Archiv für die Kategorie „Märkische Allgemeine“

Kienberg entsteht neu

Samstag, 2. Juni 2007

Kleiner Ort weicht dem Flughafen / Baustart für die Umsiedlung

ROTBERG Der siebenjährige Timm steht mitten im Roggenfeld und grübelt angestrengt. „Wenn wir hier wohnen, wohnt die Celina dann dahinten?“ fragt er und streckt seine Hand über den frisch gemähten Weg.

Es ist eben alles noch etwas schwer vorstellbar an diesem Freitagmorgen im Getreide. Doch schon in vier Wochen, wenn der Roggen geerntet ist, rollen hier die Bagger an und erschließen das künftige Wohngebiet Rotberg-Süd. Bereits im Herbst können die ersten zu bauen beginnen, und mit dem Frühling ziehen die schnellsten Kienberger in ihre neuen Häuser ein.

Es ist kein gewöhnlicher erster Spatenstich, den Schönefelds Bürgermeister Udo Haase da absolviert, sondern ein europaweit einmaliges Projekt. Weil die kleine Gemeinde Waltersdorf-Kienberg mit dem Ausbau des Flughafens im kombinierten Lärm von Flugzeugen, Bahn und Autobahn zu versinken drohte, tauschten die meisten Einwohner ihre Grundstücke gegen eine exakt gleich große Parzelle in Rotberg-Süd. Dort entsteht Kienberg nahezu identisch neu: Die sechs Ortsstraßen heißen genau wie in Kienberg, sie sind gleich lang und im gleichen Winkel angeordnet. Und jeder bekommt sein „altes“ Grundstück zurück. Damit die rund 30 Familien, die zum Spatenstich gekommen sind, schon eine erste Vorstellung davon haben, wurden die Straßen kurzerhand aus dem Roggen herausgemäht. Da auch provisorische Schilder angebracht sind, findet Timm sein neues, altes Grundstück schnell.

Weil jedoch ein Grundstück noch kein Haus ist, mussten die Kienberger zusätzlich entschädigt werden. Dank des Engagements der Interessengemeinschaft (IG) um Andrea Jacker und Veronika Protz gelang es, die Lärmverursacher Bahn AG, Flughafen und Autobahnamt dazu zu bewegen, alle Entschädigungsgelder in einen Topf zu tun, aus dem sich die Umsiedler nun bedienen können.

Udo Haase sagte, er sei froh und stolz über das einzigartige Projekt, und lobte die IG sowie Ortsbürgermeisterin Renate Pillat und Stellvertreter Olaf Damm für ihr unermüdliches Engagement. Und Peter Kolb, Geschäftsführer der für die Erschließung zuständigen Projekta EG, lobt die „wunderschöne Lage“ des neuen Wohngebiets. Er versprach eine schnelle Erschließung. Auf dass Timm ab Frühjahr nicht lange knobeln muss, wenn er zu Celina möchte.

Erschienen am 02.06.2007

Wo Umziehen noch lohnt

Dienstag, 15. Mai 2007

Ein Traum von einer Party: Eine Stadt feiert ihren 33 333. Einwohner

KÖNIGS WUSTERHAUSEN Es war die größte Party seines jungen Lebens: Zum 6. Geburtstag zählte Arne Jach nicht weniger als 21 Gäste. Mit ihnen lieferte er sich zunächst wilde Verfolgungsjagden in schneidigen Sportwagen, wechselte danach aufs Grün zu einer gepflegten Partie Golf und bat hernach zum Italiener, um ausgiebig zu Schlemmen. Es versteht sich, dass der Transfer zur Party und zurück in die Kita sowie Getränke nach Herzenslust inbegriffen waren. Und das Schönste daran: Arne ließ sich die kostspielige Party, die die Mädels nachhaltig beeindruckte, von der Stadt bezahlen. Damit nicht genug, musste auch Bürgermeister Stefan Ludwig nebst Pressesprecher antreten, ihm seine Aufwartung zu machen. Huldvoll nahm der Jubilar das Geschenk aus den Händen des Stadtvaters entgegen, dem er daraufhin großzügig gestattete, im Flitzer Platz zu nehmen, um sich fürs Erinnerungsfoto ablichten zu lassen.

Ganz schön unverschämt, könnte man meinen, doch der Fall liegt anders: Als Arne am 2. Februar mit seinen Eltern aus Zeuthen nach Königs Wusterhausen zog, vermerkte der Computer im Einwohnermeldeamt, er sei der 33 333. Einwohner der Stadt, und diese Schnapszahl wollte der Bürgermeister nicht ungefeiert verstreichen lassen. Angesichts des zarten Alters des zu Ehrenden schied Schnaps allerdings aus, und daher entschied Stefan Ludwig auf „Party im Kiebitzpark“, die wegen des Wetters auf den Arnes gestrigen 6. Geburtstag verschoben wurde.

Er habe vor Aufregung kaum geschlafen, erzählte Mutter Diana, die dem Trubel aus 22 Kindern und zwei Erzieherinnen am Rande beiwohnte. Selten habe sie ihren ruhigen Sohn so aufgekratzt erlebt. Den Rest des Tages ließ Familie Jach daher etwas ruhiger angehen: Zum Geburtstagsbowling am Nachmittag kam nur noch ein Freund mit. Wie Arne die Tränen der vielen Mädchen getrocknet hat, deren Star er seit gestern ist, wurde nicht überliefert.

Erschienen am 15.05.2007

Zerrüttete Verhältnisse

Samstag, 28. April 2007

Bis gestern war mir Rosa ziemlich egal. Bis gestern!

Bislang war mein Verhältnis zu Rosa Luxemburg von Indifferenz geprägt. Wir gingen uns aus dem Weg. Ich trug ihr nach, dass ich in der Grundschule zu ihrem Todestag jedes Jahr eine Wandzeitung gestalten musste, die zwar stets den gleichen Inhalt hatte, aber dennoch nicht jährlich wiederverwertet werden durfte – trotz des Sero-Gedankens. Als Wandzeitungsredakteur war ich dem Pionierrat assoziiert, da verbot sich solches Recycling. Rosa wiederum schien sich nicht um meine Nöte zu kümmern. Vielleicht haben ihr meine Wandzeitungen auch missfallen. Kurzum: Wir nahmen keine große Notiz voneinander. Seit gestern ist das anders. Unser Verhältnis ist zerrüttet. Rosa entzog sich mir, und das nehme ich ihr wirklich übel. Die Gemeinde Schönefeld hat den nach ihr benannten Weg verbessert und wollte das mit einem Banddurchschnitt feiern. Doch wo genau? Für jemanden, der neu in der Region ist, ist der südliche Speckgürtel mit seinen explodierten Dörfer ziemlich unübersichtlich. Also führte der erste Weg ins Internet. „Rosa-Luxemburg-Weg? Kenne ich nicht!“ sagt das Internet und fragt, ob ich statt dessen die Burgunderstraße meine. Oder ein anderes Großziethen. Nein, meine ich nicht. Also auf gut Glück hingefahren, um mich durchzufragen. „Rosa-Luxemburg-Weg? Kenne ich nicht“, sagt der alteingesessene Großziethener, den ich in der Ernst-Thälmann-Straße frage (thematisch liegt Ernst ja nahe – geografisch offenbar nicht). Ob ich vielleicht ein anderes Großziethen meine? Nein, meine ich nicht. Nach 40 Minuten Fragens und Suchens werfe ich verzweifelt das Handtuch und fahre zurück. Ein Blick auf die neueste, internet-freie Karte dort zeigt: Rosa hat sich auf die grüne Wiese verkrümelt, weit hinter die Ortsgrenzen. Bisschen viel Aufwand, um sich am Wandzeitungsredakteur zu rächen!

Erschienen am 28.04.2007

Ein halbes Leben unter Rentnern

Donnerstag, 19. April 2007

Erich Pfeil ist der dienstälteste Bewohner im Wildauer Seniorenheim

WILDAU Wer ins Seniorenheim geht, hat oft nur noch eine sehr überschaubare Lebenszeit vor sich. Nicht unbedingt eine schlechte, aber eine überschaubare. Als Erich Pfeil am 18. April 1972 ins „Feierabendheim Dr. Georg Benjamin“ geht, ist der gleichaltrige Erich Honnecker gerade Erster Sekretär des Zentralkomitees der SED geworden. In München finden im selben Jahr Olympische Spiele statt, Willy Brandt übersteht in Bonn ein Misstrauensvotum, und in den USA erschüttert der Watergate-Skandal das Weiße Haus. Heute, 35 Jahre später, ist das alles längst Geschichte. Erich Pfeil aber wohnt immer noch in jenem Haus, das mittlerweile Seniorenheim Wildau heißt. Genau genommen ist es seit dem Umbau 1997 auch nicht mehr das gleiche Haus. Erich Pfeil bekam ein neues, größeres, schöneres Zimmer. Er ist mittlerweile 85 Jahre alt, die Gesundheit machte es nötig, dass er schon mit knapp 50 Jahren ins Feierabendheim ging, auch, weil Verwandte fehlten, die sich um ihn kümmern konnten.

Viele Schwestern, die ihn heute betreuen, haben noch gar nicht gelebt, als Pfeil ins Heim kam. Unzählige Mitarbeiter hat er kommen und gehen sehen, nur zwei oder drei waren schon dort tätig, als Erich Pfeil mit seinem abgewetzten Koffer einzog. Von den damaligen Bewohnern lebt kein einziger mehr. Mit großem Bahnhof wurde das Jubiläum gestern begangen. Für Erich Pfeil gab es ein Glas Sekt, viele gute Wünsche und freie Wahl beim Mittagessen. „Er hat sich Gänsekeule gewünscht“, sagt Heimleiterassistentin Petra Furmanek. Die Mitbewohner werden es ihm gönnen. Pfeil sei sehr beliebt, habe früher, soweit er konnte, viel mit angepackt und sei gern mit anderen an der frischen Luft, ist zu erfahren.

Große Wünsche habe er nicht mehr, verrät Erich Pfeil, der manchmal etwas Mühe hat, dem Gespräch zu folgen. Aber ans Schwarze Meer, da würde er gern mal hin. Sein Urlaubsschein liege in der Direktion schon lange vor, erklärt er mit einem Lächeln. Schwer zu sagen, ob das als Scherz gedacht ist.

Erschienen am 19.04.2007

Letzte Ausfahrt Heiligendamm

Samstag, 14. April 2007

Attac: Im Jahr des G 8-Gipfels droht der Abstieg in die Bedeutungslosigkeit

POTSDAM In der „Galerie“ finden sich Bilder aus besseren Tagen: Die Potsdamer Attacies beim G8-Gipfel in Evian (Sommer 2003) und beim Europäischen Sozialforum in Paris (November 2003). Unter Termine steht: „Nächstes Treffen 2005, Montag“. Die Rubrik „Aktuelles“ vermerkt eine Protestdemo am 16. Februar 2005. Kurzum: Auf der Internetseite von Attac Potsdam liegt eine spürbare Staubschicht. Auch auf Mails und Anrufe reagiert zunächst niemand. Damit ist Potsdam kein Einzelfall, die Attac-Hauptseite beweist es – viele Ortsgruppen haben den Betrieb vorübergehend oder dauerhaft eingesellt: Emden: „Die Gruppe ruht im Moment, es soll aber bald weitergehen.“ Oder Greifswald: „Zurzeit finden keine Treffen statt.“ Was also ist los mit Attac, dem einstigen Medienliebling, der „Stimme der Globalisierungskritiker“?
„Attac ist in ein Loch gefallen, man macht eine formidable Orientierungskrise durch“, sagt Ralf Baus, der für die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung mehrere Dossiers über das Netzwerk verfasst hat. Ein Grund sei die abgenommene Aufmerksamkeit der Medien. Aber erklärt das das Phänomen nicht quasi von hinten nach vorn? „Die Medien haben Attac groß gemacht“, bestätigt Dieter Rucht, der am Wissenschaftszentrum Berlin über soziale Bewegungen forscht: „Attac war nie ein Vorkämpfer der Globalisierungskritik. Und es ist nicht groß: Im Vergleich mit den Gewerkschaften oder Greenpeace ist es sogar ein Zwerg. Aber sie sind im richtigen Moment von den Medien emporgespült worden.“
Geboren wurde die Protestbewegung schon einige Jahre zuvor in Frankreich. In einem berühmt gewordenen Leitartikel der französischen links-intellektuellen „Le Monde diplomatique“ forderte der Journalist Ignacio Ramonet die Einführung einer Steuer auf internationale Devisengeschäfte, die so genannte Tobin-Steuer, um die internationalen Finanzmärkte zu demokratisieren. Der Aufruf erzeugte soviel Resonanz, dass es innerhalb weniger Monate Anfang 1998 zur Gründung von Attac kam. Der Name leitet sich aus der französischen Abkürzung für „Verein für eine Besteuerung von Finanztransaktionen zum Wohle der Bürger“ ab. Der deutsche Ableger des Netzwerks erblickte im Jahr 2000 das Licht der Öffentlichkeit. Ein denkbar günstiger Moment: Die beiden linken Parteien im Bundestag waren an der Regierung und hatten ein Jahr zuvor Deutschland in den ersten Kriegseinsatz seit Gründung der Bundesrepublik geführt. Linker Protest fand im Parteiensystem keinen Ansprechpartner mehr.
„Gerade für viele junge Leute war Attac eine interessante Gruppe: Sie erhofften sich eine schnelle Veränderung in der Politik und wurden von den lockeren Netzwerkstrukturen angezogen“, sagt Dieter Rucht. In wenigen Jahren explodierten die Mitgliedszahlen förmlich: von 2000 im Dezember 2000 auf 12 000 im Dezember 2003. Daran ist vor allem Genua schuld. Kein Ereignis hat soviel Aufmerksamkeit auf Attac gelenkt wie der G 8-Gipfel im Juni 2001 in Italien, bei dem es zu bürgerkriegsähnlichen Ausschreitungen zwischen teils militanten Globalisierungsgegnern und der Polizei kam. „Das war das Format von Attac: Wo die Großen der Welt zusammenkommen, sind wir demonstrierend dabei, und wenn es Randale gibt, haben wir mediale Aufmerksamkeit“, umschreibt Ralf Baus den Mechanismus. Die „nicht eindeutige Abgrenzung von Gewalt“ hält er für den schwierigsten Aspekt an Attac. Dass die Gruppe immer wieder mit dieser Frage ringt, zeigt sich auch vor dem G 8-Gipfel im Juni in Heiligendamm: Weil sich der Attac-Vorsitzende Peter Wahl im Vorfeld eindeutig vom gewaltsamen Protest distanzieren wollte, distanzierte sich plötzlich der G 8-kritische „Gipfelsoli“ von Attac.
Mediale Aufmerksamkeit hat den Charakter einer Droge: Sie putscht und pusht, aber sie flacht schnell wieder ab. So schnell, dass Attac nicht immer nachlegen konnte. Im Überraschungserfolg von Attac 2001 lag bereits der Keim des Untergangs: Der Medienhype spülte Tausende Mitglieder ins Netzwerk, das darauf gar nicht vorbereitet war. Auch war nicht jeder Neuzugang zum Besten der Organisation: Die Randale in Genua machte Attac vor allem für radikale Linke interessant, kirchliche Gruppen wie Pax Christi oder Umweltverbände wurden an den Rand gedrängt. Also ging man in die Breite, um jedem seine Spielwiese zu geben. Vielfach wurde das Thema Globalisierung dazu aufs Nationale oder gar Regionale heruntergebrochen. Plötzlich gab es Arbeitsgruppen zur Bahnprivatisierung und zu kommunaler Abwasserproblematik. Attac zerfaserte. Das Konsensprinzip, nach dem eine Mehrheit für Entschließungen nicht genügt, sondern stets allgemeine Übereinstimmung herrschen muss, machte die aus 170 Organisationen bestehende Gruppe zum zahnlosen Tiger.
Nicht zuletzt ist Attac auch ein wenig das Opfer seines eigenen Erfolges geworden. Kernforderungen der Globalisierungskritiker sind längst Allgemeingut: Als Franz Müntefering (SPD) im Frühjahr 2005 Finanzinvestoren mit einer Heuschreckenplage verglich und Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) weltweite Finanzspekulationen auf die Tagesordnung der G 8 setzte, nahmen sie globalisierungskritische Kernthemen auf. „Wenn Themen einer Gruppe in die Öffentlichkeit einsickern, steht der ursprüngliche Impulsgeber nicht mehr lange im Zentrum“, sagt Bewegungsforscher Rucht. Eine Erfahrung, die auch Greenpeace und die Grünen machen mussten. Erfolg kann für soziale Bewegungen tödlich sein, wenn sie sich nicht rasch neu orientieren.
Bewegungsforscher Dieter Rucht sieht die größere Dynamik der Globalisierungskritik ohnehin bei christlichen Gruppen in Afrika und den sozialistischen Bewegungen Lateinamerikas. „Die Dynamik geht nicht von den kapitalistischen Kernländern aus. Die Kraft, die Energie und vor allem die Evidenz der Problematik sind in den Südländern viel stärker spürbar“, sagt er.
Was also passiert mit Attac? Geht es unter? Thomas Baus sieht keine Perspektive. Ein Großereignis wie Heiligendamm könne zwar die Orientierungskrise überdecken, aber nicht lösen, glaubt er. Dieter Rucht hingegen sieht Attac momentan nicht aktiv bedroht. Durch die G 8-Mobilisierung gebe es „einen Zufluss an Kräften“. Exorbitantes Wachstum erwartet er aber nicht.
Am Ende gibt es doch noch Rückmeldung von der Potsdamer Attac-Website. Man sei derzeit dabei, die Gruppe neu zu formieren, heißt es. Was das genau bedeutet, ob die alte Gruppe tot und eine neue im Aufbau ist, verrät der Sprecher auch auf Rückfrage nicht. Man sei mit den Vorbereitungen für den Gipfel voll ausgelastet. Das scheint auch drigend nötig zu sein: Auf dem steilen Weg nach unten ist Heiligendamm die letzte Ausfahrt.

Erschienen am 14.04.2007

Abtauen will durchdacht sein

Samstag, 14. April 2007

Warum der Osterspaziergang nur bedingt als Empfehlung taugt

Die ersten wirklichen warmen Tage sind eine gute Gelegenheit, es der Natur gleichzutun und irgendetwas abzutauen. „Vom Eise befreit sind Strom und Bäche“, weiß Goethe, und man muss das durchaus als Empfehlung lesen – für den heimischen Kühlschrank etwa. Prinzipiell eine gute Idee, doch undurchdachtes Abtauen birgt Gefahren. Nicht nur, wenn man die Auffangschale vergisst und erst durch den frostig guckenden Nachbarn, aus dessen Decke es tropft, an den selbst verschuldeten Frühling in der Küche erinnert wird. Sondern auch dann, wenn der Frost als Eisbombe vom Himmel regnet, wie am Sonnabend in Schulzendorf geschehen. Mag sein, dass sich die als Verursacher im Verdacht stehende Flugzeugtoilette ebenfalls beim alten Goethe inspirieren ließ: „Von dorther sendet er, fliehend, nur ohnmächtige Schauer körnigen Eises in Streifen über die grünende Flur.“ Dem be- und um ein Haar auch ge-troffenen Ehepaar war angesichts des stinkenden Klumpens jedenfalls alles andere als poetisch zumute, und selbst die Lust auf den naheliegenden Osterspaziergang verging ihnen, deren Auto infolge der handballgroßen unbestellten Eisbombe eine veritable Beule verunzierte. Landrat Martin Wille (SPD) und Flughafen-Geschäftsführer Thomas Weyer werden wissen, warum sie sich am Montag für die Übergabe der Baugenehmigung des BBI ins entferntere und außerhalb der Flugrouten liegende Lübben zurückziehen.
Schließlich enthält der grobkörnige Eisregen vom Osterwochenende auch noch eine Weisheit zur Gründung des NPD-Ortsvereins Königs Wusterhausen: Nicht alles, was zunächst schneeweiß aussieht und quasi von oben auf Dahme-Spreewald herabsinkt, ist auch rein. Meist verwandelt es sich rasch in eine übel riechende braune Masse.

Erschienen am 14.04.2007

Anderthalb Millionen Eier pro Tag

Samstag, 7. April 2007

Hennen unter Dampf: Ostern bedeutet für Ostdeutschlands größten Eierproduzenten Arbeit rund um die Uhr

BESTENSEE Die Osterzeit ist purer Stress in der Eierproduktion. Für den Menschen. Die klassische Legehenne bleibt in der Karwoche hingegen ganz entspannt – aus gutem Grund. Sie kann sich mit biologischen Gegebenheiten herausreden. Mehr als ein Ei in 24 Stunden ist bauartbedingt nicht drin. Nachdem sie ihr Tagwerk vertragsgemäß ins Nest gelegt hat, gibt sich die Henne entspannt den kleinen Freuden des Alltags hin: Scharren, picken, gackern – und vielleicht mal einen sehnsüchtig-verstohlenen Blick auf einen der wenigen Hähne, die es hier gibt, werfen. Der Rest ist ländliche Idylle in der Frühlingssonne.

Von diesem geruhsamen Leben können die Landkost-Mitarbeiter dieser Tage nur träumen. Sie schuften im Drei-Schichten-System, um dem Eierbedarf der Verbraucher gerecht zu werden. In der Packabteilung stehen die Förderbänder bis zum Osterfest nicht mehr still. Etwa 30 bis 40 Prozent mehr Eier liefert Landkost in der kurzen Zeitspanne aus. Ginge es nach den Märkten, könnten es noch mehr sein. „Es tut fast körperlich weh, wenn man jahrelangen Kunden sagen muss: Tut uns leid, mehr haben wir nicht“, sagt Marketing-Chefin Marianne Wieland. Doch irgendwann sind selbst bei Landkost, dem größten Eierproduzenten in den neuen Bundesländern, die Kapazitäten erschöpft, alle Förderbänder ausgelastet, alle 145 Mitarbeiter nebst etwa 50 Saisonkräften im Einsatz. Und selbst die Zulieferer haben auch das letzte Ei noch abgeliefert. Die Hennen, wie gesagt, weigern sich, mehr zu legen.

An den Bedingungen in Bestensee kann es nicht liegen. Der Betrieb hat eine der höchsten Quoten an Freiland- und Bodenhaltungstieren. Nur die Hälfte der etwa eine Million Hennen muss mit einem immerhin relativ großzügigen Käfig vorlieb nehmen, die anderen scharren emsig auf dem Boden, ein Teil von ihnen sogar unter märkischer Sonne. Auch die Bodenhaltungs-Hennen haben dank großer Fensterfront keinen Mangel an natürlichem Licht zu beklagen. Von Produktionsstress ganz zu schweigen.

„Wir können ja nicht drängelnd hinter jeder Henne stehen“, sagt Geschäftsführer Heinz Pilz. Es würde auch nichts nützen: Ein Huhn, ein Tag, ein Ei, das ist das unumstößliche Gesetz der Eierproduktion. Also kauft Landkost zu, wo es nur geht. Die Verträge dafür werden bereits im Januar ausgehandelt, denn kurz vor Ostern kommen alle Eierhändler mit ihren Wünschen.

Wider Erwarten ist das Ostergeschäft nicht die wichtigste Zeit für Eierproduzenten. Aber die stressigste. „Das Ostergeschäft geht nur etwa sieben Tage lang. Längeren Vorlauf mögen die Kunden nicht. Und danach ist sofort wieder alles beim Alten“, sagt Heinz Pilz. Wesentlich mehr Umsatz macht Landkost vor Weihnachten, wenn alle fürs Plätzchen- und Stollenbacken Eier kaufen. Das zieht sich über vier Wochen hin, so dass auch die Mehrbelastung besser verteilt wird.

Nur vor Ostern hingegen verlangen die Kunden die knallbunten Eier. Jahr für Jahr steigen die Verkaufszahlen. Die in allen Regenbogenfarben leuchtenden Eier sind ein Verkaufsschlager. Die Zahl der Familien, die noch selbst färben, geht hingegen zurück. „Das Gemansche und die schmutzigen Töpfe tun sich immer weniger Familien an“, so Pilz, der es zu Hause ebenso hält. Bei Landkost lässt man Färben, in einem auf die Eierverarbeitung spezialisierten Betrieb. Für das Selbstkochen und -färben ist der Produzent in Bestensee nicht ausgestattet, eine Investition in diesen Bereich lohnt aus Sicht der Firma wegen der Saisonabhängigkeit im Moment auch nicht. Die ehemals weiße Ware kommt zum Vertrieb wieder zu Landkost zurück. 30 bis 40 Prozent der verkauften Eier in den Wochen vor Ostern sind mittlerweile gefärbt. Dass das Selbstfärben dennoch nicht völlig aus der Mode gekommen ist, zeigt die vorösterliche Nachfrage nach weißen Eiern: Nur in dieser Zeit bekommt Landkost von den Märkten 0,4 bis 0,6 Cent mehr pro Stück für die Hellen, auf denen die Farben besonders leuchten.

Wenn Heinz Pilz trotz des brummenden Geschäfts nur zufrieden, aber nicht restlos glücklich ist, so liegt das daran, dass die Deutschen zunehmend Ei-muffliger werden. Innerhalb weniger Jahre ist der Pro-Kopf-Verbrauch von 225 auf 205 Eier gefallen und liegt damit deutlich unter dem EU-Durchschnitt von 224. Daran dürfte der Trend zum Fertiggericht nicht unschuldig sein. Zwar ist das Kochen wieder in Mode gekommen, aber es wird hauptsächlich an den Wochenenden zelebriert. Unter der Woche dominieren Fertiggerichte, Fastfood und Kantine den Speiseplan. Auch die Nachrichten über Salmonellen und den vermeintlich hohen Cholesterinwert des Naturprodukts Ei hat Pilz im Verdacht, nicht eben umsatzfördernd zu wirken. Schließlich steht auch die Käfighaltung in keinem guten Ruf. Das Ei hat ein Imageproblem.

Meist zu unrecht, glaubt der Landkost-Geschäftsführer. Zumal sich die Argumente gegenseitig ausschließen: Käfighaltung mag aus Tierschutzgründen problematisch sein, der hygienische Zustand und die Salmonellen-Gefahr sind bei den Eiern aus dem Käfig hingegen wesentlich unbedenklicher. Doch es kommt noch dicker: Aus den neuen EU-Mitgliedsländern im Osten droht Gefahr für den Eiermarkt, weil dort günstiger produziert werden kann. Schließlich müssen die strengen EU-Richtlinien zur Hühnerhaltung in Polen und Tschechien vielerorts erst in einigen Jahren eingehalten werden. Der Ausweg für Landkost heißt Alternativhaltung: Freiland- und Bioeier werden verstärkt nachgefragt. Weil Landkost gleich nach der Wende große Freilaufareale und Ställe für Bodenhaltung eingeführt hat, ist das Unternehmen gut aufgestellt. Den boomenden Biomarkt bedienen die Bestenseer durch Zukäufe. Für einen großen Betrieb wie Landkost, der täglich mehr als eine Million Eier produziert, kommt eine eigene, aufwändige Biohaltung derzeit nicht in Frage. Doch Heinz Pilz ist beständig auf der Suche nach Höfen, die Mitglied in Bio-Verbänden sind und zwischen 15000 und 25000 Hühner halten. Sogar per Anzeige hat er schon nach Partnern gesucht, denn dank der großen Nachfrage kann Landkost im Biobereich derzeit gutes Geld verdienen. Zum Vergleich: Ein Bodenhaltungs-Ei muss fast zum Produktionspreis verkauft werden.

Die Quote an Bio-Eiern beträgt in Deutschland derzeit fünf Prozent, bei Landkost sind es sogar acht. Vor Ostern schwoll die Nachfrage derart an, dass die Firma nicht mehr alle bedienen konnte. Die Nachfrage steigt täglich, ein Zeichen dafür, dass auch im Osten Deutschlands ein Sinneswandel stattgefunden hat. Kurz nach der Wende, als sich Landkost auf den neuen Markt einstellte, ging die gesamte Alternativproduktion in den Westen, bis hinunter in die Schweiz. Dem Märker war die Herkunft seines Eis damals vollkommen schnurz.

Erschienen am 07.04.2007

Terroristen beim Therapeuten

Donnerstag, 5. April 2007

RAF-Täter und ihr Leben „danach“

Man muss sich den Psychoanalytiker als harten Hund vorstellen. Als einen, der es gewohnt ist, die tiefsten Tiefen menschlicher Abgründe weitgehend stumm zu ertragen; der standhält, wenn der andere seine schlimmsten Traumata in der Beziehung zum Analytiker wiederholt. Deshalb bekommt die Zahl besonderes Gewicht: Acht! Acht gestandene Therapeuten haben sie verschlissen, die 15 Mitglieder der RAF und des „2. Juni“, die sich über Jahre mit Psychologen zu Gesprächen trafen. Die Gruppe entstand 1996 nach einem Vortrag über die Traumatisierung politischer Gefangener in Chile. Ohne Absprache fanden sich 15 ehemalige RAF-Terroristen im Publikum, viele frisch aus der Haft entlassen. Sie suchten das Gespräch, weil sie Parallelen sahen zwischen dem Bericht und ihrer Haftzeit. Der Redner, selbst Psychologe, war entsetzt: Wie konnten sich Terroristen, die in einem Rechtsstaat verurteilt und inhaftiert waren, mit Folteropfern in Chile gleichsetzen? Er lehnte ab, doch andere Kollegen ließen sich ein.
Zehn Psychologen waren es, die an Deformation schon einiges gesehen hatten. Einiges, aber nicht diese Gruppe, die zwar um Hilfe ersuchte, aber schon das Wort Therapie nicht ertrug. Nur zwei sind geblieben. Sie haben ein Buch herausgegeben, das reflektiert – ihre Sicht und die der Gruppenmitglieder Karl-Heinz Dellwo, Knut Folkerts, Roland Mayer und Ella Rollnik. Leicht ist auch den Therapeuten das Bleiben nicht gefallen. „Nie zuvor habe ich soviel Entwertung und so wenig empathisches Mitschwingen erlebt“, schreibt Angelika Holderberg. Sie fürchtete oft, „verloren zu gehen im Strudel von Spaltung und Verleugnung, der zu Paranoia, Selbstzerstörung und Flucht in Allmachts-fantasien führte“. Und Volker Friedrich ergänzt: „Viele der Therapeuten sind gegangen, weil sie die Leere der Beziehungen in der Gruppe nicht ertragen konnten.“ Auch große Teile der Gruppe verließen die Sitzungen bald. Weil sie nicht bereit waren, sich ihrer Vergangenheit zu stellen, weil sie sich in gegenseitigen Vorwürfen verstrickten und weil sie es nicht ertrugen, dass die sie vermeintlich tragende RAF längst zerbrochen war. „Es glich einem Tigerkäfig. Das Kollektiv war kommunikationsunfähig. Die unbesprochenen Widersprüche aus 20 Jahren waren explodiert und lagen als Trümmer zwischen uns“, schreibt Knut Folkerts.
Als das Buch verfasst wurde, war die Debatte um Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar nicht absehbar. Dennoch liest es sich wie ein Kommentar dazu. Gefangenschaft, Sonderhaftbedingungen und Isolation machen eine Selbstdistanzierung – die notwendige Voraussetzung für Reflektion und Reue – unmöglich. Der Glaube an die Sache, an die Gemeinschaft im Terror und das eitle, ja narzisstische sich für etwas Besseres halten waren in Stammheim, Celle und Bruchsal schlechterdings überlebensnotwendig.
Trotz einiger Erfolge in dieser seltsamen Gruppe: Bis zur Frage der Reue ist niemand vorgedrungen. Zu einer kritischere Sicht auf sich selbst und die RAF hingegen schon. „Wir waren das lebende Dementi dessen, wofür wir zu kämpfen behaupteten: Identität, Souveränität, Authentizität“, schreibt Roland Mayer. Bis zu solcher Erkenntnis vergingen sieben Jahre zähen Ringens mit sich und den anderen. Ein Therapeut, der nach drei Jahren ging, schreibt, es sei schwer gefallen, „die alte, ungeschmälerte Wut, die unerschütterliche Selbstgerechtigkeit“ zu ertragen. Bis zuletzt habe er auf ein Zeichen der Übernahme persönlicher Schuld oder Reue gewartet. Es kam nicht. „Der eigene Mythos fuhr mit allen davon“. Stattdessen dominierten Wut, das Gefühl, verraten worden zu sein, Opferrolle und Selbstmitleid. Man muss sich den Terroristen als schwer deformierte Persönlichkeit vorstellen.

Angelika Holderberg (Hrsg.): Nach dem bewaffneten Kampf. Psychosozial-Verlag, Gießen 2007. 224 Seiten, 19,90 Euro

Erschienen am 05.04.2007

Keine Anleitung zur Interpretation der DDR

Donnerstag, 29. März 2007

Ein Buch zur Debatte: Wie weit darf Politik das kollektive Gedächtnis normieren?

Den Begriff „Geschichtspolitik“ hört Martin Sabrow nicht gern. Er verliert dann für einen Augenblick sein entspannt-distanziertes Lächeln. Der Historiker war Vorsitzender einer Kommission, die im Auftrag der Bundesregierung zwischen 2005 und 2006 Vorschläge zur „Neuordnung der DDR-Erinnerungslandschaft“ erarbeitete. An der Arbeit und am Bericht entzündete sich eine aufgeregte Debatte, die in der medialen Wahrnehmung zeitweise zum „neuen Historikerstreit“ aufgebauscht wurde. Widerspruch entspann sich vor allem an der Forderung, dem DDR-Alltag im kollektiven Gedächtnis breiteren Raum zu gewähren. Damit öffne die Kommission einer „weichspülenden Diktaturverharmlosung“ Tür und Tor, so der Vorwurf. Ein Buch, das die Debatte dokumentiert, ist dieser Tage erschienen.
Es ist heiß und hoffnungslos überfüllt im Seminarraum des Zentrums für Zeithistorische Forschung (ZZF) am Neuen Markt in Potsdam, als ZZF-Direktor Sabrow das Werk vorstellt. Und es wird schnell deutlich, dass sich die Kampflinien seit der Präsentation des Berichts im Sommer 2006, die knapp an einem Eklat vorbeischrammte, nicht wesentlich verändert haben. „Eine Expertenkommission, die über die Zukunft der Erinnerung bestimmt, das hatten wir doch schon“, ruft ein älterer Herr erregt, „ich hatte gehofft, diese leidvolle Erfahrung nicht erneut machen zu müssen.“ Martin Sabrow räumt ein, die DDR sei eine „Konsensdiktatur“ gewesen, verwahrt sich aber gegen den Kern des Vorwurfs. Erinnerungen entstünden unabhängig von Kommissionen, sagt er, und weil das zugleich den Zweck seines Gremiums in Frage stellt, fügt er hinzu: „Wir wollten nur die Richtung beeinflussen.“ So recht überzeugen mag das die wenigsten. Der Journalist und Historiker Peter Bender betont, das immer Geschichtspolitik herauskomme, wenn Politik sich mit Geschichte befasse. Das müsse nicht per se schlecht sein. Die Kommission habe weder die Diktatur noch den Widerstand relativiert und der Versuchung widerstanden, ein Schwarz-Weiß-Bild der DDR zu zeichnen. Bender bemängelt allerdings das völlige Fehlen der Außenpolitik im Bericht. „Das ist ein großes Manko. Vieles, was in der DDR geschah, wurde nicht im Politbüro, sondern in Moskau und Washington entschieden.“ Zudem sei die DDR nicht immer gleich gewesen: „Es ist ein verdammter Unterschied, ob wir über Ulbrichts Rasereien der 50er oder die autoritäre Langeweile der 80er Jahre reden.“
Als auch noch Reinhard Rürup, ehemals Direktor der Berliner „Topografie des Terrors“, anfügt, zeitgeschichtliche Forschung sei immer Geschichtspolitik, und wer das verleugne, sitze einer Illusion auf, springt Rainer Eckert auf. Der Leipziger Historiker war Kommissionsmitglied. Die gesamte Debatte gründe vom ersten Tag an auf einem für Deutschland symptomatischen Missverständnis, schimpft er: „Wir wollten keine Geschichte der DDR schreiben, keine Interpretationsanleitung.“ Vielmehr lautete der Auftrag, Empfehlungen an die Politik zu formulieren, wie Gedenkstätten und Gedenkpolitik zu organisieren seien. „Wir haben nie politisch argumentiert“, fügt er hinzu. „Als ob das einen großen Unterschied machte“, murmelt jemand im Plenum.
Indirekt hat Martin Sabrow die Schwierigkeiten da längst eingeräumt. Auf die Frage, ob in und mit Hilfe seiner Kommission Stellvertreter-Kriege der wichtigsten politischen Richtungen in Deutschland ausgefochten wurden, verstummt er kurz: „Nach langem Nachdenken muss ich sagen: ja!“

Erschienen am 29.03.2007 (Kultur)

Noch eine Kapitulation

Freitag, 23. März 2007

Das Frankfurter Scheidungs-Urteil und die Leitkultur-Debatte

Von HENRY LOHMAR
und JAN BOSSCHAART

POTSDAM Henryk M. Broder ergeht sich in Sarkasmus. „Was sich noch nicht herumgesprochen hat: Ich habe diese Frau bezahlt“, sagt der Berliner Publizist über die Familienrichterin aus Frankfurt/Main, die Gewalt in einer muslimischen Ehe gerechtfertigt hat. In der Tat: Der am Mittwoch bekannt gewordene Fall passt wunderbar zu Broders These, wonach der Westen in der Auseinandersetzung mit dem Islamismus sein Heil zunehmend im Appeasement, in der vorauseilenden Selbstaufgabe, sucht. „Hurra, wir kapitulieren“, hat „Spiegel“-Autor Broder sein jüngstes Buch genannt, in dem er sich mit diesem Phänomen beschäftigt.
Die Frankfurter Richterin hatte die vorzeitige Scheidung einer Muslimin von ihrem Mann, der sie geschlagen haben soll, abgelehnt und festgelegt, dass es „keine unzumutbare Härte“ sei, das Trennungsjahr abzuwarten. Sie berief sich dabei auf eine Sure des Korans und argumentierte, im marokkanischen Kulturkreis des Paares sei das Züchtigungsrecht des Mannes gegenüber seiner Frau nicht unüblich (MAZ berichtete). Die Frau, eine Deutsche marokkanischer Abstammung, wollte eine schnelle Scheidung mit der Begründung, ihr Mann habe sie geschlagen. Sie lehnte die Richterin schließlich als befangen ab, ein anderer Richter gab diesem Antrag am Mittwoch statt.
Der Fall hat bundesweit für große Aufregung gesorgt und eine neue Debatte über westliche Leitkultur und die Wehrhaftigkeit des demokratischen Rechtsstaats ausgelöst. Eine vernünftige Erklärung aber, wie eine deutsche Richterin auf die Idee kommen kann, den Koran quasi über das Grundgesetz zu stellen, hat keiner. Ein Einzelfall? Keinesfalls, sagt Henryk M. Broder. Es komme immer wieder vor, „dass Leuten ihr kultureller Hintergrund als mildernder Umstand angerechnet wird.“ Bekannteste Beispiele aus jüngster Zeit sind wohl der Streit um die dänischen Mohammed-Karikaturen und, in dessen Gefolge, die Absetzung der Berliner „Idomeneo“-Inszenierung. In der Interpretation des Mozart-Stücks war ein abgeschlagener Mohammed-Kopf auf der Bühne gezeigt worden.
Aber auch aus der Justiz gibt es Beispiele. So hatte ein Urteil des Potsdamer Landgerichts gegen das ZDF im vergangenen Mai für Unverständnis gesorgt. Die Richter untersagten dem Sender, einen früheren Imam der Berliner Mevlana-Moschee „Hassprediger“ zu nennen. Das ZDF-Magazin „Frontal21“ hatte über den Imam berichtet und ihn im Frühjahr 2005 auf der Internetseite ZDF-Online als „Hassprediger“ bezeichnet, der unter anderem Deutsche als „stinkende Ungläubige“ tituliert habe, die in die Hölle kämen. In der Urteilsbegründung hieß es, der Begriff „Hassprediger“ sei keine reine Meinungsäußerung, sondern enthalte den Vorwurf einer strafbaren Aussage.
Die Begründung der Frankfurter Familienrichterin wurde gestern einhellig zurückgewiesen. Der Zentralrat der Muslime bezeichnete das Verhalten als „skandalös und auch rassistisch“, die Frauenrechtlerin Seyran Ates warf der Richterin gar Menschenverachtung vor. „Gewalt darf mit nichts gerechtfertigt werden. Die Richterin sollte schleunigst suspendiert werden“, forderte der Bundesvorsitzende der türkischen Vereinigung, Kenan Kolat. Frauenrechtlerin Alice Schwarzer beklagte auf Spiegel Online „eine Unterwanderung des deutschen Rechtssystems durch islamische Kräfte im Namen eines anderen Kulturkreises“.
Interessant ist nun, was aus der Frankfurter Familienrichterin wird. Disziplinarische Konsequenzen seien abwegig, sagte der Bundesgeschäftsführer des Deutschen Richterbundes, Jürgen Lünemann. Er bezeichnete den Fall aber als „klare Fehlentscheidung.“ Autor Broder hat eine andere Idee: „Ich wünsche dieser Frau, dass sie in einen saudi-arabischen Harem verheiratet wird. Dann hätte sie die Praxis zu ihrer Theorie.“

Erschienen am 23.03.2007


%d Bloggern gefällt das: