Archiv für die Kategorie „Märkische Allgemeine“

Weitsicht und Vernunft

Dienstag, 22. Januar 2008

Jan Bosschaart über den Stellenabbau im Brandenburger Strafvollzug

Sie haben ja recht, die Vollzugsbediensteten: Es ist nicht eben einleuchtend, wenn allenthalben über Kriminalität und schärferen Vollzug debattiert wird, zugleich aber viele Mitarbeiter aus den Haftanstalten entlassen werden. Wo Fordern und Handeln so auseinanderklaffen, kann der Ruf nach harten Strafen von seinem eigenen Echo übertönt werden, wie Hessens Ministerpräsident Koch dieser Tage gerade lernt. In der Justiz sparen, aber mehr von ihr verlangen, passt nicht zusammen. Doch die naheliegende Politikerschelte trifft zumindest in der Mark auch nicht den Kern der Sache: Die Ministerien müssen eben sparen, und angesichts leidlich guter Verhältnisse in den Haftanstalten – relativ viel Personal, relativ wenige Insassen – setzt die CDU-Ministerin eben dort den Rotstift an. Dass sie den Jugendvollzug verschont, ja sogar ein wenig mit Personal päppelt, spricht für Sensibilität und Weitsicht: Als das Jugendstrafvollzugsgesetz im Dezember den Landtag passierte, war der hessische Wahlkampf noch kein Spitzenthema. Dass Beate Blechinger statt mehr Schließern ausschließlich Psychologen und Pädagogen zur Aufstockung des Personals heranzieht, zeigt zudem, dass hier auch Sachlichkeit und Vernunft walten können – trotz Wahlkampfs ihrer Partei in Hessen.

Erschienen am 22.01.2008

„Wie früher!“

Montag, 14. Januar 2008

Jahrestag: Zehntausende gedachten in Berlin Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs

BERLIN Hilde Ketter ist vorbereitet. Dick angezogen und zusätzlich von einer Decke gewärmt, sitzt die 72-Jährige kurz nach 9 Uhr am Sonntagmorgen auf dem Balkon ihrer Wohnung in der Frankfurter Allee, auf dem Schemel neben sich ein kleines Fernglas und eine Thermoskanne mit frischem Kaffee. Unter ihr, ein Stück die Allee hinab, sammeln sich etwa 50 linke Gruppen zum alljährlichen Gedenkmarsch anlässlich des Jahrestages der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Mit Trommeln, Trillerpfeifen und Parolen vertreiben sie die Kälte, allgegenwärtige Polizisten kontrollieren jeden Neuankömmling auf Waffen und Wurfgegenstände, und die Demonstrationsleitung erinnert per Megaphon an die Regeln: Keine Stahlkappenschuhe, schön zusammenbleiben und Transparente stets in Laufrichtung halten, nicht zur Seite. „Von mir aus kann’s losgehen“, sagt Frau Ketter, die bereits bei der zweiten Tasse Kaffee angekommen ist und langsam ungeduldig wird. Die Kälte kriecht selbst unter die Decke.
Doch unten schert man sich nicht um die Wünsche der älteren Dame, die „aus Nostalgie“ jedes Jahr den Gedenkmarsch zu Ehren der 1919 von rechten Freikorps ermordeten Arbeiterführern beobachtet. Mit „den Sozen“ habe sie zwar „nichts am Hut“, sagt sie, doch „den Aufmarsch“ schaue sie gern an. „Auch wenn früher viel mehr los war“, fügt sie enttäuscht hinzu. Zu DDR-Zeiten organisierte Politbüro das Gedenken an „Karl und Rosa“, Hunderttausende zogen damals zur „Gedenkstätte der Sozialisten“ auf dem Friedhof Friedrichsfelde. An diesem Sonntag sind es immerhin 3400 Demonstranten, die sich in den Zug einreihen, der „mit kommunistischer Pünktlichkeit“, wie der Sprecher betont, um exakt 10 Uhr startet.
Zwei Punkte sind es, die den Umzug in diesem Jahr herausheben: Zum einen haben rechte Gruppen Krawall angedroht, weshalb die Demonstrationsleitung ein wenig nervös wirkt, zum anderen ist es 20 Jahre her, dass eine kleine Gruppe Dissidenten 1988 auf der Demonstration mit einem Rosa-Luxemburg-Plakat für Meinungsfreiheit warb: „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“ stand darauf, es war nur kurz zu sehen, bevor Sicherheitskräfte das unterbanden, sorgte aber für Wirbel in westdeutschen Medien. Beide Punkte spielen an diesem Sonntag jedoch keine große Rolle: Von Rechten ist weit und breit nichts zu sehen, wohl auch wegen der massiven Polizeipräsenz, und weil eine NPD–Gegendemonstration verboten wurde. Und an die Dissidenten erinnert niemand öffentlich. Die Linkspartei nimmt ohnehin nicht am Umzug der tendenziell sehr linken Gruppen teil, sondern beschränkt sich auf stilles Gedenken und eine Kranzniederlegung, an der unter anderem Parteivorsitzender Lothar Bisky, Fraktions chef Gregor Gysi und Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau teilnahmen. Auch viele Nichtparteigänger kommen an diesem Tag zum Ehrenmal, die meisten mit einer roten Nelke in der Hand. Die Veranstaltungsleitung spricht von etwa 70 000 Besuchern.
Als der Demonstrationszug endlich unter ihrem Balkon vorbeikommt, hellt sich auch Hilde Ketters vor Kälte gerötetes Gesicht auf: Sie hat eine DDR- und eine FDJ-Fahne in der Menge ausgemacht. Als der Zug auch noch die „Internationale“ anstimmt, huscht ein Lächeln über ihr Gesicht: „Wie früher!“ sagt sie.

Erschienen am 14.01.2008

Netter Versuch!

Samstag, 12. Januar 2008

Jan Bosschaart über den Alarmismus der Wirte beim Nichtraucherschutz

Das Trommeln in eigener Sache gehört zum Handwerkszeug im Verbandsgeschäft. Dazu sind Verbände da: um die Kräfte zu bündeln und der geeinten Stimme mehr Gewicht zu verleihen. Dieses Gewicht aber muss Uwe Strunk, Hauptgeschäftsführer des Brandenburgischen Hotel- und Gaststättenverbandes, schwer auf der Seele gelastet haben, als er ein Interview über den Ärger der Gastwirte wegen des Rauchverbots gab. Es ließ aus dem Trommeln einen veritablen Paukenschlag werden. Dass es Cafés gebe, in denen seit dem 1. Januar deshalb nicht einmal ein Stück Kuchen verkauft wurde, behauptete er. Mag sein, dass ihn der Knall selbst erschreckt hat, denn ein konkretes Beispiel blieb der Cheflobbyist der märkischen Wirte auch auf Nachfrage schuldig. Sein angedeuteter Fall in der Prignitz beruht bei genauerem Hinsehen jedenfalls eher auf einer Mischung aus Angst vor dem Ausbleiben der Raucher und der saisonal typischen Flaute im Gastgewerbe. Das heißt nicht, dass das Rauchverbot nicht die Gefahr birgt, kleine Lokale in den Ruin zu treiben. Es beweist nur, dass es für solche Aussagen noch zu früh ist. Bis das geklärt ist, gilt: Netter Versuch, Herr Strunk!

Erschienen am 12.01.2008

Lauwarmer Entzug

Donnerstag, 3. Januar 2008

Nichtraucherschutz: Seit Neujahr gilt das Rauchverbot in Gaststätten, aber nicht jeder hält sich daran

Seit drei Tagen ist die Zigarette im Lokal verboten. Die Gastwirte reagieren mit kaltem Entzug, langsamer Entwöhnung – und strikter Verweigerung.

POTSDAM Richard Putters Welt ist in der Silvesternacht ein kleines Stück heller geworden. Der 33-Jährige, der sich selbst als Gourmet, als Wein- und Kaffeekenner bezeichnet, geht seither mit weniger Vorbehalten in Restaurants und Cafés. „Ich habe nie verstanden, wie man in nikotingetränkter, rauchverpesteter Luft Genuss erleben soll“, sagt der Potsdamer und wedelt imaginäre Rauchschwaden weg. Die Geste ist überflüssig: Im Spezialitätenkaffee in den Potsdamer Bahnhofspassagen, wo Putter seinen Latte Macchiato schlürft, sind die Aschenbecher seit dem 1. Januar abgeschafft worden. Und Putter ist nicht der einzige, den das freut. „Einige Gäste sind froh, jetzt überall sitzen zu können, nicht nur in der Nichtraucherecke“, sagt Filialleiterin Yvonne Sprenger. Einige, aber nicht alle: Fünf Gäste machten auf der Schwelle kehrt, als sie vom kategorischen Rauchverbot im Café erfuhren, zwei weitere haben diskutiert, letztlich aber doch einen Kaffee bestellt.
So rigoros wie dort verfuhr man nicht überall: Die meisten Lokale ließen ihre Gäste in der Silvesternacht auch nach 0 Uhr weiterrauchen. „Aschenbecher einsammeln wäre uns zu albern gewesen“, sagt Bob Demtröder vom Potsdamer Alex-Restaurant. Doch auch bei ihm gilt seit Dienstagmittag: Wer seine Zigarette braucht, muss vor die Tür. Dort stehen Wärmedecken und Heizpilze bereit. Weil einige Kunden ihrem Unmut lautstark Luft machten, wird das Alex künftig bis zum frühen Abend auch das Rauchen zumindest an der Theke wieder erlauben – zu viele drohten, nicht wiederzukommen. Das aber kann nur eine Übergangslösung sein: Spätestens zum 30. Juni ist auch damit Schluss, denn dann werden die im Nichtraucherschutzgesetz bislang nur angedrohten Bußgelder auch erhoben: 100 Euro für rauchende Gäste und 1000 Euro für Wirte, die das nicht unterbinden. Bis dahin kocht jeder sein eigenes Süppchen: Vom rigorosen Entsorgen aller Aschenbecher über die Auslagerung rauchender Gäste in den Raucherraum bis zur maximalen Ausnutzung der Übergangsphase – oder durch radikale Verweigerung. Dabei ist eine Zweiteilung zu beobachten: Während die gehobenen Restaurants und Hotels seit dem Neujahrstag den Tabakqualm aus ihren Räumen verbannt haben, weigern sich die Eckkneipen und Bars noch.
So wie Ulrich „Uli“ Kasiske. Kasiske ist Kneipier in Berlin-Friedrichshain und ein erbitterter Gegner des neuen Gesetzes. Gemeinsam mit zwei Stammgästen hat er die „Initiative für Genuss Berlin“ gegründet, die in der Hauptstadt fleißig Unterschriften gegen das Gesetz sammelt. 20 000 benötigt sie in einer ersten Stufe, rund 6000 hat Kasiske schon zusammen. „Bei mir rauchen 95 Prozent der Gäste“, sagt er, „ich will ja nur, dass jeder Wirt selbst entscheiden darf.“ Mit seiner Initiative und mit der Ankündigung, in ein noch einzurichtendes Raucherzimmer seiner Kneipe einen Tunnel einzubauen, damit Nichtraucher nikotinfrei zu den Toiletten gelangen, hat er es in diesen Tagen bereits zu einiger Presseberühmtheit gebracht.
Am Tag zwei der rauchfreien Gaststätten formierte sich auch der Widerstand. Nicht jeder ging dabei so weit wie jener Gast eines Restaurants auf der Nordseeinsel Wangerooge, der aus Wut über das Rauchverbot auf den Wirt mit einer Bierflasche einprügelte: Der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband Dehoga etwa beschränkte sich darauf, seine Kritik an den Gesetzen zu erneuern. Bereits kurz vor Weihnachten strengte der Verband eine Klage vor dem Bundesverwaltungsgericht an, um vor allem die Eckkneipen zu schützen. Bayerische Wirte, die dem strengsten Gesetz ausgesetzt sind, erklärten gestern, sie planten zudem eine Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe, und die Internetseite „Zigarrenplattform.de“ rief „alle Tabakgenießer und politisch wachen Nichtraucher“ auf, „die Ausbreitung einer Verbotskultur in Deutschland zu bekämpfen!“. Aus einer anderen Richtung kam Kritik von der brandenburgischen Bundestagsabgeordneten Petra Bierwirth (SPD), die Chefin des Umweltausschusses ist: Sie forderte einen Verzicht auf Heizpilze, die Wirte vor ihren Lokalen aufstellen, um rauchende Gäste nicht in der Kälte stehen zu lassen. Die Geräte führten zu einem enormen CO2-Ausstoß.
Auch in Frankreich und Portugal gelten seit dem 1. Januar Rauchverbote in Lokalen. Das fiel vor allem Antonio Nunes auf die Füße: Der Chef der für das portugiesische Nichtraucherschutzgesetz zuständigen Behörde wurde in der Silvesternacht von einer Tageszeitung rauchend in einem Lissabonner Kasino ertappt. Ihm sei nicht bewusst gewesen, dass das Gesetz auch Kasinos einschließe, gab er zu Protokoll und will nochmal nachlesen.

Erschienen am 03.01.2008

Manchmal ist Montagnacht mehr los

Mittwoch, 2. Januar 2008

Polizeireport_ Die Landeshauptstadt blieb weitgehend ruhig / Eine Silvesternacht im Streifenwagen

Tausende auf den Straßen, reichlich Alkohol im Spiel und jeder Zweite hat ordentlich Feuerkraft im Gepäck – Silvester kann ein Albtraum für Polizisten sein. Kann es, muss es aber nicht.

Um 23.50 Uhr senkt sich eine seltsame Ruhe über die Polizei-Wache Potsdam-Mitte. Während ringsum alles aus den Häusern und Restaurants strömt, während vor der gegenüberliegenden Spielbank die Zocker ihre Raketen in Position bringen und der Lärmpegel, der durchs Wachenfenster dringt, stetig anschwillt, herrscht drinnen Stille. Drei Funkwagen sind gerade mit Geheul davongebraust, Richtung Luisenplatz, wo jemand eine Zusammenrottung meldete, die sich als Irrtum herausstellen wird. Im Hinterzimmer koordiniert jemand per Funk die Wagen, vorn, am Thresen, tippt ein Beamter konzentriert Berichte in den Computer. Die Minuten rinnen dahin. Punkt 0 Uhr erhebt sich ein Heidenlärm vorm Fenster – vor der Spielbank detoniert der Parkplatz. Der Tippende hebt kurz den Kopf zur Uhr. „Oh,“ sagt er, „is schon soweit.“ Es ist eine Mischung aus Frage und Feststellung, gefolgt von einem zu sich selbst gemurmelten „Nadann: Frohesneues!“.
Dienstgruppenleiter Jens Kneip und seine Stellvertreterin Peggy Wölk haben in dieser Nacht Dienst – von 6 Uhr abends bis 6 Uhr morgens. Kurz nach 0 Uhr sitzen sie wieder im Funkwagen. Zwischen der Nichtzusammenrottung am Luisenplatz und der Routinerunde durch die Stadt lag ein kurzer Halt in der Wache, kurze Neujahrsgrüße an die Kollegen, dann zurück in den Wagen.
Im Slalom geht es zunächst die Zeppelinstraße entlang. Dicke Nebelschwaden von detonierten Böllern und aufgestiegenen Raketen erschweren die Sicht auf die Fahrbahn – was angesichts vieler auf der Straße stehender Potsdamer und allgegenwärtiger Flaschen, die als Raketenabschussrampen dienten, durchaus ein Sicherheitsrisiko ist. „Wir wollen ja nicht, das einer als Kühlerfigur endet“, sagt Jens Kneip trocken, während Peggy Wölk die Funkgeräte überwacht. Der erste Wunsch der beiden ans neue Jahr lautet: Es möge wenig passieren in dieser Silvesternacht. Bislang ging das in Erfüllung, aber vorerst garantiert nichts, dass es dabei bleibt. Kritisch sind die Zeiten direkt nach Mitternacht und noch einmal kurz vor Dienstschluss gegen morgen, wenn der Kehraus der Übriggebliebenen aus den Lokalen und Diskotheken stattfindet. Doch jeder Dienst ist anders: „Wir hatten schon Montagnächte, da war mehr los als an manchem Silvester“, sagt Peggy Wölk. Es scheint, als sollte diese Nacht ein solche werden. Nur das nie ruhende Funkgerät kündet von kleineren Einsätzen: Brennende Balkone, auf denen eine Rakete landete, ein mitternächtlicher Wohnungsbrand in Babelsberg nahe dem Lutherplatz, gesprengte Briefkästen, deren wütende Besitzer einen Nachweis für die Versicherung benötigen und ein Linienbus, der von einer Flasche getroffen wurde und wegen der durchschlagenen Frontscheibe aus dem Verkehr gezogen werden muss. An der Orangerie liegt eine Laterne auf der Fahrbahn, doch wer auch immer sie umstieß, ist längst verschwunden. In Fahrland haben Gastgeber einen betrunkenen Gast vor die Tür gesetzt, der damit gar nicht einverstanden war, die Haustür eintrat und den Gastgeber schlug. Das alles erfahren die Dienstgruppenleiter nur per Funk: Meist ist ein anderer Wagen schneller. So pendeln Kneip und Wölk in dieser Nacht 250 Kilometer zwischen Bornstedt und Zeppelinstraße, lauschen dem Funk, kommentieren die Kollegen und amüsieren sich verhalten, wenn die Leitstelle zwischendurch kurzzeitig den Überblick verliert und Funkwagennummern verwechselt. Gegen drei Uhr machen sie wieder in der Wache Station. Durchs Fenster ist der noch immer tippende Kollege zu erkennen. Außer einer Feier mit seiner Familie hat er nichts verpasst.

Erschienen am 02.01.2008

Rolle rückwärts

Samstag, 29. Dezember 2007

Jan Bosschaart über den erfolgreichen Start des Babybegrüßungs-Dienstes

Der Name des Babybegrüßungs-Dienstes ist irgendwie lustig. „Dienst“ kommt (auch) vom griechischen „diakonia“, was soviel wie „eine praktische Handreichung geben“ bedeutet. Demnach wäre das Angebot der Stadt eine Handreichung zum Begrüßen von Neugeborenen… Doch die Sache ist ernst, wie nicht erst die mit verstärkter Medienaufmerksamkeit bedachten Fälle von Kindesmisshandlung, -vernachlässigung und -tötung beweisen: Das enge Netz der Kontrolle über die Entwicklungsbedingungen von Babys, wie es DDR-Bürger gewohnt waren, musste in einem weniger überwachenden, die Privatsphäre stärker respektierenden politischen System zwangsläufig weiter werden. Dass nun auch hier eine Rolle rückwärts vollzogen wird, dass eine der beiden hauptberuflichen Babybegrüßerinnen in der DDR-Mütterberatung tätig war, mag manchem Ostalgiker wie geschickt umgegossener alter Wein in neuen Schläuchen erscheinen, zumal der Dienst mit viel Rummel gestartet wurde. Den Nutznießern des Ganzen, die noch nicht für sich allein sorgen können, kann das herzlich egal sein. Mit 1480 Babys hatte Potsdam schon Mitte Dezember einen Nachwende-Rekord. Und wenn auch nur eine Vernachlässigung verhindert wird, hat das lustige Begrüßen seinen Zweck erfüllt.

Erschienen am 29.12.2007

Heirat macht glücklich

Freitag, 28. Dezember 2007

Jan Bosschaart über die Vorteile der Ehe – vor allem, wenn andere sie schließen

Heiraten lohnt sich, behauptet die Wissenschaft. Ökonomisch gesehen leuchtet das ein – aber sonst? Jede Hochzeitszeitung weiß doch von den Schrecknissen der Ehe zu berichten, vom Mann, der als Raubtier startet und als Bettvorleger landet, von der Frau, die wahlweise als Schmusekätzchen oder scharfe Mieze in die Ehe geht und als waffenscheinpflichtiger Kampfdrache der Einsatzklasse wieder herauskommt – wenn überhaupt. Glaubt man den Sozialwissenschaftlern, ist das Mumpitz: Wer heiratet, wird reicher als ein Single, er trinkt weniger Alkohol (weil der Partner es verbietet), bleibt gesünder (wegen des Alkoholverbots), ist glücklicher (weil der Partner befahl, auf dem Fragebogen „ glücklich“ anzukreuzen), hat mehr Sex (ja, aber was für welchen?) und er lebt länger (ist aber viel eher bereit, zu sterben). Zudem würden verheiratete Männer mehr arbeiten und Frauen mehr lachen (darüber, dass er sich krumm macht, aber kein Bier dafür bekommt?). Ob diese „Vorteile“ außer der wissenschaftlichen Signifikanz auch Alltagssignifikanz erlangen, sei dahingestellt. Unstrittig hingegen ist, dass die Heiratsfreude der Potsdamer und ihrer „Hochzeitsgäste“ der Stadt nur Vorteile bringt: ökonomische, moralische und touristische – und die, die machen wirklich glücklich. Jeden. Auch Unverheiratete.

Erschienen am 28.12.2007

Pasta-Dreiklang am Brauhausberg

Samstag, 22. Dezember 2007

Comeniusschüler wurden verpflegt

TEMPLINER VORSTADT Exner käste nach. Viel mehr blieb dem Bürgermeister und Finanzbeigeordneten gestern in der Comenius-Schule nicht übrig, obschon auf der Einladung „Kochen mit Burkhard Exner“ stand. Doch das Essen wurde nahezu fertig angeliefert, und Exner, der im Rathaus dem Bereich „Zentrale Steuerung“ vorsitzt, konnte einzg für die Zentrale Streuung von Parmesan auf Pasta sorgen. So sah er sich gezwungen, sich einzuschränken: Er lächelte freundlich unter seiner Kochmütze hervor und löffelte Käse über die Nudelgerichte. Das allerdings tat er mit Charme und Grandezza.
Die viel drängendere Frage, ob in dem stets akkuraten Anzug möglicherweise ein begnadeter Hobbykoch steckt oder sich des Beigeordneten gastronomische Fähigkeiten im Streuen von Käse erschöpfen, musste daher zunächst unbeantwortet bleiben. Thomas Prange, Regionaldirektor bei Mövenpick – das Unternehmen hatte das opulente Mittagsmahl für die Förderschüle gespendet – hatte dazu einen pragmatischen Zugang: „Wir bringen noch jeden zum Kochen“, sagte er mit Blick auf seinen Helfer aus dem Rathaus, der zu diesem Zeitpunkt aber schon wieder den Förderschülern die ewig gleiche Frage „Tomatensoße, Schinken-Sahne oder Putengeschnetzeltes?“ stellte – dies war der kulinarische Dreiklang, mit dem Mövenpick die gut 100 Schüler plus Lehrer und technisches Personal versorgte. Zum Dank sangen die Jungen und Mädchen nicht nur Weihnachtslieder, einige kamen auch persönlich, um Hände zu schütteln und zu bekunden, wie toll es geschmeckt habe. Gut möglich also, dass der Beigeordnete im kommenden Jahr wieder zum traditionellen Weihnachtsessen gerufen wird – und dann selbst die Kelle schwingt.

Erschienen am 22.12.2007

Harte Zeiten für den Weihnachtsmann

Dienstag, 18. Dezember 2007

Bescherung für schwierige Kinder

INNENSTADT Aufsagen mag Angelo nichts, singen auch nicht, und das Bedanken ist seine Sache nicht. Das Geschenk nimmt er aber gern, er trägt es stolz zu seinem Platz, selbst der Inhalt scheint ihm zu behagen: die Augen leuchten. Das muss genügen: Dem Kakao und dem Stollen sprechen die 16 Kinder im weihnachtlich geschmückten Speisesaal des Steigenberger-Hotels Sanssouci ordentlich zu, mit einem „Danke!“ der Kinder dürfen Marketingdirektorin Manuela Völske und ihre Helferinnen aber nicht rechnen. Das übernehmen die Betreuer – wie Christian Groß, Leiter der Tagesgruppe der Awo: „Die Kinder kommen aus schwierigen Familien, die meisten haben eine traumatische Vorgeschichte und Verhaltensstörungen. Viele waren im Hort nicht mehr tragbar, aber in festen, kleinen Strukturen wie unseren Gruppen kommen sie erstaunlich gut klar“, sagt er. Das gilt auch für die Schützlinge des Jugendhilfeverbandes, die ebenfalls teilnehmen. Seit vier Jahren organisiert das Steigenberger diese Nachmittag: Die Kinder schreiben Wünsche auf Postkarten, Hotelgäste und Potsdamer pflücken diese vom Weihnachtsbaum, kaufen ein, und geben die Geschenke – Schminksets, Fußbälle, Schwimmbrillen und ferngelenkte Autos – an der Rezeption ab. Obschon das Steigenberger bei übrig bleibenden Kärtchen einspränge, war das nie nötig: Alle Wünsche wurden bislang erfüllt. Da hat es der Weihnachtsmann schon schwerer: Als Autoritätsperson muss er eine Menge Aggression aushalten. Doch er nimmt es natürlich mit Humor: „Hier bin ich immer nur Weihnachtsmann-light“.

Erschienen am 18.12.2007

Der Geist der Weihnacht

Dienstag, 18. Dezember 2007

Jan Bosschaart über Spendenaktionen im Advent

Ja wo ist er denn, der Geist der Weihnacht? Liegt er begraben unter Geschenkebergen? Ist er längst totgedudelt von seichter Weihnachtsmusik, von Jingle Bells und Co. in der fahrstuhltauglichen Version? Oder ist er ertrunken im Glühwein? Depressiv vom Weihnachts-Werbe-Wirbel? Es gehört mittlerweile zur adventlichen Folklore, sich – nicht zu Unrecht – über die Kommerzialisierung und die Entzauberung des Weihnachtsfests zu beklagen und zugleich daran teilzunehmen. Das Verdammen von Spendeaktionen liegt an diesem Punkt der vorweihnachtlichen Debatte schon in der Luft wie der Kardamom beim Plätzchenbacken. „Warum nur jetzt“, heißt es dann meist mit betroffenem Augenaufschlag, „Not gibt es doch das ganze Jahr!“ Das mag unter moralischen Qualitätskriterien richtig sein, aber ginge es nicht etwas pragmatischer? Die Alternative zu Spenden, Wärme und Aufmerksamkeit vor dem Fest lautet doch nicht: dasselbe, das ganze Jahr über, sondern: dann eben nicht. So betrachtet, sind glückliche Kinderaugen im Hotel, rund um die Integrationslaube oder in der Suppenküche eindeutig die bessere Wahl. Genau dort nämlich geht er um, der vielbeschworene Geist der Weihnacht. Trotz Geschenkebergen. Oder gerade darin.

Erschienen am 18.12.2007


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