Archiv für die Kategorie „Toast & Honig“

Bilaterale Entspannung

Mittwoch, 8. Oktober 2008

Post: Ein Zusammentreffen natürlicher Feinde: Briefträger übten den Umgang mit Hunden

Das Verhältnis von Hunden und Postboten ist vielerorts zerrüttet. Man trägt sich gegenseitig Bisse und Revierverletzungen nach. Ein Seminar in Mahlow sollte Abhilfe schaffen

MAHLOW| Warum beißen Hunde bevorzugt Briefträger? An dieser Frage haben sich schon Generationen von Erkenntnistheoretikern erfolglos die Hirnzellen wund gemartert. Es existiert eine Hypothese, die besagt, wenn Stubenhunde, deren Alltags-Temperament der Rubrik „Sofarolle“ zuzuordnen ist, plötzlich gegen jede Gewohnheit nach dem Postillion schnappen, sei eine genetisch bedingte Abneigung gegen Uniformen im Spiel. Andere Kynologen wiederum vermuten, das überkommene Gerücht, der Briefträger nutze die Abwesenheit des Ehegatten, um Hausfrauen nicht nur mit schönen Päckchen zu beglücken, habe unter den Fiffis dieser Welt die Runde gemacht, und sie verteidigten Muttis Ehre an Vatis Statt.
Von solchen epistemologischen Feinheiten mussten sich die 25 Mitarbeiter des Zustellstückpunkts Mahlow gestern früh nicht irre machen lassen. Ihr Interesse war ein ganz handfestes – sie wollten weniger gebissen werden. Nicht, dass das noch an der Tagesordnung wäre: Nur 31 Mal schnappten Vierbeiner in Brandenburg 2007 nach dem Briefträger, ein deutlicher Rückgang zum Jahr davor, als sich noch 63 Mal die Zähne des Haushundes ins Fleisch eines Postboten gruben. „Hunde und Postboten verstehen sich immer besser“, titelte daher die Pressestelle der Post ganz verwegen, und Tiertrainer Jörg Ulbricht wusste auch anzugeben, warum: Weil der Briefträger aus Hundesicht langsam lernt, sich anständig zu benehmen.
Was das heißt, erklärte er den 25 aufmerksam zuhörenden Zustellern an diesem Morgen. Kardinalfehler Nummer eins sei noch immer der Brief- oder Paketwechsel über dem Hund, erinnerte Ulbricht, der in Freital bei Dresden eine Hundeschule betreibt und der für Post in Sachsen und Süd-Brandenburg Seminare gibt. Von fremden Füßen umstellt, fühle sich der Hund eingeengt, und alles, was über seinem Kopf geschehe, mache ihn zusätzlich nervös, so der Trainer. Bei aggressiven Tieren empfahl er Ruhe, auch wenn’s schwerfalle: Keine hektischen Bewegungen, kein Weglaufen. „Wenn sie trotzdem gebissen werden, war’s ohnehin nicht zu verhindern. Aber wenn sie fuchteln oder weglaufen, provozieren sie womöglich einen Biss, den sie sonst nicht bekommen hätten“, erklärte er. „Na toll“, kommentierte eine Zustellerin, „was für eine Auswahl.“ Wer Patentrezepte erwartet hatte, musste zwangsläufig enttäuscht sein. Doch die Tipps und Strategien des Hundetrainers können immerhin das Risiko senken. Wie das Briefing vor einem Geheimdiensteinsatz nahm sich Ulbrichts Gefahrenanalyse aus, zu deren Durchführung er ein typisches Grundstück an die Wand warf und besonders gefährliche Punkte, Aktionsradien, Vermeidungsstrategien und Fluchtweganalysen durchsprach.
Im Praxisteil auf dem Parkplatz des Zustellstützpunkts schärfte Ulbricht den Blick der Teilnehmer für typisches Hundeverhalten anhand eines Schäferhundes und eines Terriers: Die Postboten lernten, Hundeverhalten richtig zu deuten, Angst zu erkennen, Schwanzwedeln nicht misszuverstehen und Drohgesten einzuschätzen. Das beste Mittel, gestand der Trainer, sei immer noch, über Leckerli eine Beziehung zu schwierigen Tieren aufzubauen. Das ist bei der Post aber verboten.
Gut möglich also, dass letztlich doch ein Philosoph das Rätsel der besonderen Vorliebe von Hunden für Briefträger lösen muss, bevor die Post titeln kann: „Hunde und Postboten verstehen sich grundsätzlich blendend.“

Info-Box: Kleine Hundekunde
Um so biss-sicher zu werden wie ein Postbote, empfiehlt es sich, einige Grundregeln zu befolgen:
Hunde fühlen sich vom Eindringen in ihr Revier bedroht, von schnellen Bewegungen oder raschem Entfernen, das als Flucht gedeutet werden kann.
Je höher ein Hund in der Familienrangordnung ist, desto angriffslustiger ist er – er glaubt ja, das Rudel schützen zu müssen.
Angst zu zeigen ist wie eine Einladung zum Angriff, Schreien oder Weglaufen sind daher keine besonders gute Idee.
Auch Drohgebärden, Blickkontakt, Störungen beim Fressen, Weglaufen oder das Entwenden ihres Spielzeugs mögen aggressive Hunde gar nicht.
Der beste Rat ist grundsätzlich, stehenzubleiben und keine Angst zu zeigen, wenn ein Hund auf einen Menschen zukommt. Oft will er ihn einfach nur erschnuppern. Wenn schon Rückzug, dann langsam.

Erschienen am 08.10.2008

„Soll ich bleiben oder gehen?“

Donnerstag, 2. Oktober 2008

Dokumentation Sie lernen Punkrock mit der Leselupe: „Young@Heart“ ist ein Seniorenchor der anderen Art

Eileen Hall hat als einzige im Seniorenheim einen eigenen Schlüssel – weil sie oft so spät von den Auftritten zurückkehrt, dass in ihrem Heim kein Mensch mehr wach ist. Die Eltern der meisten Künstler, deren Lieder Eileen Hall bei diesen Auftritten singt, waren noch nicht geboren, als Eileen schon ihr erstes Kind bekam – sie ist 92 Jahre alt. Doch in ihrem Chor mit dem schönen Namen Young@Heart („Jung im Herzen“) stellt sie keineswegs die Alterpräsidentin: Das Durchschnittsalter der Sänger aus Northampton (Massachusetts) beträgt 81 Jahre, das älteste aktive Mitglied war 101, das bisher jüngste 72.
Nach einem Londoner Konzert der 24 „Alten, die sich schlecht benehmen“ – so bezeichnet der Chor sich selbst – war der britische Regisseur Stephen Walker so begeistert, dass er nach Northampton reiste, um ein Portrait des Chores zu drehen, der allen Erwartungen an eine Seniorensingegruppe widerspricht. Der Film steigt mit einer Szene ein, wie man sie von Livemitschnitten eines Rockkonzerts kennt: Hämmernde Drums, eine noch leere Bühne, dicht gedrängt stehende, jubelnde Fans, die nach ihrem Star rufen. Dann ein orthopädischer Schuh in Großaufnahme, daneben schlägt im Rhythmus des Schlagzeugs eine Gehhilfe auf, schließlich betritt Eileen Hall die Bühne: Klein von Wuchs und gebeugt, doch groß in ihrer Präsenz und Lebensfreude: „Should I stay or should I go?“ (Soll ich bleiben oder gehen?) beginnt sie den berühmten „The Clash“-Song aus den 70ern – und das Publikum rast.
Damit ist das Tempo vorgegeben: Sie singen Punkrock, sie singen „Schizophrenia“ von Sonic Youth und auch sonst alles, was irgendwie selbstironisch auf ihr Alter passt: „We’re on a road to nowhere“ (Wir sind auf der Straße ins Nirgendwo), „I feel good“ oder „Yes, we can“, aber auch balladeskes wie „Fix You“ von Coldplay oder „Killing me softly“. Das tun sie so gut, dass sie nicht nur in der Heimat regelmäßig vor ausverkauften Häusern spielen, sondern auch zwei erfolgreiche Europatourneen absolvierten. Für manche ist der Chor ein neuer Lebensinhalt geworden, einige Mitglieder bekennen vor der Kamera, dass sie aus dem Spaß am Singen soviel Kraft bezögen, dass es sie am Leben erhalte.
Stephen Walker, der behauptet, er habe während der Dreharbeiten 24 neue Großeltern gewonnen, begleitete die Sängerinnen und Sänger über sechs Wochen – von der widerwilligen Probenaufnahme neuer Songs, die sich die meisten unter Zuhilfenahme von Leselupen erarbeiteten, über die immer wieder von Gesundheitsproblemen und zwei Todesfällen unterbrochenen Proben bis zum Konzert. Dass sie häufig auf den Beerdigungen ihrer Sangesbrüder und -schwestern auftreten, gehört ebenso zur Realität des Young@Heart-Chors wie die lebensverlängernde Kraft der Gemeinschaft und der Vorfreude auf die Auftritte.
Stephen Walker gelingt die schwierige Gratwanderung zwischen allzu rührseliger Berichterstattung über Krankheit und Tod auf der einen Seite und dem journalistischen Impuls, dem Publikum den Young@Heart-Chor als menschliches Kuriositätenkabinett anzudienen. Auch wenn der Film Züge von beidem trägt, fängt die fast schon liebevolle, enkelhafte Hingabe des Regisseurs an Chor und Sänger diese Ausschläge wieder auf. Am Ende hat auch der Kinobesucher einige neue Großeltern gewonnen – und etwas weniger Angst vor dem Alter.

Erschienen am 02.10.2008

Der mobile Märchenonkel

Samstag, 20. September 2008

Wie ein Theater- Schauspieler zu den Grimms zurückfand, warum er Termine hasst und was ihn im Alter von 66 Jahren bewog, auf einem klapprigen Rad durch märkische Dörfer zu tingeln.

Er lässt die Satzenden gern wie lose Fäden in der Luft baumeln. Nicht so, dass sie sich verknoten würden, nicht so, als wären sie achtlos auf einen Haufen geworfen. Maximilian Ruethlein verheddert sie nicht, seine Sätze – dazu ist er zu diszipliniert –, er bricht sie nur zugunsten des folgenden Gedankens mittendrin ab und beginnt übergangslos den neuen. Die übrig gebliebenen Fragmente hängen dann, fein säuberlich aufgereiht, in der Abendluft wie feuchte Wäsche auf einer Leine.
Es ist daher nicht ganz leicht, Ruethlein zu lauschen. Irgendwann wird der Zuhörer es müde, die Sprünge nachzuvollziehen. Und seine Gedanken gehen eigene Wege. Das ist erstaunlich bei jemandem wie Ruethlein, der, wenn er mehr als nur einen Zuhörer hat, Märchen so packend erzählen kann, dass Kinder zu atmen vergessen und Erwachsene bereitwillig wieder zu Kindern werden und sich in Augenblicke zurückversetzt fühlen, in denen sie eingekringelt im warmen Bett lagen oder aufmerksam auf dem Schoß der Oma saßen und mit großen Augen die gruselig-schönen Geschichten vom Rotkäppchen, von der Schneekönigin oder der Scheherazade hörten. Situationen also, die einmal alltäglich waren, doch es nicht mehr sind. Dass sie es nicht mehr sind, dass kaum noch jemand Märchen erzählt, ist Ruethleins Kapital – neben dem unergründlichen Märchenschatz in seinem Kopf, seiner sonoren Stimme und seiner Schauspieler-Seele, die am Theater geformt wurde. Ruethlein erzählt Märchen in Kitas, in Schulen, in Volkshochschulen, in Buchhandlungen, in Kirchen und auf Plätzen. Wann immer jemand möchte, wann immer jemand Zeit hat – normalerweise gegen Bezahlung, jetzt, auf seiner Spätsommertour auch gegen eine Mahlzeit oder eine Unterkunft für die Nacht.
Wenn er im Gespräch gedanklich allzu sehr auszufransen droht, zieht Maximilian Ruethlein die Notbremse. Er wendet dann den Blick von innen nach außen, sieht sein Gegenüber an, als sei er eben erwacht und fragt, ob er gerade wieder vom Hölzchen aufs Stöckchen komme. Im Grunde erwartet er gar keine Antwort, und ein kurzes Zögern genügt ihm als Bestätigung. Dann lächelt Ruethlein wissend, nippt an seinem Kaffee und nimmt den Faden wieder auf. Einen neuen Faden.
Vielleicht ist daran auch die Einsamkeit schuld. Mehrere Wochen ist der Berliner nun schon mit dem Fahrrad durch die märkische Provinz unterwegs. Die Idee, seine Märchen auf einer spontanen Sommertour durch die Welt zu tragen, kam plötzlich, und Ruethlein gehört nicht zu den Menschen, die zögern, wenn sie plötzliche Ideen haben. Also packte er seinen großen Grimm, einen Schlafsack und etwas saubere Wäsche in den abgelederten Rucksack, der ihn schon durch Südamerika begleitete, holte sein klappriges blaues Fahrrad hervor und radelte los. Ohne Termine, ohne große Absprachen, ohne festes Ziel, ohne fixe Route. Es ging zunächst nach Potsdam, wo Ruethlein im Eine-Welt-Laden erzählte, dann nach Drewitz, weil er dorthin eine spontane Einladung bekam und schließlich im Nieselregen nach Rathenow.
Wenn es beschwerlich oder einsam wird, wenn ihn das Wetter im Stich lässt oder er kein Quartier für die Nacht findet – was allerdings selten ist –, dann tröstet sich Maximilian Ruethlein mit seinen Märchen. „Ich erzähl mir dann eins“ heißt das in seinen Worten. Er schwört auf die tröstende Kraft der Urbilder, als die er Märchen begreift. Märchen tragen zu innerer Zufriedenheit bei, sagt er, sie unterwandern den Verstand, indem sie an Älteres und Größeres rühren und haben daher eine unmittelbare Wirkung.
Seit mehr als 20 Jahren sät und erntet Ruethlein Märchen. Zehn Jahre lang war er zuvor am Renaissance-Theater, spielte in Brechts „Arturo Ui“, spielte Ibsens Dramen und was das damalige Startheater unter Heribert Sasse noch so im Repertoire hatte, verdingte sich als Dramaturg, Regisseur und Stückeschreiber. Doch Ende der 80er Jahre, mit 48 und „voll im Saft“, wie er betont, beschlich ihn das Gefühl, dass er sich dort und mit seinem Universitätswissen nicht finden könne. Also warf Ruethlein hin und gründete die Märchenwerkstatt, weil er in Märchen eine „Anleitung zum kreativen Handeln“ sah und sieht, eine Verbindung von Geist und Seele, die ihm am akademischen Theater fehlte. Es lief ziemlich schnell ziemlich gut. Ins Kreuzberger „Café Graefe“, seine erste Spielstätte, kamen am ersten Abend fünf Leute, am zweiten Abend 20 und am dritten war es bereits so voll, dass die Leute auf dem Boden sitzen mussten. Ruethlein hatte sein Element gefunden, er verdiente gutes Geld, wie er sagt, tingelte tagsüber durch Schulen und Kindergärten und spielte abends sein Programm für Erwachsene. Nebenher bildete er Märchenerzähler aus, die ihm nun Konkurrenz machen.
Aus seinem Bedauern darüber, dass diese Zeiten vorbei sind, macht Maximilian Ruethlein heute keinen Hehl. Zu resignieren entspräche aber nicht seinem Naturell. Als die städtischen Gelder knapper wurden, brach er nach Südamerika auf und fuhr zweimal acht Monate lang mit dem Bus von deutscher Schule zu deutscher Schule, um Grimms Wort nach Lateinamerika zu tragen. Natürlich war er vorher nicht angemeldet, natürlich wusste vorher niemand, dass da einer kommen würde, der den „Froschkönig“ erzählt, singt und tanzt. Das wäre gegen Ruethleins Überzeugung gewesen: Das kreative Handeln verträgt keine Planung. Handeln statt Grübeln ist des Märchenerzählers Credo, er fährt so ziellos durch die Welt, wie er seine Sätze bildet.
Seine größten Glücksmomente entstehen dann, wenn er sich nur von seinem Instinkt leiten lässt, und sich auf wundersame Weise alles fügt. Die Radtour, die Mitte August begann und dieser Tage endet, scheint ein solches Erlebnis zu werden: „Ich bin ohne Erwartungen los, habe meinen Job gemacht, und zwar offenbar so gut wie noch nie, wenn ich an all das Lob denke.“
Ruethlein rollt seinen Schlafsack aus, wo er eine Einladung bekommt, er fährt, wohin der Wind oder der Tipp der Kita-Leiterin vom Vortag ihn tragen, wenn es gut läuft, bleibt er ein paar Tage, wenn nicht, ist er am nächsten Morgen auf und davon. Wenn er erst in fünf Tagen auftreten könnte, wo er gerade ohnehin schon vorspricht, winkt er dankend ab. Zuviel Fixierung. Auch ein Handy hat er nicht dabei, obwohl es manches vereinfachen würde. Wer sich mit ihm treffen will, muss warten, bis Ruethlein von einer Telefonzelle aus anruft und dann zur abgemachten Stunde an einer Bushaltestelle in irgend einem märkischen Dorf auftauchen.
Ist das nicht anstrengend? Darüber denke er nicht nach, sagt der 66-Jährige. „Würde ich nachdenken, bräche ich nie auf. Ich bin jemand, der schnell alle Für und Wider erwägt. Vor allem die Wider, deshalb darf ich nicht ins Denken geraten.“ Ein paar Zugeständnisse hat ihm die Tour dennoch abgetrotzt: Das Schlafen unter freiem Himmel nimmt ihm der Rücken auf die Dauer krumm, und auch ein etwas weniger klappriges Fahrrad hält Ruethlein mittlerweile für ratsam. Falls sich da ein Sponsor fände, würde er nicht nein sagen.
Es ist eine unweigerliche Folge des Ruethleinschen Spontanitäts-Kultes, einzelne Brüche und Abbrüche als Teil des Weges zu begreifen. Sein Studium der Philosophie, Psychologie und Theaterwissenschaften hat er nicht abgeschlossen. Mit 19 verdrückte er sich zunächst nach Indien, um per Anhalter den Subkontinent zu ergründen. Das Vorhaben, Erwachsenentheater zu machen, stellte er ein, als er merkte, dass der von ihm dramatisierte „Parzival“ des mittelalterlichen Dichters Wolfram von Eschenbach sich nicht wie ein Märchen inszenieren ließ. Auf der Tour musste der Plan, ein Tagebuch im Internet zu führen, dran glauben. Auch Pläne sind für Ruethlein so etwas wie Sätze: Man kann viel anfangen, muss aber nicht alles zu Ende führen, wenn Instinkt oder Fügung sich der Spontanität in den Weg werfen. Auf diese Weise entschlief Ruethleins Filmkarriere, die neben Auftritten in Otto- und Didi-Hallervorden-Filmen auch internationale Produktionen enthielt.
All diese angefangenen Lebensfäden hängen mittlerweile aufgereiht in der Abendluft, während Ruethlein Kindern vom Rotkäppchen, von der Schneekönigin und von der Scheherazade erzählt. Immer dort, wohin der Weg, der Wind oder ein Wink des Schicksals ihn gerade trugen.

Kontakt zu Maximilian Ruethlein über Horst Edler, Tel. 0172/ 32032 52.

Erschienen am 20.09.2008

Wider die Diktatur des Lächelns

Donnerstag, 18. September 2008

Kino: Brad Breiens Erstling „Die Kraft der negativen Gedanken“ ist eine Feelbad-Komödie mit Hintersinn

Negatives gehört nicht in die Runde. Negatives gehört in den Kotzbeutel – einen kleinen, gehäkelten Sack, dem jeder Teilnehmer seine Frustrationen anvertraut. So kommt sie so leidlich voran, die Gruppentherapie unter Leitung der Kommunal-Psychologin Tori (Kjersti Holmen). Tori hat das Dogma der positiven Psychologie so tief inhaliert, dass sie selbst dann ein freundliches Lächeln aufsetzt, wenn sie andere beleidigt. Sie arbeitet lösungsorientiert mit ihren Patienten, das heißt: negative, destruktive Gefühle werden vermieden.
Ihr Klientenquartett fügt sich brav: Die stets lächelnde Marte, die seit einem Unfall beim Klettern im Rollstuhl sitzt und ihr egomanischer, aber von Schuldgefühlen zerfressener Mann Gard – er hatte das Seil nicht richtig gesichert. Dazu Asbjörn, der einen Schlaganfall hatte und nun nicht mehr richtig sprechen kann sowie Lillemor, Mitte sechzig, furchtbar allein, depressiv, von Ängsten zerfressen.
Mit der oberflächlichen Harmonie ist es aus, als das dauerlächelnde Quartett nebst Sozialdompteuse Tori bei Geirr (Fridjov Saheim) und Ingvild (Kirsti Eline Torhaug) vor der Tür steht. Geirr sitzt nach einem Autounfall im Rollstuhl und kultiviert seither die Kunst des negativen Denkens: Er raucht Joints, verkriecht sich in sein Zimmer, schaut Kriegsfilme, und weist seine Ehefrau Ingvild so weit wie möglich von sich, denn die Lähmung hat ihm auch die Potenz genommen: „Ich stehe nicht auf Frauen, die mit einem Krüppel schlafen würden.“ Die verzweifelte, aufopferungsvolle Ehegattin will vor der Scheidung einen letzten Versuch wagen: Daher die kommunale Positivitätsgruppe.
Doch es kommt anders als geplant. Statt Geirr mit der positiven Geisteshaltung aufzurichten, infiziert der Patient die Gruppe mit seinen negativen Gedanken, und in nur wenigen Stunden brechen unterdrückte Wut, Scham und Schuldgefühle, Hoffnungslosigkeit und Anklagen auf. Erstes Opfer ist Tori, die nicht nur ein blaues Auge davonträgt, sondern bei ihrem trotzigen Auszug aus dem Haus auch die Pläne für eine neues Buch über ihre „Think-positive!“-Philosophie begraben muss. Ihr ehemaliges Feelgood-Kommando ist da längst ein selbst- und fremdzerstörerischer Haufen geworden. Derart entfesselt, dreht die Runde nun erst richtig auf, keiner wird geschont, es folgen ein „Wem-geht-es-am-schlechtesten-Wettbewerb“ und diverse fehlschlagende Suizidversuche, die in ihrer Hilflosigkeit ständig zwischen lächerlich und anrührend changieren.
Der Norweger Brad Breien rechnet in seinem ersten abendfüllenden Spielfilm grandios mit der so genannten political correctness ab und zeigt, dass man sehr wohl über Behinderte lachen kann, wenn denn Erkenntnis und Verständnis aus diesem Lachen erwachsen und sich der Nichtbehinderte im Behinderten wiedererkennt.
Das nur siebenköpfige Ensemble spielt hinreißend, arbeitet den Humor mit böser Lust heraus, ohne in Stereotypen zu verfallen und ist doch nah genug am Kern der Figuren, um die melancholische Seite dieses typisch nordischen Films herauszuarbeiten. Nach dem Besuch der schon jetzt preisgekrönten Komödie ist über positive Psychologie alles gesagt: Wie das Weglächeln Verarbeitung und Trauerarbeit verunmöglicht, wie es destruktive Gefühle einkapselt, deren Erleben zwar schmerzlich, aber reinigend ist, und wie lebendig sich solche Kräfte den Weg nach draußen bahnen. Wer dennoch wütend aus dem Kino geht und meint, so könne man an dieses Thema nicht herangehen, darf sich vermutlich gern des Kotzbeutels bedienen.

Erschienen am 18.09.2008

Medialer Massenauftrieb

Samstag, 13. September 2008

Schein und Sein in Zossens Presselandschaft

Vom sich selbst gern wahnsinnig wichtig nehmenden Potsdam aus betrachtet wirkte der Einzugsbereich der Zossener Rundschau wie eine medial befriedete Zone: Die MAZ als einzige lokale Zeitung, keine Radiosender, keine Fernsehanstalt – als gewöhnlicher Volontär erwartet man da keinen besonderen medialen Auftrieb. Bekanntlich kommt es aber erstens anders und zweitens als man denkt, und von dieser vielleicht universellsten aller Weisheiten war auch Zossen nicht bereit, eine Ausnahme zu machen: Da flimmerte plötzlich Zossens Marktplatz über den Fernsehschirm, und ein stellvertretender Bürgermeister versuchte, dem nicht eben sympathisch auftretenden NDR-Filmteam eine nicht existierende Rechtslage klarzumachen: Er behauptete, im öffentlichen Raum dürfe ohne Genehmigung nicht gefilmt werden, und er sagte das mehrfach in die Kamera, zur wachsenden Amüsiertheit des Filmteams, während sich der irritierte Fernsehzuschauer fragte, ob die mediale Befriedung der Stadt so weit geht, dass man sich mit dem Presserecht im Bürgermeisteramt gar nicht auskennt? Mit „glücklos“ ist der Auftritt jedenfalls noch vorsichtig umschrieben. Und das ist pressetechnisch noch nicht alles, was einem Neuen hier begegnet: Auch die „Zossener Stimme“, die dem Amtsblatt beiliegt, kommt recht professionell daher. Gut, es scheint sich eher um ein journalistisch anmutendes Werbeblatt der Bürgermeisterin zu handeln, aber das muss in Wahlkampfzeiten ja kein Nachteil sein. Logisch, dass die anderen Fraktionen da stänkern und die „Stimme“ weghaben wollen. Aber ein Medium muss Widerstand aushalten können, hieß es im Studium immer – eine Lektion, die offenbar auch der NDR kennt: Statt nämlich – wie von der Bürgermeisterin angekündigt – die „manipulierte Darstellung“ öffentlich richtig zu stellen, brachte das TV-Team diese Woche eine zwar arg überzogene, aber muntere Nachklappe zu den Zossener Verhältnissen, in denen die Stadt nun wirklich schlecht wegkam: Hinterwäldlerisch und provinziell waren noch die geringsten Vorwürfe.
Macht also zwei Lektionen. Erstens: In Zossen ist medial die Hölle los. Und zweitens: Das versprechen vier spannende Monate zu werden.

Erschienen am 13.09.2008

Vom Bürohengst zum Superhelden

Donnerstag, 4. September 2008

Timur Bekmambetovs „Wanted“

Er ist zu allem Übel auch noch geräuschempfindlich, der frustrierte Büroangestellte Wesley Gibson (James McAvoy). Wenn nachts die Züge direkt am Fenster seiner Absteige vorbeidonnern oder seine übergewichtige, schikanöse Chefin ihren zur Allzweckwaffe missbrauchten Tacker seinem Ohr nähert: Gibson zuckt ständig zusammen. Auch sonst führt er eine erbärmliche Existenz. Ängstlich schleicht er durch den Arbeitsalltag als verlachte Null im Großraumbüro. Dass sein vorgeblich bester Freund und Kollege währenddessen zuhause Gibsons Freundin beglückt, ist da nur das Sahnehäubchen der Demütigung.
Das ändert sich dramatisch, als beim nächsten Beruhigungsmittelkauf die geheimnisvolle Fox (Angelina Jolie) an der Kasse auf Gibson wartet und ihm in aller Kürze mitteilt, dass er der Sohn eines legendären Auftragsmörders sei. Prompt wird heftig geschossen, denn der Mörder des Vaters will nun auch dem Sohn ans Leder.
Es ist der Auftakt zu einer knapp zweistündigen Actionhatz, in der die Gesetze der Physik, die Logik des Drehbuchs und eine dichte Story nicht viel gelten: Dafür gibt es rasante Action auf der Straße, in Zügen und Schluchten. Dem Anschlag mit knapper Not entkommen, lernt Wesley, dass sein Vater Mitglied eines Geheimbundes war, der sich die „Waffen des Schicksals“ nennt. Aus einem mystischen Webstuhl erfährt diese Bruderschaft um den charismatischen Sloan (Morgen Freeman), wer als nächstes zu töten sei. Fragen werden nicht gestellt, das Urteil des Gewebes ist eine Schicksalsbotschaft. Hinnehmen muss das auch der Kinobesucher, denn Weiteres über den ominösen Webstuhl und die Hintergründe dieser ethisch höchst bedenklichen Clique lässt der Film im Dunkeln. Vor der Aufnahme in den Zirkel und der Rache am Mörder des Vaters muss sich Gibson ebenfalls zum Vollstrecker des Webstuhls ausbilden lassen, eine Tortur, die selbst im Kinosessel Schmerzen bereitet.
Im Grunde sind es längst bekannte Motive, die der in Kasachstan geborene Regisseur Timur Bekmambetov in seinem auf einer Comicvorlage basierenden ersten Hollywood-Film verarbeitet: Der ängstliche Normalo wird unter Druck zum Superhelden, vermeintliche Förderer entpuppen sich als korrumpierte Manipulateure und die Suche nach dem Vater enthält wesentlich mehr als nur einen Spritzer Ödipus.
Dass „Wanted“ dennoch 110 Minuten lang ganz gut unterhält, ist neben dem hohen Tempo, das kaum Zeit zum Nachdenken lässt, vor allem dem hervorragenden Schauspielerensemble zu verdanken: James McAvoy („Der letzte König von Schottland“) gelingt es gar, die vom Film kaum hinterfragte Wandlung vom Bürohänger zum Bruderschaftshelden überzeugend darzustellen, Morgan Freeman wirkt als charismatischer Bruderschaftsvorsteher fast schon unterfordert – und beeindruckt darum umso mehr. Das restliche Ensemble hat kaum Sprechakte und bleibt entsprechend unauffällig.
Lediglich Angelina Jolie beweist erneut, dass ihr die verführerische, arrogante Amazone immer noch am besten liegt: Ein spöttisches Zucken ihres Mundwinkels, und viele Schwächen des Films sind verziehen. Etwa das Ende, das nicht nur vorhersehbar, sondern in seiner gnadenlosen Überfrachtung mit Action und Gewalt nur noch ermüdend ist.

Erschienen am 04.09.2008

Das wiedererweckte Wort

Samstag, 23. August 2008

In einem Dorf an der Müritz steht Deutschlands einzige Hörspielkirche. Konzipiert und umgebaut wurde sie von einem Potsdamer.

Gemessen an der Größe seines Kirchleins hat Pastor Leif Rother eine geradezu luxuriöse Audioanlage zur Verfügung. Auch ein Beamer-Anschluss und Internet-Verbindung sind für eine Kirche aus dem 13. Jahrhundert nicht unbedingt der Ausstattungs-Standard. Das wundert um so mehr, wenn man bedenkt, dass es Federower geben soll, die vor fünf Jahren gar nicht mehr wussten, dass ihr 700-Seelen-Dorf am Eingang zum Müritz-Nationalpark überhaupt eine eigene Kirche hat.
Er erregte eben nicht viel Aufmerksamkeit, der fast schon schmucklose Backsteinbau, zwar zentral gelegen, doch ohne weithin sichtbaren Turm und hinter dichtem Fliedergestrüpp verborgen. Mehr als 20 Jahre lang verfiel die stillgelegte Kirche – auf durchaus malerische Art – hinter diesem Dickicht, die Gemeindemitglieder fuhren indes zum Gottesdienst in die Warener Marienkirche oder ins benachbarte Kargow.
Dann kam Jens Franke. Der Potsdamer Architekt besuchte einen ehemaligen Kommilitonen an der Müritz, und die Kirche lag auf dem Weg. „Wenn du eine Nutzungsidee hast, kannst du sie umbauen“, soll der Freund gesagt haben. Für einen wie Franke genügt das, um Feuer zu fangen. „Du kannst tausendmal Architekt sein, wirst aber nie eine Kirche bauen“, sagt er. Weil Kirchen eigene Architekten haben, und weil Kirchenbau in Zeiten schwindender Gemeindegrößen ein seltenes Geschäft geworden ist. Also musste eine Nutzungsidee her. Auf verschlungenen Assoziationspfaden – im Radio hatte Franke vom Hörspielplanetarium in Berlin gehört – kam ihm schließlich eine Hörspielkirche in den Sinn.
Das war 2003, und was folgte, war ausgiebiges Klinkenputzen. Die Kirchgemeinde konnte sich eine Hörspielkirche prinzipiell vorstellen, doch woher das Geld kommen sollte, blieb offen. Also schrieb Franke an den Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB), denn der hatte auch das sehr erfolgreiche Hörspielplanetarium aus der Taufe gehoben. Dort half man, ein Konzept zu erstellen, doch Geld hatte der RBB auch nicht übrig. Selbst der Mecklenburgische Landesbischof erteilte dem Plan seinen Segen, konnte aber kein Säckel öffnen. So war es schließlich die EU, die mit einer Förderung von 160 000 Euro den entscheidenden Impuls gab: Federow bekam wieder eine nutzbare Kirche, Hörspielfreunde eine neue Pilgerstätte und der Architekt Franke den Auftrag, sie umzubauen.
Wirtschaftlich betrachtet, war es für Jens Franke dennoch ein Verlustgeschäft, aber eines mit Ansage: Unzählige Arbeitsstunden sind inzwischen in die Organisation, die Bekanntmachung und die Betreuung der Hörspielkirche geflossen, während der Spielzeit von Mai bis September fährt Franke jede Woche einmal die 185 Kilometer von Potsdam nach Federow – und zurück. Weil die Kirche keinen Eintritt erhebt, weil immer jemand die CDs starten muss und auch sonst jede Menge Arbeit anfällt, ist das Projekt nach wie vor nicht selbsttragend: Freiwillige Spenden, viel ehrenamtliche Arbeit der Federower Gemeindemitglieder sowie Zuschüsse vom Kultusministerium und nicht zuletzt CD-Verkäufe sorgen aber für einen leidlich ausgeglichenen Haushalt. Zur öffentlichen Einweihung 2005, als die Potsdamer Schriftstellerin Helga Schütz in der Kirche las und der Putz von der Decke rieselte, war das Spendenaufkommen so groß wie später nie wieder. „Wenn wir mehr Geld einnehmen wollten, hätten wir nicht sanieren dürfen“, sagt Franke trocken.
Doch natürlich ist der Potsdamer stolz auf die Kirche, die nun wieder mit frischem Putz zwischen den uralten Feldsteinen und leuchtend gelbem Vorbau erstrahlt. Der Dachstuhl wurde komplett saniert – das marode alte Gebälk drückte bereits die Wände auseinander – und auf besonderen Wunsch der Kirchgemeinde gestaltete Frankes Schwester, die in Berlin als Künstlerin arbeitete, drei neue, farbige Fenster, die das alte Klarglas ersetzen. Einen „schönen, introvertierten Raum“ nennt Jens Franke das Ergebnis, denn ein direkter Blick nach draußen ist nun nicht mehr möglich. Das ist gewollt: Wenig soll den Hörenden vom Text und dem Klang der Stimmen ablenken. Die Voraussetzungen dafür sind gut, denn Kirchräume sind fürs gesprochene Wort gemacht. Franke war daher wenig überrascht, als die Akustik-Berechnungen ein hervorragendes Klangerlebnis voraussagten.
Das ist durchaus ein Argument, wenn der Potsdamer bei den großen Hörspielproduzenten – allen voran den öffentlich-rechtlichen Radiostationen – um günstige Aufführungsrechte ersucht. „Wenn wir hier mit einem Ghetto-Blaster aufliefen, würden viele gleich wieder auflegen“, sagt er. Das Programm umfasst neben Krimis – selbst Derrick gibt es als umfangreiche Hörspielserie – vor allem gut umgesetzte hochklassige Literatur: Hemimgway, Fontane, Tucholsky, vor allem Stücke mit regionalem Bezug wie „Der Stechlin“ oder „Rheinsberg“ laufen gut. Außerdem gibt’s hin und wieder klassische Musik zu hören, und einmal am Tag ein Programm für die Kinder, meist schöne DDR-Aufnahmen bekannter Märchen wie „Zwerg Nase“ oder „Das kalte Herz“. Viele gute Hörspiele rettet Franke auf diese Weise davor, in den Archiven zu verstauben.
Was die Raumnutzung angeht, so hat das Bauwerk durchaus die Gesetze diktiert: Anfängliche Ideen, die Zuschauerplätze im Kreis anzuordnen oder eine Liegelandschaft anzubieten, erwiesen sich schon im Konzeptstadium als unpraktikabel. „Über Jahrhunderte hat sich eine Sitzordnung in Kirchen etabliert, und das hat ganz offenkundig seinen Sinn“, musste der Architekt lernen. Die harten Sitzbänke verhindern allzu bequeme Haltungen und damit ein Entgleiten der Aufmerksamkeit, die Ausrichtung nach vorn hilft, sich nicht ablenken zu lassen – „nicht mal von der hübschen Frau neben sich“, sagt Franke.
7500 Gäste haben diese Erfahrung im Jahr 2007 gemacht, 6000 davon beließen es dabei, Deutschlands einzige Hörspielkirche zu besichtigen, 1500 hörten auch. Für Franke ist das ein „Super-Schnitt“, denn mehr als 30 Personen zugleich passen ohnehin nicht bequem ins Kirchlein, und dass an manchen Tagen eine der drei Aufführungen leer bleibt, ist bei kostenlosen Vorführungen verschmerzbar. Wichtiger ist ihm, dass die Hörspielkirche bekannter wird. „Der Charme des Neuen ist längst weg“, sagt er, „und dass trotzdem jedes Jahr mehr Leute kommen, zeigt, dass wir es richtig gemacht haben.“ Wiederholbar ist das allerdings nicht ohne Weiteres: Sein Nachfolgeprojekt, einen Hörspielbahnhof in Joachimsthal (Märkisch Oderland) hat Franke mittlerweile für gescheitert erklärt. Er nennt das die „Evolution des Erfolgs“ und freut sich um so mehr, zumindest in Federow „einen vergessenen und verlorenen Ort aus dem Dunkeln ans Licht geholt“ zu haben – mit Kirche, Kunst und Kultur als Paten.

Info-Box: Hörspiele, Kinderprogramm und Klassik
Federow liegt direkt an den Toren des Müritz-Nationalparks. Rund 700000 Touristen kommen jedes Jahr durch das beschauliche 700-Seelen-Dorf.
Die Hörspiel-Saison der Kirche begann in diesem Jahr am 11. Juli und endet am 14. September.
Täglich ab 11 Uhr stehen die Kirchentüren offen, um 15 Uhr steht ein Kinderhörspiel auf dem Programm, ab 16.30 Uhr tönt klassische Musik aus der Anlage, ab 18.30 läuft ein Hörspiel für Erwachsene.
Jeden Mittwoch bieten die Veranstalter zusätzlich eine „blaue Stunde“ an: Ein gruseliges Krimi-Hörspiel, das um 20 Uhr beginnt.
Auch Lesungen stehen auf dem Programm: Am 5. September wird der in Potsdam lebende Fernsehjournalist Dirk Sager von „Russlands hohem Norden“ berichten.
Im Kinderprogramm laufen etwa „Der kleine Muck“, „Zwerg Nase“, „Das kalte Herz“, „Die Bremer Stadtmusikanten“ oder „Pinocchio“.
Im Musikprogramm erklingen Operngalas, Mozarts Requiem und der Thomanerchor.
Im Hauptprogramm sind unter anderem Fälle von Sherlock Holmes und Prof. van Dusen ebenso zu hören wie Werke von Edgar Allen Poe, Heinrich Heine, Edgar Wallace, Homer, Hemingway und Schiller.
Das volle Programm sowie weitere Informationen – auch zur Anreise – stehen im Internet unter der Adresse www.hoerspielkirche.de

Erschienen am 23.08.2008

Reichlich, kräftig, frisch

Samstag, 23. August 2008

Letscho statt Limoncello-Jus, Bauernfrühstück statt Basilikum-Schaum: im Krug Gollin isst man bodenständig.

Um festzustellen, wie die Verkehrssituation auf der 15 Kilometer entfernten Autobahn A11 ist, genügt Corinna Kühnke ein Blick in den Gastraum. Ist er spärlich besetzt, fließt der Verkehr. Gibt es Stau, platzt der „Krug Gollin“ hingegen aus allen Nähten. „Wir kriechen dann auf dem Zahnfleisch“, sagt die Wirtin. Die A11 ist Segen und Fluch zugleich für den „Krug“. Einerseits schwemmt sie mögliche Gäste in die Uckermark und – wenn es mal wieder staut – auch in den „Krug“, andererseits lenkt sie die Verkehrsströme von Berlin Richtung Ostsee 15 entscheidende Kilometer östlich an Gollin vorbei. Das war nicht immer so: Als noch die B109 durch den Ort führte, füllte sie das Haus zuverlässig, besonders im Sommer.
Jene verkehrsgünstige Lage war auch der Grund, warum Corinna Kühnke sich vor neun Jahren entschloss, den „Krug“ im ansonsten verschlafenen Gollin zu übernehmen. Dass die Autobahn ihr soviele Gäste stiehlt, habe sie nicht kommen sehen, sagt sie. Kühnke ist im „Krug“ einige Jahre aufgewachsen. Ihre Eltern betrieben die Gaststätte von 1970 bis 1975, und die Tochter trat mit einer Kellnerlehre in deren Fußstapfen. Dann verbrachte sie 20 Jahre in einem anderen Beruf, doch der „Krug“ rief sie zurück. Als er 1999 zum Verkauf stand, zögerte die Mittvierzigerin nicht lange. Während des Komplettumbaus verkaufte sie ein Jahr lang Speisen aus dem Fenster heraus.
Die Version, dass der „Krug“ sie zurückgerufen habe, würde Kühnke als romantisierenden Unfug abtun. Sie pflegt einen eher spröden, direkten, bodenständig-uckermärkischen Charme. „Er stand halt zum Verkauf, ick hab mich an früher erinnert, meinen Mann gefragt und dann haben wir es halt gemacht“, sagt sie. Thema erledigt.
Es muss dennoch Herzblut darin stecken, denn die Arbeit ist nicht unerheblich: Corinna Kühnke plant, organisiert, kocht, bedient, füllt Getränke ein, macht Abrechnungen, liefert Bestellungen aus, putzt und räumt auf – unterstützt nur vom Mann, von der Schwiegermutter und, wenn es völlig überfüllt ist, von ein paar Aushilfskräften. Am Wochenende müssen die beiden Kinder mit anpacken, wenn sie sich denn blicken lassen.
Auch heute lebt der „Krug“ noch von den Reisenden – er zog schon um 1850 als Postkutscherstation zwischen Berlin und Prenzlau hungrige, durstige oder müde Reiter und Kutscher an. Heute sind es vor allem Ur-Berliner und Potsdamer, die lieber die schöne Landstraße unter uckermärkischen Bäumen fahren, statt die hektische, anonyme Autobahn. Aus Tradition und wegen der bodenständigen Küche kehren sie gern im „Krug“ ein. Die Karte ist übersichtlich, aber traditionell und regional gehalten: Das Wildangebot richtet sich täglich danach, was dem Jäger am Vorabend vor die Flinte lief, die Pilzauswahl nach der Saison und dem Finderglück der lokalen Anbieter, der Spargel kommt ausschließlich aus Beelitz und die Forellen und Zander aus den Seen der Schorfheide. Darüber hinaus gibt’s, was es immer gibt in ländlichen Lokalen: 1,2 Kilo Rieseneisbein, Sülze, Schnitzel mit Letscho, Rinderrouladen, Rinderleber, Bauernfrühstück, ungarisches Gulasch. Immer reichliche Portionen, immer kräftig gewürzt, immer frisch, zu höchst zivilen Preisen. 13Euro für das Rieseneisbein markieren die Obergrenze der Karte, die auch im Bereich Wein übersichtlich bleibt: zwei Rot- und zwei Weißweine, je einer süß und einer trocken – Punkt.
Corinna Kühnke weiß um den Charme dieses Angebots und erzählt stolz, dass häufiger Gäste aus den „feinen Hotels“ in ihren nicht eben lichten, mit dunklem Holz ausgekleideten Gastraum kommen, um mal ein handfestes Bauernfrühstück oder eine rustikale Roulande zu essen – „den feinen Kram bekommt ja niemand auf Dauer runter“, sagt sie. Viele genießen auch die entspannt-ländliche Atmosphäre. Für die Kinder hält der „Krug“ einen Miniatur-Streichelzoo vor: Hängebauchschweine, Meerschweinchen, Kaninchen, einen Fischteich. So können die Eltern in Ruhe essen, während der Nachwuchs über den riesigen Hof tobt. „Die Kinder“, sagt die Wirtin, „geben doch lieber einem Karnickel einen Nasenstüber, statt sich aus der Entfernung eine Giraffe anzuschauen.“ Das ist die Logik, die das Konzept des „Krugs“ ausmacht: Die meisten essen schließlich auch lieber im urigen Lokal an der Landstraße ein Schnitzel, statt im Stau auf der Autobahn Tankstellenessen aus der Mikrowelle zu verdrücken.

Info: Krug Gollin, Golliner Dorfstraße 36, 17268 Templin, Tel. (039882) 4 91 60

Am Markt vorbei

Freitag, 22. August 2008

Jan Bosschaart über dringend nötige Innovationen im Obst- und Gemüsehandel

Die Probleme der Menschheit lassen sich nicht in einer einzigen, großen Geste lösen. Es gilt, klein anzufangen, sich mit Trippelschritten zu begnügen und zu hoffen, dass es sich am Ende zu einer besseren Welt fügt. Das hat endlich auch der Einzelhandel verstanden: Eine britische Supermarktkette bietet seit kurzem eine Orangen-Art an, die leichter zu schälen ist. In rund 35 Sekunden sei die Spezialzüchtung ihrer Hüllen entrissen, teilt das Unternehmen mit und hofft, der seit Jahren rückläufige Absatz bei Zitrusfrüchten erhole sich nun. Offenbar ist der Brite schälfaul geworden. Die Idee kann nur ein erster Schritt sein – hier tun sich weite, noch unbeackerte Felder auf. Wann kommt endlich der erste Maiskolben, der, wenn man eine Reihe abgenagt hat, mit sanftem „Pling!“, der Schreibmaschine gleich, sich von selbst zum Anfang der nächsten Reihe schiebt? Wann jene mit Fliegengenom gekreuzte Wassermelone, deren Kerne sich beim Aufschneiden selbst entfernen? Dass es immer erst in der Auslage gammeln muss, bevor auch der Handel begreift, dass Mutter Natur völlig am Markt vorbeiproduziert.

Erschienen am 22.08.2008

Zu früh gefreut

Mittwoch, 20. August 2008

Jan Bosschaart über die Tücken der Liebe unter radbewehrten Schildkröten

Glück, schrieb ein sehr kluger, aber auch sehr abgeklärter Mann, sei auch nichts weiter als die Erleichterung, wenn ein lange währendes Unglück plötzlich vorüber ist. So müssen wir uns Jerusalems prominenteste Schildkrötendame als glückliches Reptil vorstellen: Jahrelang war die einst fröhliche Echse völlig am Boden, weil ein böses Geschick ihr die Hinterbeine lähmte. Doch im Zoo, wohin sie kürzlich gebracht wurde, montierte man ihr einen Wagen unters Gesäß. Seither flitzt die Dame quietschend, aber putzmunter übers Gelände. Nun hat sich die behände Kröte gar stante pede ins Herz eines Schildkrötenmanns gerollt. Der Herr sei sehr beeindruckt, heißt es, und laufe ihr – obgleich radlos – unermüdlich hinterher. Jerusalems Behindertenverband feiert das als Beleg, dass selbst im Tierreich Behinderung kein Verhängnis für die Liebe sein muss. Langsam, Freunde! Abgeklärt betrachtet käme auch eine Mischung aus männlichem Vehikelneid und technischer Neugier als Motivation in Frage. Hoffen wir, dass sich die Dame, sobald sie’s entdeckt, keinen Charakterpanzer zulegt.

Erschienen am 20.08.2008


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