüler, der in den USA bei ihm studiert hatte. Der Schüler war mittlerweile wieder in seine isländische Heimat zurückgegangen und hatte als frisch eingestellter Kantor nun den Auftrag für eine romantische Orgel im historischen Stil zu vergeben. Stefan Engels verwies ihn nach Sieversdorf, denn viele „seiner“ Leipziger Orgeln künden mit jedem Ton vom Geschick Christian Schefflers, der im Sauerschen Betrieb das Handwerk lernte.
Scheffler, der schon einiges von der Welt gesehen hat, musste nach dem Anruf des jungen Isländers erstmal den Atlas aus dem Regal fischen. Als er ihn wieder zuklappte, wusste er, dass Hafnarfjord an der Westküste der Insel direkt am Atlantik liegt, 25000 Einwohner hat und offenbar nicht zu den ärmsten Gemeinden gehört. Solch einen Neubau zu finanzieren, sagt er, davon könnten die meisten Brandenburger Gemeinden nur träumen. Zumal sich die isländische Kirchgemeinde zeitgleich bei einer Leipziger Firma auch noch eine große Barockorgel bauen lässt.
Dass es herzliche, überaus musikbegeisterte und mit Vorfreude auf das Instrument geradezu übervolle Menschen sind, lernte Christian Scheffler im April dieses Jahres vor Ort in Island. Für ein solides Angebot, dass die Größe der Kirche, deren klangliche Eigenheiten ebenso einbezieht wie die Wünsche des Organisten ist ein Vor-Ort-Termin unerlässlich, sagt er. Schnell war man sich handelseinig, und schon auf dem Rückflug erteilte Christian Scheffler erste Bauanweisungen an seine Mitarbeiter. Der Zeitplan nämlich ist eng: Spätestens zum zweiten Advent soll die Orgel das erste Mal erklingen.
So wurde den Sommer über emsig gewerkelt in Sieversdorf: Statt baden zu gehen und Luftmatratzen aufzublasen galt es, Holzpfeifen zu schreinern, Klaviaturen zusammenzusetzen, Metallpfeifen zu intonieren und Luftklappen zu leimen. Dann verluden die Orgelbauer alle Teile in große Kisten, die wiederum in einen Container gehievt wurden und auf dem Atlantik ihrem Bestimmungsort entgegenschwammen. Ende September legte das Schiff dort an. Christian Scheffler und drei Mitarbeiter nahmen die Fracht in Empfang und begannen, alles zu einem Ganzen zusammenzusetzen – zum ersten Mal. Für den kompletten Aufbau in der Orgelwerkstatt fehlten der Platz und die Zeit. „Für Überraschung ist also noch genug Raum“, sagt Scheffler trocken. Erfahrung und Vertrauen in die Qualität seiner Arbeit machen ihn zuversichtlich genug für solche Scherze, bei denen seine Mitarbeiter gern etwas zusammenzucken.
Was unterscheidet eine romantische Orgel von den meist barocken, die jedem sofort in den Sinn kommen? Der Märker, sagt Scheffler, kennt ja vorrangig jene mit romantischem Anteil: Zwei Drittel aller Instrumente in Brandenburg sind nämlich nach 1870 entstanden oder umgebaut worden und haben die damals übliche romantische Prägung in die Pfeifen gelegt bekommen.
In fast jeder Epoche bildet die Orgel – von der Spielweise ein Tasteninstrument, von der Klangerzeugung ein Blasinstrument – das zu ihrer Zeit typische Instrumentarium nach: Im Barock waren es Flöten, Gamben und Principale, und so heißen dann auch die Pfeifen der Barockorgel; in der Renaissance entlockte der Organist seinem Instrument Schalmeien-, Dudelsack- und Trompetenklänge. In der Romantik waren vor allem Klänge gefragt, die dem ähneln, was Menschen singen können.
So hat jede Orgel auch die Musikentwicklung ihrer Epoche geprägt: Die französische Romantik, aber auch Max Reger und Franz Liszt wären ohne romantische Orgeln nicht denkbar, sagt Scheffler. Zwar klinge auch Bach darauf wundervoll, doch warne er vor dem Umkehrschluss: Der Versuch, Liszt auf einer Barockorgel zu spielen, sei meist zum Scheitern verurteilt.
Und: Romantische Orgeln haben ihre Tücken. Selbst auf guten gibt es unter den tausenden von möglichen Klängen fünf oder sechs, die der Spieler vermeiden sollte. „Ich kenne allerdings hoch gelobte Organisten, die finden auf so einer Orgel mitten im Konzert zwölf neue, unmögliche Töne“, erzählt Christian Scheffler und wirft die Stirn in Falten, als fahre ihm gerade ein solcher Ton ins Ohr. „Das ist dann nicht eben erhebend“, stöhnt er, als litte er Schmerzen.
Trotz aller Routine und obwohl Scheffler vom Umfang schon weitaus größere Aufträge bewältigte, hat ihn diesmal ein besonderes Fieber gepackt: „Ein reiner Neubau, also alles aus einem Guss zu erschaffen, das hat schon ein spezielles Flair.“ Historische Orgeln sind gereift, in Würde gealtert – „patiniert“ nennt Scheffler das –, sie haben sich abgeschliffen. Den Obertönen fehlt das unangenehm Metallische, das gealterte Holz lässt die tiefen Register wärmer klingen und auch das Raumklima und die Spielweise des Organisten haben sich ins Instrument gegraben. Die Herausforderung für den Orgelbauer als Restaurator besteht dann darin, dafür zu sorgen, dass ausgetauschte Register, Laden und Pfeifen nicht klingen wie ein Saxofon im Barockorchester: schreiend deplatziert.
Ein komplett neues Instrument erfordert solche Anpassungen nicht: Scheffler kann sich ganz auf den bestmöglichen Klang konzentrieren. Zu erleben, wie das Orgel-Neugeborene im Laufe seines Lebens einen Charakter entwickelt, kann eine unübertreffliche Freude sein, sagt er.
Vielleicht sind es jene Freuden, die Scheffler davon abhalten, moderne Orgeln zu bauen. Die können, das räumt er ein, vieles, was auf Sauer-Orgeln noch undenkbar ist, doch er baut lieber mit der Technologie und im selben Stil wie vor 100 Jahren und dem Anspruch, den damaligen Zeitgeschmack zu treffen. Mag sein, dass der alte Sauer mit dem Kopf schüttelte, wenn er das sähe: Der Meister blieb für Neues offen, rüstete noch in reifen Jahren von mechanischen Kegelladen zu pneumatischer Steuerung um und fertigte als echtes Kind der Industrialisierung Orgeln in Serie. Christian Scheffler würde ihm entgegnen, die technische Konstruktion seiner – Sauers – Orgeln, deren Steuerung, diese Klangidee zwischen Orgelklang und Hochromantik, das alles sei so modern und in sich so genial – „der Rolls-Royce unter den Orgeln dieser Zeit“ – dass er keinen Grund erkennen könne, auch nur den kleinsten Filz zu ändern. Da ist er, wie gesagt, päpstlicher als der Papst.
Erschienen am 25.10.2008
Gefällt mir:
Gefällt mir Wird geladen …