Archiv für die Kategorie „Toast & Honig“

Gestolpert

Freitag, 21. November 2008

Jan Bosschaart über einen Unternehmer, der sich selbst demontiert

Was da gestern Nachmittag in Zossens Berliner Straße zu beobachten war, war nicht weniger als die öffentliche Selbstdemontage eines Gewerbetreibenden und Bürgers. Denn es gibt kein vernünftiges Argument gegen die Stolpersteine – es sei denn, man ist Antisemit, Holocaust-Leugner oder sonstwie rechtsextremen Überzeugungen anhängig. Ob das auf den Unternehmer zutrifft, steht dahin. Den Verdacht hat er jedenfalls erfolgreich geweckt. Geschäftsschädigend sind nicht die Steine, sondern das Gebaren des Mannes, der sich nicht zu schade war, eine von der absoluten Mehrheit der Zossener Stadtverordneten und der Bevölkerung getragene Aktion nach Kräften zu sabotieren, und der, da er keine Argumente zu nennen wusste, in hilfloser Wut zum Schubsen, Zerren, Brüllen und zum Entreißen von Kameras griff. Auf offener Straße, wohlgemerkt, unter den Augen von Passanten und Kunden. Gebracht hat ihm das außer einer Anzeige und einer eklatanten Rufschädigung nichts: Die Steine ruhen wie geplant im Pflaster. Der „Medienkombin@t“-Betreiber aber ist darüber gestolpert. Das ist nicht ohne Ironie: Eigentlich dienen die Stolpersteine dazu, Antisemitismus vorzubeugen. Dass sie ihn zuweilen aus dem Dunklen ans Licht zerren, ist ein eher unerwarteter Effekt.

Erschienen am 21.11.2008

Kallinchens radelndes Uhrwerk

Mittwoch, 19. November 2008

Menschen: Leser loben zuverlässige MAZ-Zustellerin

KALLINCHEN| „Eigentlich“, sagt Hannelore Siecke, „bin ich ja Langschläferin“. Das ist schwer vorstellbar, denn sechsmal pro Woche klingt ihr Wecker um 3.45Uhr – eine Uhrzeit, die viele Menschen bestenfalls mal an Silvester mit eigenen Augen auf dem Display sehen. Doch sie hat sich halt dran gewöhnt, die 62-Jährige aus Kallinchen.
Um 4.30Uhr kommen die Zeitungen an. Dann holt Hannelore Siecke ihr Fahrrad aus dem Schuppen. Wenn es nach Regen aussieht, packt sie die druckfrischen Blätter in Plastiktüten. „Ich mag das nicht, wenn die Zeitung nass auf dem Frühstückstisch liegt“, sagt sie. Dann geht es zuerst die Hauptstraße runter, in die Töpchiner Straße, die Burgstraße, die Straße zur Försterei, schließlich die andere Hälfte der Hauptstraße entlang, in die Seestraße und die Nebenwege. Etwa 70 Mal steigt Hannelore Siecke ab und wirft die MAZ ein, manchmal auch mit MazMail geschickte Post. Das macht sie mit der Präzision eines Uhrwerks. Nicht wenige Kallinchener stellen morgens ihre Uhr nach Hannelore Siecke. „Wenn ich mal krank werde, kommen alle zu spät zur Arbeit“, scherzt die Zustellerin. Das muss niemand fürchten: Nur einmal in zwölf Jahren fiel sie aus, und natürlich stand eine Vertretung bereit. Urlaub braucht Hannelore Siecke auch nicht, jedenfalls nicht fern der Heimat. „Kallinchen ist so schön, wir haben Seen, Wald und Hügel, warum sollte ich da weg?“ fragt sie, und ihr Blick verrät, dass das nicht ironisch zu verstehen ist.
Wenn es ausnahmsweise doch mal nicht ganz auf die Minute läuft, sind die Umstände schuld: Bei Eisglätte kommt der Fahrer oft später, und einmal entleerte der Dorn einer Akazie das Vorderrad ihres Drahtesels. Da ging Hannelore Siecke eben zu Fuß, ein Bekannter nahm sich derweil des platten Reifens an. Soviel Engagement wissen die Leser in Kallinchen zu würdigen: Nicht nur, dass sie ihre Zustellerin bei der MAZ lobten, bei nasskaltem Wetter bietet auch mal jemand einen Kaffee und im Sommer ein Glas Mineralwasser an.
Wo bei diesem Arbeitseifer eigentlich der Spaß bleibt? „Den habe ich“, sagt Hannelore Siecke – weil sie gern unterwegs ist, gern Menschen trifft und gern in der Natur ist. Nur einen Luxus gönnt sie sich ab und an: Wenn „In aller Freundschaft“ über die Mattscheibe flimmert, bleibt sie bis 22 Uhr statt bis 20.15Uhr auf. Dann ist sie morgens zwar müde, aber sie steht keine Sekunde später auf. Langschläfer hin oder her.

Erschienen am 19.11.2008

Mehr Integration, weniger Medienkonsum

Mittwoch, 12. November 2008

Jugendkriminalität: Experten, Helfer und Betroffene suchten nach Antworten

Wie lässt es sich verhindern, dass in Frankreich die Vorstädte brennen und in der Münchner U-Bahn Jugendliche einen Mann fast zu Tode prügeln? Die Stiftung Genshagen lud deutsche und französische Experten zur Debatte ins Schloss.

GENSHAGEN| Die Idee zur Debatte ist schon drei Jahre alt: Als in Frankreich Ende 2005 die Banlieues brannten, reifte in der Stiftung Genshagen der Gedanke heran, ein Austausch über Jugendgewalt könnte für Franzosen wie Deutsche gewinnbringend sein. Angezündet wurden die Vorstädte damals von wütenden Jugendlichen – meist mit Migrationshintergrund -, die ihren Gefühlen von Chancenlosigkeit und Ausgrenzung mit Streichholz und Baseballschläger Ausdruck verliehen. Der Plan der Stiftung, die sich der deutsch-französischen Zusammenarbeit in Europa verschrieben hat, erwies sich nahezu als prophetisch. Nicht zuletzt wegen der Münchner U-Bahn-Schläger und weil Jugendkriminalität in Hessen zum Wahlkampfthema wurde, erreichte die Debatte auch Deutschland. Die Ausrichtung der Tagung in Genshagen indes scheiterte zunächst an Förderhürden, wie Noémie Kaufman, Projektleiterin der Stiftung, bedauerte. Doch das Warten lohnte: Am Wochenende trafen sich 75 Wissenschaftler, Sozialarbeiter, Polizisten, Staatsanwälte, Lehrer und Integrationsbeauftragte, um sich über den Umgang mit Jugendkriminalität auszutauschen. Das Publikumsinteresse war groß, auch hochkarätige Referenten sagten gern zu. Darunter Jean-Yves Camus, Frankreichs bekanntester Experte für Rechtsextremismus und Christian Pfeiffer, ehemaliger niedersächsischer Innenminister und heute Professor und Direktor eines kriminologischen Forschungsinstituts.
Große Namen sichern breite Aufmerksamkeit, bergen aber auch Gefahren, wie sich am Freitagabend zeigte. Christian Pfeiffer, der sich etwas verspätete, platzte in eine bereits laufende, aber recht unemotional plätschernde Debatte: Man war sich in vielem einig. Der streitbare Pfeiffer hingegen riss sofort die Aufmerksamkeit an sich. Er sagte zwar nichts, was er nicht auch sonst bereitwillig in Kameras und Journalistenblöcke diktiert, aber er sagte es mit einer Schärfe und Gewissheit, als gäbe es keine offenen Fragen mehr: dass Migrantenkinder, speziell türkische, deutlich häufiger zu Gewalt neigen; dass sie meist weniger gebildet, aber nicht dümmer sind, sondern nachweislich nur nicht gefördert und integriert wurden; dass Misshandlung und übermäßiger Medienkosum bei Kindern kriminelle Karrieren deutlich befördern; dass Computerspiele von großem Übel und die Hauptschule wie die Pest zu meiden sei; dass in Niedersachsen alles besser und in Berlin alles ganz besonders schlimm sei. Doch er wusste auch Rat: Nicht auf die Politik hoffen, den Medienkonsum reduzieren, bürgerschaftliches Engagement wagen, Integration fördern, dann klappt’s auch mit den Gewalttätern. Ein Integrationsbeauftragter im Publikum wagte den Einwand, dass ihm diese Sicht zu einseitig und „verkrampft optimistisch“ erscheine und wurde von Pfeiffer harsch abgekanzelt. Der ebenfalls anwesende Direktor der Berliner Rütli-Schule – mittlerweile eine Vorzeigeeinrichtung – sah zwischendurch aus, als wolle er platzen, bemeisterte sich aber und betonte am Ende nur sarkastisch, es sei doch schade, dass der Herr Pfeiffer so dringend zum Flugzeug musste und nicht zur Diskussion bleiben konnte. Schwerer wog, dass der französische Soziologe Marwan Mohammed und Safter Cinar vom Türkischen Bund Berlin-Brandenburg kaum zu Wort kamen. Sie saßen zwar auch auf dem Podium, ihre leiseren und differenzierteren Beiträge wurden aber durch die schiere Präsenz Pfeiffers fast erdrückt.
Es standen noch weitere Debatten auf dem Programm: über wirksame Mittel gegen Gewalt an der Schule; über die Frage, ob Prävention oder Strafe die geeignetere Antwort auf Jugendkriminalität sind und wie man rechtsextremen Jugendlichen wirkungsvoll begegnet. Alles Fragen, zu denen auch Professor Pfeiffer sicher eine wortreiche Antwort gehabt hätte. Aber der war ja schon weg.

Erschienen am 12.11.2008

Frische Romantik für Hafnarfjord

Samstag, 25. Oktober 2008

Jede Taste, selbst die kleinste Luftklappe für das größte aller Instrumente werden in der Sieversdorfer Werkstatt per Hand gefertigt: Orgelbauer Christian Scheffler ist weltweit gefragt.

Im Grunde ist Christian Scheffler päpstlicher als der Papst. Denn Wilhelm Sauer, der geniale Orgelbauer, dessen Lebenswerk Scheffler und seine 16 Mitarbeiter noch heute ernährt, würde wohl längst mit modernen computergesteuerten Fräsen die Teile seiner Orgeln fertigen lassen. Doch das ist etwas, vor dem Scheffler zurückschreckt. Er schüttelt sich schon demonstrativ, wenn er es nur erwähnt. Und er tut gut daran: Christian Schefflers Orgelbaubetrieb im beschaulichen Sieversdorf (Märkisch-Oderland) ist weltweit gefragt, wenn es um die Restaurierung berühmter romantischer Orgeln geht – vorrangig solcher aus Sauerscher Produktion, aber nicht nur. Einer von vielen Gründen dafür dürfte sein, dass in Schefflers Werkstatt noch alles von Hand gefertigt wird: jede Taste, jedes Register, jede kleinste Luftklappe für das größte aller Instrumente.

Die Qualität aus der Mark hat sich mittlerweile herumgesprochen in den Zirkeln der Kirchenmusik: Mit den Orgeln im Bremer Dom, im Dom zu Tallinn (Estland), in der Leipziger Thomaskirche, der Pfarrkirche im rumänischen Sibiu (Hermannstadt) sowie im norwegischen Trondheim hat Christian Scheffler nahezu alle großen Sauerorgeln Europas restauriert. Lediglich die allergrößte im Berliner Dom fehlt in der Sammlung des umtriebigen Sieversdorfer Orgelbauers. Die Herausforderungen gehen Scheffler deshalb aber nicht aus. Die jüngste ist der komplette Neubau einer 1400 Pfeifen umfassenden Sauerorgel. Eine Stilkopie, nach Sauers Plänen, Sauers Prinzipien und Sauers Materialvorgaben; eine Orgel für Hafnarfjord. Hafnar-fjord in Island, 20 Kilometer vor den Toren Reykjaviks.
Die Anfrage erreichte Sieversdorf auf verschlungenen Pfaden. Der Leipziger Orgel-Professor Stefan Engels erhielt einen Anruf von einem ehemaligen Schüler, der in den USA bei ihm studiert hatte. Der Schüler war mittlerweile wieder in seine isländische Heimat zurückgegangen und hatte als frisch eingestellter Kantor nun den Auftrag für eine romantische Orgel im historischen Stil zu vergeben. Stefan Engels verwies ihn nach Sieversdorf, denn viele „seiner“ Leipziger Orgeln künden mit jedem Ton vom Geschick Christian Schefflers, der im Sauerschen Betrieb das Handwerk lernte.
Scheffler, der schon einiges von der Welt gesehen hat, musste nach dem Anruf des jungen Isländers erstmal den Atlas aus dem Regal fischen. Als er ihn wieder zuklappte, wusste er, dass Hafnarfjord an der Westküste der Insel direkt am Atlantik liegt, 25000 Einwohner hat und offenbar nicht zu den ärmsten Gemeinden gehört. Solch einen Neubau zu finanzieren, sagt er, davon könnten die meisten Brandenburger Gemeinden nur träumen. Zumal sich die isländische Kirchgemeinde zeitgleich bei einer Leipziger Firma auch noch eine große Barockorgel bauen lässt.
Dass es herzliche, überaus musikbegeisterte und mit Vorfreude auf das Instrument geradezu übervolle Menschen sind, lernte Christian Scheffler im April dieses Jahres vor Ort in Island. Für ein solides Angebot, dass die Größe der Kirche, deren klangliche Eigenheiten ebenso einbezieht wie die Wünsche des Organisten ist ein Vor-Ort-Termin unerlässlich, sagt er. Schnell war man sich handelseinig, und schon auf dem Rückflug erteilte Christian Scheffler erste Bauanweisungen an seine Mitarbeiter. Der Zeitplan nämlich ist eng: Spätestens zum zweiten Advent soll die Orgel das erste Mal erklingen.
So wurde den Sommer über emsig gewerkelt in Sieversdorf: Statt baden zu gehen und Luftmatratzen aufzublasen galt es, Holzpfeifen zu schreinern, Klaviaturen zusammenzusetzen, Metallpfeifen zu intonieren und Luftklappen zu leimen. Dann verluden die Orgelbauer alle Teile in große Kisten, die wiederum in einen Container gehievt wurden und auf dem Atlantik ihrem Bestimmungsort entgegenschwammen. Ende September legte das Schiff dort an. Christian Scheffler und drei Mitarbeiter nahmen die Fracht in Empfang und begannen, alles zu einem Ganzen zusammenzusetzen – zum ersten Mal. Für den kompletten Aufbau in der Orgelwerkstatt fehlten der Platz und die Zeit. „Für Überraschung ist also noch genug Raum“, sagt Scheffler trocken. Erfahrung und Vertrauen in die Qualität seiner Arbeit machen ihn zuversichtlich genug für solche Scherze, bei denen seine Mitarbeiter gern etwas zusammenzucken.

Was unterscheidet eine romantische Orgel von den meist barocken, die jedem sofort in den Sinn kommen? Der Märker, sagt Scheffler, kennt ja vorrangig jene mit romantischem Anteil: Zwei Drittel aller Instrumente in Brandenburg sind nämlich nach 1870 entstanden oder umgebaut worden und haben die damals übliche romantische Prägung in die Pfeifen gelegt bekommen.
In fast jeder Epoche bildet die Orgel – von der Spielweise ein Tasteninstrument, von der Klangerzeugung ein Blasinstrument – das zu ihrer Zeit typische Instrumentarium nach: Im Barock waren es Flöten, Gamben und Principale, und so heißen dann auch die Pfeifen der Barockorgel; in der Renaissance entlockte der Organist seinem Instrument Schalmeien-, Dudelsack- und Trompetenklänge. In der Romantik waren vor allem Klänge gefragt, die dem ähneln, was Menschen singen können.
So hat jede Orgel auch die Musikentwicklung ihrer Epoche geprägt: Die französische Romantik, aber auch Max Reger und Franz Liszt wären ohne romantische Orgeln nicht denkbar, sagt Scheffler. Zwar klinge auch Bach darauf wundervoll, doch warne er vor dem Umkehrschluss: Der Versuch, Liszt auf einer Barockorgel zu spielen, sei meist zum Scheitern verurteilt.
Und: Romantische Orgeln haben ihre Tücken. Selbst auf guten gibt es unter den tausenden von möglichen Klängen fünf oder sechs, die der Spieler vermeiden sollte. „Ich kenne allerdings hoch gelobte Organisten, die finden auf so einer Orgel mitten im Konzert zwölf neue, unmögliche Töne“, erzählt Christian Scheffler und wirft die Stirn in Falten, als fahre ihm gerade ein solcher Ton ins Ohr. „Das ist dann nicht eben erhebend“, stöhnt er, als litte er Schmerzen.
Trotz aller Routine und obwohl Scheffler vom Umfang schon weitaus größere Aufträge bewältigte, hat ihn diesmal ein besonderes Fieber gepackt: „Ein reiner Neubau, also alles aus einem Guss zu erschaffen, das hat schon ein spezielles Flair.“ Historische Orgeln sind gereift, in Würde gealtert – „patiniert“ nennt Scheffler das –, sie haben sich abgeschliffen. Den Obertönen fehlt das unangenehm Metallische, das gealterte Holz lässt die tiefen Register wärmer klingen und auch das Raumklima und die Spielweise des Organisten haben sich ins Instrument gegraben. Die Herausforderung für den Orgelbauer als Restaurator besteht dann darin, dafür zu sorgen, dass ausgetauschte Register, Laden und Pfeifen nicht klingen wie ein Saxofon im Barockorchester: schreiend deplatziert.
Ein komplett neues Instrument erfordert solche Anpassungen nicht: Scheffler kann sich ganz auf den bestmöglichen Klang konzentrieren. Zu erleben, wie das Orgel-Neugeborene im Laufe seines Lebens einen Charakter entwickelt, kann eine unübertreffliche Freude sein, sagt er.
Vielleicht sind es jene Freuden, die Scheffler davon abhalten, moderne Orgeln zu bauen. Die können, das räumt er ein, vieles, was auf Sauer-Orgeln noch undenkbar ist, doch er baut lieber mit der Technologie und im selben Stil wie vor 100 Jahren und dem Anspruch, den damaligen Zeitgeschmack zu treffen. Mag sein, dass der alte Sauer mit dem Kopf schüttelte, wenn er das sähe: Der Meister blieb für Neues offen, rüstete noch in reifen Jahren von mechanischen Kegelladen zu pneumatischer Steuerung um und fertigte als echtes Kind der Industrialisierung Orgeln in Serie. Christian Scheffler würde ihm entgegnen, die technische Konstruktion seiner – Sauers – Orgeln, deren Steuerung, diese Klangidee zwischen Orgelklang und Hochromantik, das alles sei so modern und in sich so genial – „der Rolls-Royce unter den Orgeln dieser Zeit“ – dass er keinen Grund erkennen könne, auch nur den kleinsten Filz zu ändern. Da ist er, wie gesagt, päpstlicher als der Papst.

Erschienen am 25.10.2008

Schimpffreudig

Samstag, 25. Oktober 2008

Jan Bosschaart über einen besonderen Volkssport im Herbst

Alle Jahre wieder kommt – der Herbst. Die Bäume entblättern sich, und mehr als nur eine Hand voll flotte Feger sind vonnöten, um den ehemals grünen, die nun gelbe, rote oder braune sind, zu zeigen, was eine Harke ist. Darauf könnte eine Ordnungsbehörde wohl vorbereitet sein. Dass die Bäume abschütteln, was sie noch vor kurzem kleidete, erfolgt mit so schöner Regelmäßigkeit, dass selbst der skeptischste Ordnungsamtsleiter durchaus nicht fehl darin geht, dem Phänomen den Charakter eines Naturgesetzes zuzubilligen. Glaubt man nun aber Volkes Stimme – und beim gemeinsamen Rechen vor der Haustür trägt Volkes Stimme weit in der klaren Herbstluft – so belegt schon jede Zusammenrottung von mehr als drei Blättern auf dem Asphalt mal wieder die völlige Unfähigkeit der Kommune, für Ordnung zu sorgen. Ja, da macht er sich gern Luft, der Bürger; der Begriff Herbststurm kommt nicht von ungefähr. Der Vorwurf indes geht fehl: Allerorten wird in den Bauhöfen zusammengetrommelt, wer nicht bei drei auf den kahlen Bäumen ist, und zum Dienst an der Harke verpflichtet. Dass selbst der emsigste Kommunalbedienstete nicht mit dem Laubsack unter jeder Linde stehen und herabsegelnde Blätter vor dem Auftreffen auf dem Asphalt abfangen kann, sollte da selbst dem schimpffreudigsten Bürger einleuchten.

Erschienen am 25.10.2008

Sie will die Eine werden

Samstag, 18. Oktober 2008

Wettbewerb: Nach dem Sieg in Rangsdorf will ein Nachwuchsmodel den Bundestitel

Paula Gegg hat den Modelwettbewerb im Einkaufscenter gewonnen – heute Abend könnte sie den Sprung ins Modelgeschäft schaffen.

RANGSDORF| Sie mag es gern natürlich, hat noch nie ihre Haare gefärbt und geht im Alltag sogar ungeschminkt aus dem Haus: Paula Gegg wirft einige wohlgehütete Vorurteile über Models und Mädchen, die es werden wollen, über den Haufen. Erstaunte Nachfragen dazu lächelt sie einfach weg. Das ist eine durchaus erfolgreiche Methode, wenn man erst 20 Jahre alt ist, 1,73 Meter groß und durch ein sehr ebenmäßiges Gesicht auffällt: Ob unangenehme Fragen, lastende Stille oder kleine Malheurs – Weglächeln funktioniert.
Ihre Qualitäten konnte Paula zum ersten Mal im Rangsdorfer Südringcenter vor einer größeren Öffentlichkeit unter Beweis stellen: Sie gewann mit deutlichem Abstand den Regionalausscheid des Nachwuchs-Modelwettbewerbs „Die Eine“, den der Handelskonzern Metro in seinen Häusern veranstaltet. Das brachte ihr nicht nur diverse Einkaufsgutscheine, sondern gilt zugleich als Ticket zum Bundesfinale an diesem Wochenende in Bremen, auf dem Paula gegen 23 Konkurrentinnen in den Disziplinen Abendkleid, Bademode und Kurzinterview antritt. Wer hier gewinnt, bekommt einen Modelvertrag.
Das würde ihr durchaus gefallen: Mit Schönheit hat sich die gebürtige Berlinerin schon seit frühester Kindheit befasst, nahm seit ihrem vierten Lebensjahr Ballettunterricht und begann nach der Schule eine Ausbildung zur Kosmetikerin. Als Foto- und Laufstegmodel um die Welt zu reisen, käme ihr sehr entgegen, sagt sie. Selbst wenn es nichts wird mit dem Titel, will sie als Kosmetikerin in den USA ihr Glück versuchen.
Dass sie mit 20 Jahren fast schon ein wenig spät dran ist für die Modelbranche, ist Paula bewusst. Es ist auch ein wenig der Überbehütung geschuldet: Als einziges Kind ihrer Eltern war die hübsche, sportliche Paula schon früh der Star der Familie – ein stolzer Papa, der als Bootshändler die schöne Tochter auch auf Messen in seinen Booten zeigte und eine Mutter, die Tausende Fotos von ihrer Tochter machte und sie auch zur Teilnahme am Wettbewerb ermunterte, gaben ihr das nötige Selbstvertrauen: Paula muss ihre Unsicherheiten nicht unter zentimeterdicken Schichten Schminke vergraben, sie greift im Notfall auf ihr Lächeln zurück.
Sieht man davon ab, dass die 20-Jährige dank dieser festen Familienbindung zuweilen noch ein wenig unselbstständig und nicht eben initiativ wirkt – „Ich bin halt ein kleiner Spätschalter“, sagt sie selbst – erweckt sie einen angenehm natürlichen und jugendlichen Eindruck. Sie sei keine „Partymaus“, betont Paula und ihre grünen Augen halten einen Moment inne, um zu betonen, dass das jetzt ein Satz war, der ihr sehr wichtig ist. Das Zusammensein mit ihren Freundinnen, das Durchhecheln aktueller Modetrends oder ein gemütlicher Videoabend seien ihr wichtiger. Auch mit der Partnersuche habe sie keine Eile, fügt sie hinzu, um ihren unaufgeregten Lebenswandel zu unterstreichen – vielleicht liege das ja an der katholischen Schule und der eher konservativen Erziehung, die sie genossen habe, sagt sie kokettierend. Bodenständigkeit, Natürlichkeit, Unaufgeregtsein – das ist das Bild, das die 20-Jährige von sich vermittelt. Wenn die Jury in Bremen heute Abend genau solch einen Typ sucht, hat Paula den Vertrag so gut wie in der Tasche. Wenn nicht, hat sie ein dichtes soziales Netz, das sie auffängt.

Erschienen am 18.10.2008

Was der Senkel hergibt

Samstag, 18. Oktober 2008

Schnüren scheint das Gebot der Stunde, doch die Jury ist gnadenlos

Rettungspaket wird das Wort des Jahres werden – soviel lässt sich schon jetzt sagen. Es wird dieser Tage grandios geschnürt in Deutschland: Jeder, der was zu retten hat, schnürt, was der Senkel hergibt. Das hat den angenehmen Nebeneffekt, dass Armut ausnahmsweise mal tröstlich ist: Wer nichts hat, kann nichts verlieren, muss nichts retten. Die vielzitierte Angst des Mittelstands vor dem Abrutschen ins Prekariat, hier wandelt sie sich in ein sanftes Ruhekissen. Nur des wirklich Wohlhabenden Konto trägt böse Früchte: „Hätte ich kein Aktiendepot, ich könnte ruhiger schlafen.“ Das ist die Strafe dafür, dass er sich dem Trend zur Armut standhaft verweigerte – doch der Konjunktiv ist der Feind des Verlierers. Großmut und Opferbereitschaft sind daher das Gebot der Stunde. Der Chef der Deutschen Bank verzichtete, nachdem er sich gründlich umgeschaut hatte, ob auch alle Kameras angeschaltet und alle Bleistifte gespitzt sind, auf seine Boni und begnügt sich nun mit einem schmalen Grundgehalt von 1,2 Millionen Euro. Auch er schnürt also mit, und er spendet die Millionen den Bedürftigsten: verdienten Mitarbeitern seines Geldhauses. Das ist konsequent, denn wenn wir eines gelernt haben aus der Finanzkrise, dann dass es die schwer arbeitenden, bis zur Selbstaufgabe am Gemeinwohl orientierten Banker sind, die nun wirklich am wenigsten dafür können, aber am schlimmsten gebeutelt werden. Sie haben schließlich die gefährdeten dicken Depots, während sich der gemeine Hartz-IV-Lümmel auf seiner Schadenfreude darüber ausruht, dass er ja nichts zu verlieren habe. Sie ist ungerecht, die Welt, und der Pöbel ohne Mitgefühl.
Das Schnüren macht indes Schule. Bei der Miss-Wahl am Mittwoch in Diedersdorf versuchte eine Kandidatin, die Auswirkung der skeptischen Jury-Blicke auf ihr Selbstbewusstsein in den folgenden Runden durch beherzten Eingriff in die Feinjustierung ihres BHs abzumildern. Danach hätte sie zwar freihändig Maßkrüge über den Laufsteg balancieren können und freie Auswahl an Mitfahrgelegenheiten nach Hause gehabt, im Gesamtklassement brachte sie das aber auch nicht spürbar nach vorne. Atemnot und ein farblich ihrem feuerwehrroten Abendkleid nacheifernder Teint lehrten sie immerhin, dass „Schnüren“ und „Abschnüren“ den selben Wortstamm haben. Das wiederum ist eine Lektion, die zu lernen Politikern und Bank-Chefs erst noch bevorsteht. Und wenn es ganz mies läuft, selbst uns armen Prekariern.

Erschienen am 18.10.2008

Wadenkrampf und Freudentränen

Freitag, 17. Oktober 2008

Wettbewerb: Bademode im Bierdunst: Auf dem Diedersdorfer Oktoberfest wurde wieder eine Miss gesucht

Sie konnten sich direkt fürs Landesfinale der „Miss Germany“ qualifizieren, die elf Teilnehmerinnen im Vorausscheid.

DIEDERSDORF| Der Wadenkrampf sollte sich am Ende lohnen. Doch vor die Schärpe haben die Götter den Schmerz gesetzt: Nicole Reimer lächelte eisern durch, aber über ihren 10-Zentimeter-Stiletto-Absätzen krampften die Wadenmuskeln erkennbar. Doch was soll man tun, wenn man nur 1,60 Meter groß ist, aber trotzdem Miss Germany werden möchte?
Sie hatte auch noch die längste Stehzeit, die 21-jährige Berlinerin, denn ihr war die Startnummer 1 zugelost worden. Im cremefarbenen Abendkleid musste sie am Mittwochabend als erste auf den weiß-blau karierten Laufsteg im Diedersdorfer Oktoberfestzelt, zehn weitere Miss-Anwärterinnen folgten. Das Zelt war nur gut halb voll, aber die Stimmung – auch dank genügend Maßkrügen – von Beginn an gut. Zweimal auf und ab, unter den prüfenden Blicken der Jury, dann galt es, ein einminütiges Kurzinterview zu überstehen, das von Moderatorin Carmen Franke mit einer Vorstellung eingeleitet wurde. So erfuhren die staunenden Gäste, dass Nicole eine Violine spielende Reisekauffrau sei, die gern nach Griechenland reist und ihre Maße 84-58-84 betrügen. Nuria, deren Name nach eigenem Bekunden „so was wie Sonnenaufgang auf arabisch oder jüdisch oder so“ bedeutet, turnt gern am Trapez und hat im Übrigen 82-52-89, war zu erfahren. Die 17-jährige Jennifer, 84-62-92, kann vier Sprachen, will Stewardess werden und hatte das Preisschild unter den Schuhen kleben lassen. Denise, 25, beeindruckte das Publikum mit einem bedrohlich ausladenden Dekolleté und dem Hinweis, Cocktails seien ihr größtes Hobby. Schließlich kam Juliane, 86-68-99, Polizistin und Exsoldatin – „weil ich für mein Leben gerne schieße“ –, die als besonderes Talent die Fähigkeit zum Telefonieren beim Autofahren nannte, zur Freude des bierseligen Publikums, als Hobbys Reiten und ihre zwei Katzen (Zuruf: „Geil! Drei Muschis zuhause!“) aufzählte. Sie durften noch zwei-, dreimal paradieren, dann wurde der Ruf der Menge („Ausziehen! Ausziehen!“) erhört, und die elf möglichen Missen verschwanden, um sich in Bademode zu werfen.
Im grün-blauen Tankini kehrten sie einige Saalrunden später zurück, und das Spiel wiederholte sich. Das Publikum goutierte das entweder enthemmt-gröhlend mit „Mach-Dich-nackig“-Rufen oder fachlich-abschätzig mit ausgefeilten Potenzialanalysen: „Ganz annehmbar“, urteilte ein Herr im Anzug, „kommerziell kaum verwertbar“, entgegnete ein anderer, und ein dritter diagnostizierte kühl hier und da „Hautstrukturprobleme an den Oberschenkeln“. In der Tat zeigte sich, dass es nur ein Vorausscheid war: Von zu großen Schritten bis Trampeln, von Speckröllchen bis zu viel Push-Up, von unnatürlichem Dauerlächeln bis dem gefürchteten „Oh-Gott-sind-diese-Absätze-hoch“-Gang waren alle Anfängerfehler mehr oder minder häufig vertreten. Carmen Franke aber moderierte über solche Spitzfindigkeiten elegant hinweg, und den meisten Gästen waren diese Nickligkeiten ohnehin längst egal. Nachdem alle Sponsoren zum wiederholten Male aufgezählt waren und die Jury ihre Punktelisten abgegeben hatte, riss der DJ mit „Heidi“, „Biene Maja“ und dem „Holzmichl“ das Publikum von den Bänken, und eine Stunde später standen die Siegerinnen fest: Nicole Reimer wurde für ihre verhärtete Wadenmuskulatur mit dem ersten Platz, Schärpe und Krone, einem Ring, Champagner und zahllosen anderen Preisen entschädigt, die anwesenden Eltern wollten vor Stolz schier platzen, Carolin Ludwig (84-62-92) wurde Vize-Miss Schloss Diedersdorf, Platz drei ging an Merit Büttner. Damit hatten sich drei Berlinerinnen durchgesetzt. Die Siegerin darf nun zum Landesausscheid und könnte sich dort für das Bundesfinale qualifizieren.

Erschienen am 17.10.2008

Lautäußerungen, tierische

Freitag, 17. Oktober 2008

Der alte Zosse über Gemeinsamkeiten zwischen Unpaarhufern und Zweibeinern

Die Ausdrucksmöglichkeiten eines Pferdes sind naturgemäß begrenzt: Außer Freude (Hinlaufen), Angst (Weglaufen), Ablehnung (Schütteln) und Sympathie (Anstubsen) steht unsereinem nicht viel zur Verfügung. Dieses begrenzte Kommunikationsrepertoire lässt sich bestenfalls noch mit einem wohlplatzierten Pferdeapfel (pferdisch für „Hier lass ich mich gehen!“) krönen. Der Rest ist Schweigen. Dachte ich nun zunächst, diese kommunikative Beschränkung sei ein quasi bauart-bedingter Nachteil meines Pferdseins und fühlte mich damit den Menschen hoffnungslos unterlegen, so durfte ich am Mittwoch bei der Misswahl auf Schloss Diedersdorf lernen, dass auch die Herren Zweibeiner – insbesondere nach emsigem Gebrauch der Tränke – ähnlichen Einschränkungen unterworfen sind: Außer Zustimmung (erkennbares Speicheln, hervortretende Augen, „Boah“-Geräusche) und Ablehnung (demonstratives Wegdrehen, Buh-Geräusche“) war wenig differenzierte Meinungsäußerung zu hören. Nur die demonstrative Krönung, die wurde bis zu meinem Abritt unterlassen. Aber da war die Tränke auch noch lange nicht leer.

Erschienen am 17.10.2008

Kann ja mal passieren

Samstag, 11. Oktober 2008

Von Missen und Missverständnissen

Da haben wir nun, ach!, die Verwerfungen der CDU in Berlin und der CSU in Bayern studiert, haben uns über Eitelkeiten geärgert, uns an eiskalten Machtkämpfen erschreckt und am gegenseitigen Demontieren der Spitzenkandidaten geweidet, dabei lag das Gute doch so nah: Rangsdorfs CDU produzierte eine politische Provinzposse ersten Ranges, indem sie am Mittwoch den Rücktritt ihres Vorsitzenden bekannt gab, um den armen Mann am nächsten Tag widerrufen zu lassen: Er habe seinen Rücktritt wegen der Verluste bei der Kommunalwahl zwar angeboten, das Angebot aber nach zwei, drei Tagen zurückgenommen, weil es niemand annahm, erklärte der Vorsitzende. Eine personell-politische Rückrufaktion quasi, die besser keine Schule machen sollte. Der Bürger könnte sonst glatt vergessen, dass es häufig gar nicht die Spitzenleute der Parteien sind, die nach den Gesetzen von Angebot und Nachfrage über ihre Posten entscheiden, sondern die gefürchtete zweite Reihe, die nicht nur Berlins Fraktionschef und das bayrische Spitzenduo, sondern auch Kurt Beck aus Amt und Würden kegelte. Mit einem „unglücklichen Missverständnis“ versuchte die Rangsdorfer CDU gestern die Verwerfungen zu erklären. Ja, es wird grandios missverstanden in Deutschland; ob nun Politiker abgesäbelt werden oder der Finanzmarkt zusammenbricht: Oops, übersehen. Sorry. Missverständnis. Kann ja mal vorkommen.
Nur einem würde das nicht passieren: Alt-Playboy Rolf Eden. Der zählt zwar mittlerweile 80 Lenze, kommt aber jedes Jahr standhaft zum Vorausscheid der Miss-Germany-Wahl auf Schloss Diedersdorf – so auch am Mittwoch. Und schon vorab ließ er uns an seiner Altersweisheit teilhaben, als er die Welt wissen ließ, dass es bei Models nicht auf Ausstrahlung ankomme, sondern auf puren Sex-Appeal.
Danke, Rolf! Du bist wirklich weit vorgedrungen, hast tiefe Einblicke gewonnen. Stolz können wir nun sagen: Endlich, endlich haben wir die Miss verstanden!

Erschienen am 11.10.2008


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