Archiv für die Kategorie „Märkische Allgemeine“

Vertrauensverfall

Donnerstag, 13. Dezember 2007

Jan Bosschaart über das Lavieren der Bauverwaltung in Sachen Lennéstraße 44

Jetzt wird es auch noch ein Fall für den Bund der Steuerzahler. Der prangert in seinem Schwarzbuch jährlich die größten Verschwendungen öffentlicher Gelder an. Wer nun das Lavieren der Verwaltung in Sachen Lennéstraße 44 in der Zeitung verfolgte oder sich gar das ins Groteske ufernde Schauspiel im Bauausschuss am Dienstagabend zu Gemüte führte, muss unweigerlich zu dem Schluss kommen, dass der Battis-Bericht bei aller inhaltlichen Qualität auch nur zum Fenster herausgeworfenes Steuergeld darstellt – daraus gelernt hat die Bauverwaltung offenkundig nichts. Das Verschanzen der Verwaltung hinter dem Datenschutz, um zu verbergen, dass offenbar Fehler gemacht wurden, die nur im nichtöffentlichen Teil eingeräumt werden und die fast schmollende Auskunftsverweigerung, die kaschiert, dass hier offenbar vor einem aggressiv auftretenden Bauherrn eingeknickt wurde, das alles hätte kaum das Wohlwollen des Berliner Verwaltungsrechtsprofessors erregt, der wegen Unregelmäßigkeiten in dieser Abteilung des Rathauses im Frühjahr in Aktion trat. Dass nun die Brandenburger Vorstadt mit einer Bausünde garniert wird, erscheint angesichts des fortschreitenden Vertrauensverfalls in die Bauverwaltung mittlerweile fast schon als das kleinere Übel.

Erschienen am 13.12.2007

Rechnung geht nicht auf

Donnerstag, 6. Dezember 2007

Jan Bosschaart über den DAK-Gesundheitsreport für Potsdam

Im Vergleich mit anderen Kreisen in der Mark ist der Krankenstand in Potsdam nicht umwerfend. Grämen sollten sich die Landeshauptstädter darüber aber nicht, wie ein genauer Blick in die Statistik beweist: Den Spitzenplatz – sprich: den niedrigsten Krankenstand – behaupten nämlich die Uckermärker, jener Landkreis, der auch chronisch die rote Laterne in Sachen Arbeitslosigkeit erhält. Einen Zusammenhang muss niemand konstruieren, er ist offenkundig: Die Sorge um den Arbeitsplatz hält keineswegs gesund, sie sorgt nur dafür, dass sich der kranke Arbeitnehmer, von Fieber wie von Angst gleichermaßen geschüttelt, trotz Grippe oder Bandscheibenvorfalls noch zum Dienst schleppt. Die Rechnung „Angst vor Arbeitslosigkeit sorgt für geringe Fehlzeiten“, die manch Unternehmer gern anstellt, geht trotzdem nicht auf, auch das wird aus dem Gesundheitsreport ersichtlich: Wird die Krankheit erst chronisch, steigen die Fehltage exponenziell. Die zahlt ironischerweise dann aber meist die Krankenkasse, also die Solidargemeinschaft. Der Unternehmer hingegen besetzt die Stelle flugs neu, mit einer gesunden Kraft. Wie es besser ist, zeigt das prosperierende Baden-Württemberg: Dort sind Krankenstand und Arbeitslosigkeit rekordverdächtig niedrig.

Erschienen am 06.12.2007

Von Schuhputzern und Kaffeetestern

Montag, 3. Dezember 2007

Erlebniseinkauf: Am langen Adventssonntag ließen sich die Händler einiges einfallen – und wurden belohnt

Dichtes Gedränge auf den Straßen der Innenstadt: Die dritte „Lange Nacht der Nikoläuse lockte“ so viele Besucher wie nie zuvor an.

INNENSTADT Ratje Müller hatte zweifellos einen der besten Jobs der Langen Nacht der Nikoläuse. Sie stand im Warmen, sie teilte kostenlos aus und sie saß an der Quelle dessen, was es brauchte, um bis 24 Uhr durchzuhalten: Kaffee. Drei Premiumsorten aus Kenia, Äthiopien und Peru brühte die Kaffee-Expertin im Halbstunden-Takt frisch auf und ermunterte Besucher der Confiserie in der Brandenburger Straße, sich auf die Geschmacksreise einzulassen. Sie musste meist nicht lange bitten, denn Ratje Müllers Begeisterung für das heiße Schwarze steckte an. Wenn sie von der feinen Nase, der Fülle und der typischen leichten Säure des kenianischen Hochlandkaffees schwärmte, wurden auch überzeugte Teetrinker neugierig. Es war eine Premiere, bei der Langen Nacht Kaffee verkosten zu lassen, und sie gelang: „Kommt sehr gut an“, resümierte Müller bei einer Tasse Kenia-Hochland. Dass sie einen Kaffeefreund überzeugen konnte, vom Vollautomaten wieder zur Handbrühung zurückzuwechseln, war da nur noch das Sahnehäubchen auf ihrem Abend.
Für Andreas Landersheim ist Handarbeit hingegen Alltag. Den Weihnachtsmann als Kunden hat er dennoch nicht alle Tage. Kurz vor Toresschluss kam der, ließ sich auf den goldenen Thron plumpsen undsagte „Meister, ich brauche Eure Hilfe“. Das ließ sich ein Service-Mann wie Landersheim nicht zweimal sagen: Flugs griff der Show-Schuhputzer zum Werkzeug. Den groben Schmutz entfernte er mit der Bohrmaschine, in die er eine Bürste gespannt hatte. Der abgefallen Dreck kam zur Analyse unters Mikroskop, bevor Landersheim mit der elektrischen Zahnbürste die Creme auftrug und dann polierte. Zwischendrin zauberte, jonglierte und scherzte er, und kaum jemand im Karstadt-Stadtpalais kam an diesem Szenario vorbei, ohne amüsiert stehenzubleiben. Besonders die Kinder mussten fast schon mit Gewalt vom lustigen Schuhputzer weggezerrt werden, doch auch viele Ältere blieben trotz Geschenke-Kauf-Stresses mit einem stillen Lächeln stehen.
Lächeln konnten auch die Hobbymodels im Modegeschäft von Karin Genrich, die wieder zur Modenschau geladen hatte. Vier Damen und zwei Herren zeigten die aktuelle Kollektion, trugen Kaschmirwolle und Missoni-Muster, beantworteten Fragen zum Tragekomfort und ließen das überwiegend weibliche Publikum bei Bedarf auch den Stoff befühlen. Student und Teilzeit-Model Jeffrey sang zwischendrin leise Lieder zur Laute, und Weihnachtspunsch und Stollen sorgten für eine gnädige Aufnahme der Preisschilder. Filialleiterin Simone Möller war zufrieden: Die Sitzplätze im kleinen Laden reichten kaum aus, und der Andrang zur Modenschau machte den eher ruhigen Nachmittag wieder wett.
Gegen 22 Uhr, als der Strom langsam abschwoll, überlegte sie, etwas vorfristig zu schließen. Ein Kenia-Kaffee hätte da helfen können.

Erschienen am 03.12.2007

Filzer, Färber, Fellhändler

Samstag, 1. Dezember 2007

Böhmischer Weihnachtsmarkt lockt mit rustikal-mittelalterlicher Atmosphäre / Schon am ersten Abend überrannt

BABELSBERG Angelina wartet nicht auf den Weihnachtsmann. Angelina wartet auf Timo. An den Glühwein-Stand gelehnt, schafft sie das Kunststück, zugleich gelangweilt und genervt auszusehen. Ihrer Freundin gelingt das nicht, obwohl sie redlich versucht, sich Angelina in Kleidung, Haltung und Frisur anzugleichen. Von der Eröffnung des Böhmischen Weihnachtsmarktes um sie herum nehmen die beiden 15-Jährigen nur insofern Notiz, als er ihnen als Bühne dient. Gesehen werden lautet das Motto.
Gehört werden wollen hingegen die vier Tschechen des Ambrosia-Quartetts, die mit zwei Flöten und zwei Trommeln auf der Bühne musizieren. Doch auch das ist schwer: Während die Herren mit ihren Schlaginstrumenten noch zu vernehmen sind, flöten die Damen hilflos gegen den Marktlärm an, gegen Musik aus den Buden und die Gespräche der Besucher. Ihr „Stille Nacht“ verpufft ungehört.
Es ist Freitagabend, kurz vor 18 Uhr, das heißt: kurz vor Stollenanschnitt, und der Markt, der in diesem Jahr erstmals schon am Freitag beginnt, ist rappelvoll mit gut gelaunten Potsdamern, die sich dick eingepackt zwischen 108 Ständen entlangschieben. Bis auf Angelina und ihre Freundin. Die sind bauchfrei erschienen. Das Thermometer an der Glühweinbude, die ihnen als Stütze gilt, zeigt 5 Grad. Von Timo keine Spur. „Der ist bestimmt auf der Brandenburger“, schlägt die Freundin vor, „der Markt ist eh cooler. Mehr Läden da und so.“
Was die Läden angeht, hat sie nicht unrecht: Während auf der Flaniermeile sich Imbissbude an Imbissbude reiht, setzt der Böhmische Weihnachtsmarkt auf traditionelles Handwerk: Schmiede und Sternenfalter, Filzer und Färber, Märchenerzähler und Maroni-Kocher, Kerzenziehen und Kettenfädeln, Fellhändler, Wahrsager, Handleser und Lebkuchenbäcker haben ihre Buden aufgeschlagen.
Auf die Bühne kommt Bewegung: Oberbürgermeister Jann Jakobs ist eingetroffen und freut sich ins Mikrofon, dass sein Wunsch nach drei Tagen Böhmischer Weihnachtsmarkt erhört wurde. Nicht immer würden seine Wünsche so schnell umgesetzt, sagt er. Burkhard Baese, Sprecher der AG Babelsberg, die den Markt quasi erfunden hat, freut sich hingegen darüber, dass der Markt im Weberviertel zwischen all den alten Handwerkerhäusern immer niveauvoller und atmosphärischer wird und es auch mit dem arg hochgejubelten Berliner Pendant am Schloss Charlottenburg aufnehmen kann. Den hat sich Baese diese Woche mal angesehen – zu Vergleichszwecken. Sein Fazit: „Der hat nicht diese Atmosphäre.“ Baese freut sich auch, dass immer mehr Babelsberger sich einbringen, dass das Kulturhaus das Programm auf der Bühne gestaltet, dass mit Simone Kabst zum ersten Mal eine „böhmische Kristallfee“ zu sehen ist und dass der Markt schon am ersten Abend so überrannt ist, dass einige Händler sich ärgern, den Aufbau ihrer Stände auf Sonnabend verschoben zu haben. „Jedes Jahr ein Stückchen besser“, sagt er.
Nur Angelina, die freut sich nicht. Timo ist immer noch nicht da, und die restlichen Besucher haben mehr Augen für den korpulenten Weihnachtsmann als für sie. Sie wechselt den Standort: Ab in die Brandenburger.

Erschienen am 01.12.2007

Vollwertiges von der Kornschnecke

Mittwoch, 28. November 2007

Ernährungstag im Haus der Generationen

SCHLAATZ Marika Steiger trägt ein T-Shirt, auf dem steht „Zucker macht zahnlos“. Es ist ein programmatisches T-Shirt. Und an Programmatik mangelt es der Gesundheitsberaterin nicht – Fleisch ist von Übel, Zucker sowieso, über 43 Grad erhitzte Speisen sind tot, das wird sie nicht müde zu betonen. Einige ihrer Zuhörer sind es indes müde. „Jetzt kommt das schon wieder“, knurrt jemand in der Schlange am Buffet, als Steiger noch einmal darauf hinweist, dass man doch zuerst den Salat, dann die Brotaufstriche und erst zum Schluss die Suppe essen möge.

Von solchen Nickligkeiten abgesehen ist das Seminar „Leckeres Essen“ ein voller Erfolg im Haus der Generationen und Kulturen am Schlaatz. Innerhalb des über 30 Wochen laufenden Projektes „Gesundes Altern“, dass der Trägerverein „Soziale Stadt“ im Generationen-Haus anbietet, lernen hier 30 Senioren von 60 bis 93 Jahren, wie sie eine leicht verdauliche, gesunde, vollwertige Mahlzeit zubereiten. Kochen können sie natürlich alle längst, insbesondere die zwölf Damen, aber die Feinheiten der Vollwertkost sind den meisten neu.

Die Rezepte und die Menüfolge hat Marika Steiger mitgebracht: Es gibt Feldsalat mit Radieschen in Vinaigrette, Weißkohlsalat mit Sauerkraut und Schwarzkümmel, Rote Beete, Dinkel-Buchweizen-Brot aus von Steiger selbst geschrotetem Vollkorn, Möhren-Tomate-Aufstrich, Kakao-Aufstrich („Öko-Nutella“, wie einer der beiden älteren Herren despektierlich anmerkt) und heißen Hirsetopf als krönenden, warmen Abschluss – hier weicht Marika Steiger von der Regel, dass Essen über 43 Grad totes Essen sei, ausnahmsweise mal ab. „Man muss sich ja auch nach dem Publikum richten“, sagt sie fast entschuldigend. Die Kurse kommen so gut an, dass weitere bereits in Planung sind. Friedrich Reinsch, Geschäftsführer der „Sozialen Stadt“, freute sich am Rande der Veranstaltung über den großen Zuspruch und die Unterstützung des Projektes durch das Gesundheitsamt, das sich sehr fürs gesunde Altern engagiert. Marika Steiger ist für Freunde gesunder Ernährung auch im Internet unter www.kornschnecke.de zu finden.

Erschienen am 28.11.2007

Die Hauptstadt muss sich warm anziehen

Dienstag, 27. November 2007

Elona Müller eröffnet Brandenburgs größten Weihnachtsmarkt und bescheinigt ihm Konkurrenzfähigkeit

INNENSTADT Sozialbeigeordnete müsste man sein. Schön eingemummelt auf der Kutsche sitzen, von eifrigen Budenbesitzern mit Heißgetränken versorgt, von den Passanten beachtet – ein idealer Zustand. Zumindest aus Sicht des Pressetrosses, der am Luisenplatz steht und der Beigeordneten harrt, die hier den Weihnachtsmarkt eröffnen soll. Sie ist mittlerweile 40 Minuten zu spät dran, die Temperatur liegt bei einem Grad, der Wind pfeifft, die Glühweinbuden duften verlockend, die Termine drücken. Jeder ist bemüht, unauffällig zu frieren. „Ob die Pferde dieses Jahr wieder diese albernen Elchhörner aufgesetzt bekommen?“ fragt jemand in die Runde. „Noch zehn Minuten, und ich hole mir doch einen Glühwein“ – ist das eine Antwort? „Ich bin ja für die Erderwärmung“, wirft eine Kollegin ein und tritt von einem Fuß auf den anderen. Der Mann vom rbb meint, einen Pferdekopf im Getümmel der Brandenburger Straße ausgemacht zu haben, das Fernsehteam stürmt los. „Wenn das mal nicht der Bürgermeister war“, versucht jemand zu witzeln. Funktioniert nicht, keiner lacht. „Der OB hat Meniskus. Die Beigeordnete kommt“, klärt ihn jemand auf. „Klugscheißer“, lautet der Dank. Dann: Pferdegetrappel, Menschenauflauf, Blitzlichtgewitter – die Kutsche kommt doch. Die Pferde haben Elchhörer aufgesetzt.

„Entschuldigung“, sagt Dezernentin Elona Müller. Sie ist dick eingemummelt und hat ein Heißgetränk in der Hand. Im Laufschritt – Bewegung hält warm! – gehts zur Bühne. Dort warten schon Wolfgang Cornelius als Chef der ausrichtenden AG Innenstadt und ein komplett durchgefrorener Kinderchor vom Treffpunkt Freizeit, der ein niedliches Lied vorträgt. Anschließend wird traditionell der riesige Stollen angeschnitten, die Kinder greifen begierig zu, und Elona Müller freut sich über den „noch schöneren“ Weihnachtsmarkt, der in diesem Jahr nicht so eng steht und zudem über die Friedrich-Ebert-Straße hinaus bis zur Kirche St. Peter und Paul erweitert wurde. Sie betont, man könne „auch mit den Berliner Märkten locker konkurrieren“. Mit mehr als 130 Buden sei es auf jeden Fall der größte Markt in Brandenburg, und genau genommen wohl auch einer der schönsten, ergänzt wenig später Organisator Eberhard Heieck von der Agentur Coex. Mit dem täglichen Märchenspiel um 17 Uhr auf dem Luisenplatz besitzt der Markt zudem ein Alleinstellungsmerkmal, das ihn bundesweit einzigartig macht. Heieck hat noch weitere Zahlen: 3000 blaue und goldene Kugeln sind entlang des Weges zu finden, die Umsetzung des Mottos „blauer Lichterglanz“ erfolge langsam, aber stetig. Wenn er einen Wunsch frei hätte, so würde er den Potsdamern noch die häufig geäußerte Bitte nach weihnachtlicher Beleuchtung von St. Peter und Paul erfüllen, verrät er, aber das scheitert bislang am Geld und an Widerständen. Für die Zukunft ist Heieck aber optimistisch.
„Mir würde schon mehr Pünktlichkeit genügen“, brummelt ein jetzt ganz ungeniert zitternder Reporter. Er bekommt ein Heißgetränk statt einer Antwort.

Erschienen am 27.11.2007

Glassplitter im Geburtstagskuchen

Freitag, 23. November 2007

84-Jährige bei Bomben-Evakuierung von Erinnerungen heimgesucht / Alte Dame will im Luftschutzkeller bleiben

BABELSBERG Als Hilde Wandel gestern Morgen kurz nach acht ihre Wohnung in der Fritz-Zubeil-Straße räumte, hatte sie das Schlimmste hinter sich: die Nacht. „Es war schrecklich. Alles brach über mir zusammen. Ich dachte: Jetzt ist es soweit. Jetzt sterbe ich wirklich. Doch dann bin ich wach geworden, und ich habe voller Erstaunen gespürt: Ich habe überlebt.“ Diesen Alptraum, der ihr jahrelang schrecklich vertraut war, hat Hilde Wandel ein halbes Jahrhundert nicht mehr gehabt. Warum er gerade jetzt wiederkehrt, daran hat die 84-Jährige keinen Zweifel.
Während sie erzählt, dreht Sprengmeister Manuel Kunzendorf etwa einen Kilometer entfernt gerade den Zünder aus der amerikanischen Sprengbombe. Als das 250 Kilogramm schwere Geschoss 1943 in den weichen Boden der Nuthewiesen an der Fritz-Zubeil-Straße fiel und ohne zu explodieren liegen blieb, hockte Hilde Wandel im Luftschutzkeller in der Gartenstraße – wenige Meter Luftlinie entfernt.
Es ist die 101. Bombenbergung seit der Wende in Potsdam, doch das erste Mal, dass Hilde Wandel deswegen evakuiert wird. Ein Zettel vom Gesundheitsamt an der Haustür hat sie darauf aufmerksam gemacht. Binnen Sekunden sei alles wieder da gewesen, sagt sie: Die Sirenen, die Todesangst, die Sorge um ihre rheumakranke Mutter, die immer von zwei Männern auf ihrem Stuhl in den Luftschutzkeller getragen werden musste, die Geräusche von splitternden Fenstern, das Echo der Druckwellen unter der Haut, die sie mehr als einmal von einer Ecke des Kellers in die andere warfen. Nein, Hilde Wandel braucht keinen Psychologen, um sich ihren Alptraum zu deuten. „Vielleicht“, sagt sie, „ist das eine der Bomben, die an meinem 20. Geburtstag fielen.“ Damals, am 6. März 1943, seien sie besonders nahe gefallen und der Aufenthalt im Keller ein Alptraum gewesen. Hilde Wandel erinnert sich gut an den Erdbeerkuchen, den ihre Mutter der nun erwachsenen Tochter gebacken hatte. Er war von Glassplittern übersät.
Derweil schüttelt Alina Weidemann gerade den letzten Tropfen Tee aus ihrer Thermoskanne in den Becher, den sie dann mit beiden Händen umklammert, um die Wärme herauszusaugen. Das ist ein aussichtsloses Unterfangen: Der Tee ist längst nur noch lauwarm. Seit 8 Uhr morgens bewacht die Auszubildende aus der städtischen Bußgeldstelle mit ihrer Kollegin Janett Meier aus dem Sozialamt einen Trampelpfad südlich der Großbeerenstraße, der direkt in den Sperrkreis führt. Bis auf einen Spaziergänger mit Hund versuchte in den fünf Stunden niemand, hier „durchzubrechen“, und selbst der verstand die Einwände sofort und machte kehrt. Alina Weidemann erzählt das mit Bedauern. Eine angeregte Debatte wäre zumindest eine kleine Abwechslung gewesen. Etwa 200 Verwaltungsmitarbeiter aus allen Abteilungen des Rathauses frösteln für Bombe 101 in gelben Warnwesten rund um den Sperrkreis um die Wette. Leere Kaffeebecher, Pizzaschachteln, Handschuhe und Schals erzählen von ihren Warmhalteversuchen. Gegen Mittag sind alle Themen angesprochen, der Blick auf die Uhr wird häufiger.
Um 11.30 Uhr hellen sich die Mienen auf: Der Einsatzleiter gibt endlich den Sperrkreis frei. Alle Anwohner sind raus, der Sprengmeister rückt nun dem Zünder zu Leibe.
Die Potsdamer waren diszipliniert. Brunhilde Schulz aus der Grünstraße verließ ihre vier Wände aber nur unter Protest: „Wir haben doch einen Luftschutzkeller“, sagte sie. Doch von besonderen Vorkommnissen wissen weder Verwaltung noch Polizei noch Feuerwehr. Ja, einige mussten nachdrücklich überredet werden, die Wohnung zu verlassen; ja, in einem Fall rückte der Schlüsseldienst an, um einen verbarrikadierten Anwohner von der Notwendigkeit der Räumung zu überzeugen; ja, etwa 35 Bürger, die schlecht zu Fuß sind, brachte die Feuerwehr mit dem Auto in die Ausweichquartiere am Schlaatz und in der Goethe-Schule. Aber sonst? Der Einsatzleiter schüttelt den Kopf und gießt sich Kaffee nach. Die Stadt ist Bomben gewohnt.
Hilde Wandel möchte sich nicht dran gewöhnen. Nicht, dass es ihr in der Turnhalle der Goethe-Schule missfiele, die für fünf Stunden ihre Unterkunft ist: 18 Bewohner aus dem Sperrkreis, überwiegend Rentner, treffen hier zusammen, das Gesundheitsamt empfängt sie mit Kaffee und Spekulatius. In der Halle sitzen die Evakuierten in einer Reihe und tauschen angeregt Details über Krankheit und Altersplagen aus. Nachdem alles gesagt ist, schauen sie stumm ins Leere. Hilde Wandel hingegen lässt die Erinnerungen schweifen. Es hilft ihr, die Nacht zu verarbeiten, sagt sie.
In Halina Kiriljug, die am Kartoffelhof arbeitet, aber heute wegen Sperrung frei hat, findet sie eine dankbare Zuhörerin. Kiriljug stammt aus der Ukraine, lebt seit sechs Jahren in Deutschland. In ihrer Heimat ist sie zweimal wegen Erdbeben evakuiert worden. „Das war aber nicht so lustig wie hier“, sagt sie und deutet mit der Kaffeetasse in die Runde. „Hier ist alles so organisiert, so – wie sagt man? – routiniert!“
Das wiederum ist ein Wort, das Manuel Kunzendorf meidet. Routine ist für Bombenentschärfer gefährlich. Dennoch war es ein normaler Arbeitstag, betont er, als er um 12.35 Uhr die Freigabe verkündet. Der Zünder ist raus, die Bombe transportbereit. Gefahr gebannt. Sozialdezernentin Elona Müller hat ihm eine Jumbopackung Dominosteine geschenkt, hoffend, man treffe vor Weihnachten dienstlich nicht mehr zusammen. Kunzendorf witzelt: „Sprengbombe entschärft, Kalorienbombe bekommen.“
Auch Hilde Wandel ist erleichtert, als die Nachricht in die Turnhalle durchdringt. Als kurz darauf die Schulklingel durchdringend schrillt, zuckt sie dennoch zusammen.

Erschienen am 23.11.2007

Absurd

Freitag, 16. November 2007

Die Vorstellung ist außerordentlich absurd: Für jeden Knirps, der sich bei der „Spirellibande“ eine warme Mahlzeit holt, müsste die Awo Meldung machen, damit seine Eltern weniger aus den Hartz-IV-Töpfen bekommen – schließlich erhält die Familie schon Geld für die Verpflegung des Kindes. Wo es keine „Spirellibande“ gibt, müssen sozial schwache Familien das Mittagsmahl schließlich vom Regelsatz bezahlen. Auch wenn das prinzipiell gerecht wäre, dürfte allein der finanzielle Aufwand, diese Meldungen entgegenzunehmen, in Geldwerte umzurechnen und vom Regelsatz abzuziehen, den erhofften Spareffekt bei weitem übersteigen. Dabei würde auch übersehen, dass Kinder, die sonst mittags ohne warme Mahlzeit blieben, nicht hungern, weil der Regelsatz zu niedrig ist, sondern weil die Eltern für das Geld oft eine andere Verwendung haben. So bliebe es bei allem guten Willen in Sachen Verteilungsgerechtigkeit mal wieder am schwächsten Glied der Kette, das Problem auszubaden: den Kindern. Dass die Paga daher soziales Gewissen vor Rechtslage gehen lässt, verdient Lob. Eine bundeseinheitliche Klärung dieser Frage drängt dennoch. Jede Küche, die bislang aus Unsicherheit kalt bleibt, ist eine zuviel.

Erschienen am 16.11.2007

Unverkrampft aufgelegt

Dienstag, 23. Oktober 2007

Zugegeben, es ist befremdend zu lesen, es gehe um „Körper, Liebe, Doktorspiele vom ersten bis dritten Lebensjahr“. Selbst in unserer aufgeklärten Gesellschaft, der reflexartig Tabulosigkeit vorgeworfen wird. Doch die mediale Sexualisierung, all die Hintern und Brüste, die über den Bildschirm flimmern, das Internet bevölkern und auf tausenden Zeitschriftenseiten prangen, sie ersetzen keine frühe „Sexualerziehung“, wenn es denn unbedingt dieses gruselige Wort sein muss. Wir tragen gern das Etikett „aufgeklärt“ mit uns herum, und spätestens seit Sigmund Freud weiß auch die Wissenschaft, was man doch längst geahnt hatte: dass Kinder eine Sexualität besitzen. Doch es scheint, als ließe man es gern dabei bewenden. Und so wird weiterhin eher verschämt und verdruckst Doktor gespielt, weil Kinder die Tabus spüren, die ihre Eltern schon lange nicht mehr hinterfragen oder gar zu pflegen leugnen. Eine entsprechende Kampagne, erst recht, wenn sie so frisch und unverkrampft aufgelegt wird wie in „Nase, Bauch und Po“, kann für die gern zitierte „psychosexuelle Entwicklung“ nur förderlich sein. Die Praxen der Psychologen sind voll von Menschen, die derlei nie genossen haben.

Erschienen am 23.10.2007

Die Langzeiturlauber am Trabbi-Weg

Samstag, 20. Oktober 2007

Am Gaisberg campen manche schon seit 40 Jahren – verordnete fröhliche Ostalgie ist ihre Sache aber nicht

PIRSCHHEIDE Die Zuwegung beginnt ganz harmlos als „Eichenallee“. In ihrem Verlauf scheinen die Buchstaben ein wenig durcheinander zu geraten, denn plötzlich steht da: „Erich-Allee“. Ein Versehen scheidet aus, denn neben dem Schriftzug prangt das gewohnt grimmige Konterfei des Staatsratsvorsitzenden.
Es ist nicht die einzige Reminiszenz an die DDR im Campingpark Sanssouci-Gaisberg in der Pirschheide. Während in der Landeshaupstadt längst die Wilhelm-Pieck-Straße zur Charlottenstraße wurde, drängen sich zwischen Elster- und Drosselweg, zwischen Wildschweinwiese und Storchenufer die „DDR-Promenade“, der „Trabbi-Weg“ und der „Sandmännchen-Pfad“. „Es wäre doch albern, unsere Vergangenheit zu leugnen“, sagt Dieter Lübberding, der zur Betreiberfamilie gehört. Die kommt aus Niedersachsen. Das gilt als kleiner Schönheitsfehler unter den Dauercampern, wie auch der Umstand, dass Lübberding demonstrativ mit einem gelben Trabi-Kübel durch Potsdam und Umgebung kurvt – mit einem, den ein CLP-Kennzeichen ziert. CLP wie Cloppenburg.
Dieter Lübberding ist in dieser Hinsicht schmerzfrei: Er parkt den Gelben gut sichtbar am Eingangstor, auf einer extra gezimmerten Plattform. Für ihn ist das eine Form des Marketings. Vielen Gästen sei die DDR-Geschichte doch gar nicht gegenwärtig, oft werde er gefragt, ob Potsdam im Osten gelegen habe. „Wir müssen uns hier mit unserer Ost-Vita doch nicht verstecken“, sagt er.
Sein Campingpark gehört zu den besten in Deutschland – von Branchenführern und vom ADAC wird er regelmäßig mit den höchsten Auszeichnungen bedacht. Weil er wunderschön gelegen ist, weil die Betreiberfamilie mehr als rührig ist und weil auf jedes Detail geachtet wird. „Klein aber fein“ und „Urlaub ohne Sorgen“ sind die Firmenmantras, die Dieter Lübberding nicht nur unermüdlich wiederholt, sondern seit Übernahme des Platzes 1991 auch ebenso unermüdlich umsetzt. Über den Herrentoiletten, die es in drei Größen S, M und L für verschiedene Wuchshöhen gibt, wachen Friedrich der Große und Kaiser Wilhelm I., die Damen müssen unter Augusta von Sachsen oder Sophie-Luise von Mecklenburg-Schwerin hindurch, um sich zu erleichtern. Der Platz heißt nunmal königlicher Campingpark Sanssouci, und Adel verpflichtet.
Trotzdem ist es ein typischer Campingplatz, und ein typisch deutscher dazu. Von den ausländischen Gästen – Holländer und Dänen kommen besonders gern – werden etwa die allgegenwärtigen Verbotsschilder stets mit einer Mischung aus Amüsiertheit und Verärgerung quittiert: Surfbretter verboten. Eltern haften für ihre Kinder. Keine Tiere füttern. Kinder unter 7 Jahren nicht allein aufs Klo. Kein Lärm vor 8 Uhr, kein Lärm nach 22 Uhr, kein Lärm zwischen 13 und 15 Uhr. Keine Besucher ohne Anmeldung. Keine Wasserentnahme aus dem Sanitärtrakt.
Der Platz ist gepflegt. Sehr gepflegt. Der englische Rasen zwischen den Dauercampern erstrahlt in fast unnatürlichem Grün, die Halme sind exakt gestutzt. Nur selten verunziert ein gelbes Blatt die reine Fläche. Dieser Tage kommt selbst der emsigste Laubfeger nicht hinterher. Es ist eine idyllische und – doch, ja – streckenweise auch ziemlich spießige Parallelwelt an den Toren der Landeshauptstadt.
Christel Herbst versucht es trotzdem. Die 67-Jährige hat den Besen fest in der Hand und ficht entschlossen ihren Kampf gegen das Laub. „Wer einen Tag aussetzt, hat verloren“, sagt sie und betont, dass daher wenig Zeit für weitere Fragen bliebe. Seit 1971 residiert die Dauercamperin auf einem der privilegierten Plätze ganz vorn am Ufer des Templiner Sees – mit dem vollen Programm: Wohnwagen, Vorzelt, Pavillon, umzäunte Fläche, Blumenkästen, Sat-Schüssel. Der Wohnwagen ist längst fest mit dem märkischen Boden verwachsen. Ihr Sohn nebst Frau hat den Platz rechts dahinter, die Enkelin nebst Urenkelin links daneben. Von Ende März bis Anfang November lebt Christel Herbst dort, in der „Übergangszeit dazwischen“ muss sie in ihre Stadtwohnung auf dem Kiewitt.
150 solcher Dauercamper gab es zu DDR-Zeiten auf dem Platz, nach der Wende hat sich die Schar der Alteingesessenen auf unter 50 reduziert, erzählt sie. Sie sagt es so nachdrücklich, dass es unmöglich ist, das Bedauern in ihrer Stimme zu überhören. Ob ihr daher auch Erich-Allee und Trabbi-Weg gefallen? Christel Herbst hält mit dem Kehren inne. „Ach das“, sagt sie und stellt den Besen weg, „das hat sich der Lübberding letztes Jahr einfallen lassen.“ Sie tippt mit der nun freien Hand an die Stirn, sieht sich um und senkt die Stimme: „Der hat von der DDR doch keine Ahnung. Für den ist das Spaß. Wir aber kennen den Unterschied noch – auch preislich.“ Drei Preiserhöhungen habe es seit der Wende schon gegeben, und dreimal Umziehen habe sie auch müssen, als der Platz umstrukturiert wurde. Umziehen, das kommt für Dauercamper offenbar einer Vertreibung aus dem Paradies gleich.
Dass sie für ihr Geld auf einem der besten Campingplätze residiert, ist Christel Herbst ziemlich gleich: „Ich brauche nur den See und die Bäume. Tolle Duschen, Toiletten, Küche und Restaurant nutze ich nicht. Wir sind Selbstversorger.“ Entsprechend kritisch sieht sie das Streben nach beständiger Verbesserung. „Wir heißen nicht mehr Dauercamper, sondern Langzeiturlauber, haben die beschlossen – so’n Quatsch!“ Mit den Urlaubern pflegt sie wenig Kontakt – „die neiden uns meist unsere Plätze“.
Dass es am Ende doch noch ein bisschen wie DDR ist, merkt an diesem Tag allgemeiner Abreise ein Autofahrer, der hoffte, über das Gelände des Campingparks den Weg zum Gaisberg abzukürzen: Gegen Besuchergebühr kommt er zwar rein, wegen eines Eisengitters am anderen Ende aber nicht wieder heraus.

Erschienen am 20.10.2007


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