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Was bleibt: Acht goldene Regeln

Donnerstag, 14. April 2011

Derzeit vergeht kaum ein Tag in dieser Stadt, an dem sich keine neue Bürgerinitiative gründet. Unerklärlicherweise gelingt es dann aber doch hin und wieder der Mehrheit – oder zumindest der Stadtverordnetenversammlung, die ein paar verschrobene Demokratietheoretiker immer noch für die Repräsentanz dieser Mehrheit halten – der Stadt Bestes gegen den wütenden Ansturm der Partikularinteressierten durchzusetzen. Das muss nicht sein. Mit ein paar einfachen Ratschlägen lässt sich so ziemlich jede Bürgerinitiative zum Erfolg führen – und zum Liebling in Politik und Medien machen. Hier die acht wichtigsten Punkte:
1. Engagieren Sie sich nur gegen Vorhaben, die Sie ganz konkret betreffen. Sehen Sie davon ab, sich für schwachsinnige übergeordnete Ziele wie Menschenrechte, Atomausstieg oder Kinderarmut einzusetzen. Bekämpfen Sie nur den Straßenausbau, der Ihr Geld kostet, die Verkehrsmaßnahme, die Ihnen Lärm beschert, das Neubaugebiet, das Ihnen die Sicht vom Balkon verbaut.
2. Ebenso unumstößlich ist es aber, niemals dazu zu stehen, dass es nur um Ihre ureigenen Interessen geht. Heucheln Sie stets ein Allgemeininteresse, reagieren Sie höchst empfindlich auf die Unterstellung, Sie wollten ja nur Ihre Ruhe im Vorgarten.
3. Für Fortgeschrittene: Simulieren Sie Verständnis für gesellschaftliche Notwendigkeiten, sehen Sie öffentlich ein, dass man die Straße, Schule oder Siedlung ja brauche, aber eben nicht genau hier, bei Ihnen. Ignorieren Sie den völlig hirnrissigen Einwand, dass, wenn alle das sagten, nirgendwo mehr Schulen gebaut würden. Was geht Sie anderer Leute Elend an?
4. Suchen Sie Gleichgesinnte, gründen Sie eine BI, geben Sie sich einen Namen, der mindestens einen Imperativ enthält und mit einem Ausrufezeichen endet. Sichern Sie sich die gleichlautende Internetadresse. Dort schauen zwar nur Ihre Mitglieder drauf, aber das gibt Ihnen die hübsche Gelegenheit, auf der Seite eine Umfrage zum bekämpften Projekt zu starten, deren Ergebnis Sie dann in einer Pressenotiz „repräsentativ“ und „überwältigend“ nennen.
5. Für Profis: Warten Sie mit Ihrem Protest bis kurz vor dem ersten Spatenstich. Ignorieren Sie jahrelange politische Debatten, Bürgerversammlungen, Foren, Presseberichte, Planauslegungen. Kommen Sie erst ganz zu Schluss hervor und klagen Sie dann lauthals, das hier mal wieder nicht mit den Anliegern geredet wurde, obwohl das doch das Naheliegendste gewesen wäre. Beklagen Sie ein Demokratiedefizit und mangelnde Bürgernähe.
6. Seien Sie, um Himmels Willen, feindselig und kompromisslos. Gehen Sie unbedingt davon aus, dass Ihnen Politiker und Verwaltungsmenschen Übles wollen, dass die Sie sie austricksen, hintergehen, auf die lange Bank schieben. Halten und erklären Sie jeden für komplett unzurechnungsfähig und böswillig, der eine andere Meinung vertritt.
7. Bemerken Sie, wie unfähig doch Verwaltung und Politik sind. Recherchieren Sie im Internet ähnlich aussehende Fälle, die anders entschieden wurden und verklären Sie diese dann zu Referenzurteilen. Lesen Sie sich auf eigene Faust in komplexe Rechtsmaterien ein und schreien Sie begeistert Zeter und Mordio, wenn ein Offizieller in der Bügerversammlung nicht Ihre Detailkenntnis hat.
8. Bleiben Sie unsachlich und bekämpfen Sie jedes Argument gegen das Vorhaben, so einleuchtend es auch sein mag. Vermeiden Sie Differenzierung wie der Teufel das Weihwasser. Und geben Sie nie, nie, nie ganz einfach zu, dass das Projekt gut ist, aber Sie einfach davon verschont bleiben wollen.

Erschienen am 14. April 2011

„Es gibt natürlich auch etwas zu verbessern“

Montag, 4. April 2011

Politik: Die nur knapp wiedergewählte CDU-Kreisvorsitzende Katherina Reiche empfindet die Potsdamer CDU nicht als gespalten

Nach einem turbulenten Parteitag mit vielen Vorwürfen gegen sie wurde Katherina Reiche am Freitagabend knapp wiedergewählt. Jan Bosschaart sprach mit ihr über ihre künftige Arbeit.

MAZ: Legt man das Wahlergebnis zugrunde, sind Sie nur noch Vorsitzende von knapp 52 Prozent Ihres Kreisverbandes – sehen Sie sich ausreichend legitimiert, ihn zu führen?
Katherina Reiche: Ja, ich bin von der Mehrheit der Anwesenden gewählt worden und werde den Kreisverband wie bisher mit vollem Engagement führen, in enger Zusammenarbeit mit den Vorsitzenden der Ortsverbände. Da auch alle Vorschläge unserer Konsensliste für Beisitzer und Stellvertreter bestätigt wurden, hatte der Parteitag am Ende doch das Zeichen der Geschlossenheit und des Aufbruchs gezeigt.

Insbesondere die Kluft zu Ihrer Fraktion scheint sehr tief zu sein – wie wollen Sie die überwinden?
Reiche: Schon im letzten Kreisvorstand waren von den fünf Fraktionsmitgliedern vier in diesem Kreisvorstand vertreten. Dort haben wir auch bisher miteinander gearbeitet. Wie auch immer: Es gibt natürlich auch etwas zu verbessern. Das christdemokratische Profil in der Stadtpolitik sollte stärker hervorgehoben werden.

Ist es nicht wichtig, dass Kreisverband und Stadtfraktion Hand in Hand, statt nebeneinander her oder gar gegeneinander agieren?
Reiche: Ihr Bild kann ich nicht nachvollziehen. Ich kann auch niemandem raten, dieses Bild in der Öffentlichkeit zu verfestigen. Mit Hans-Wilhelm Dünn, Michael Schröder und Horst Heinzel sind weiterhin drei Fraktionsmitglieder im Kreisvorstand, sie werden sich dort auch in Zukunft einbringen.

Fraktionsmitglied Peter Lehmann beklagt, sie wären in ihrer letzten Amtszeit nur einmal zu einer Fraktionssitzung erschienen.
Reiche: Ich bin präsent in Potsdam, in der Stadt und in der CDU, das wissen auch alle.

Sie haben angekündigt, um das Vertrauen jener, die sie nicht gewählt haben, zu werben. Wie wird dieses Werben aussehen?
Reiche: Ich habe ja am Freitag zehn Punkte vorgestellt, wie wir die Arbeit weiter entwickeln können. Dazu gehören Kreisverbandskonferenzen, also Kleine Parteitage zur inhaltlichen Arbeit, wir werden auch stärker in die Ortsteile gehen. Außerdem habe ich vier Stellvertreter und neun Beisitzer, die sich ebenfalls inhaltlich einbringen.

Nun hatten aber Sie angekündigt, um das Vertrauen zu werben, nicht der Vorstand …
Reiche: Der Vorstand arbeitet gemeinschaftlich und muss das Vertrauen in ihn rechtfertigen. Wie bisher, werde ich mit vollem Einsatz arbeiten. Wir werden alle intensiv arbeiten, um die Kommunalwahlen 2013 vorzubereiten. Das ist die Aufgabe dieses Kreisvorstandes.

Am Freitag wurden wiederholt die schlechten Ergebnisse bei der Kommunal- und Oberbürgermeisterwahl beklagt. Was ist das Ziel für die nächsten Wahlen 2013?
Reiche: Bei der Kommunalwahl 2008 war ich gerade seit zwei Monate im Amt. Die Partei hat gekämpft, aber wir waren mit dem Ergebnis selbstverständlich nicht zufrieden. Bei der Oberbürgermeisterwahl gab es eine besondere Situation, da haben alle auf den Amtsinhaber und den stasibelasteten Herausforderer geschaut. Bei den Wahlen zum Bundestag haben wir gezeigt, dass 20 Prozent für die CDU erreichbar sind. Das soll auch unsere Perspektive bei den Kommunalwahlen sein.

Wo sehen Sie die Ursachen für die tiefe Gespaltenheit Ihres Kreisverbandes?
Reiche: Ich teile diese Einschätzung gar nicht. Es gab am Freitag eine zweite Kandidatur für die Position des Kreisvorsitzenden, die Mitglieder hatten eine Auswahl und haben sich entschieden. Ich nehme dies als Auftrag und werde mit meinem Herausforderer Andreas Ehrl natürlich auch weiterhin gut zusammenarbeiten.

Sie sind 2008 auch mit dem Versprechen angetreten, den Kreisverband zu einen. Ist das gescheitert?
Reiche: Trotz des Kommunalwahlergebnisses sind wir in der Rathauskooperation vertreten, wir stellen nach vielen Jahren eine Beigeordnete, im Kampf gegen die Flugrouten über Potsdam haben wir uns als erste positioniert. Wir haben im Falle des Uferweges am Griebnitzsee auf die Bundesregierung eingewirkt, die Ufergrundstücke an die Stadt zu verkaufen, haben mitgeholfen, das Töpfer-Institut nach Potsdam zu holen, und sorgen immer wieder dafür, dass Forschungsmittel sowie Unesco-Welterbemittel nach Potsdam fließen. Das ist unser Erfolg für die Stadt.

Erschienen am 4. April 2011

Vulkanausbruch in der Mundhöhle

Samstag, 26. März 2011

Nachschlag: Das Curry Culture hat leckere Würste zu zivilen Preisen – und Soßen für Jungs, die hart sein wollen

Ob Spitzenrestaurant, Café, Kneipe, Ausflugslokal oder Döner – Mitarbeiter des Potsdamer Stadt- und Landkuriers sind als anonyme Tester unterwegs.

Der Weg in die Hölle ist mit vier Stufen versehen, die da lauten: Feuriger Pfad, Krakatau, Montezumas Rache und das Jüngste Gericht. Man kann diese Namen albern finden, aber wer die Currysoßen probiert, die sie bezeichnen, billigt ihnen augenblicklich einen gewissen Respekt zu. Auch sieht der Vorhof der Hölle vergleichsweise einladend aus: Das „Curry Culture“ ist der jüngste Spross in der reichhaltigen Imbiss-Landschaft der Bahnhofspassagen und lockt mit einem satten Paprika-Orange vorbeihetzende Passanten an den Tresen. Dort haben sie die Wahl zwischen klassischer Currywurst, Kalbscurrywurst, Krakauer, Chiliwurst, Bratwurst, Schaschlikspieß und Knusperschnitzel – am besten im Menü mit Pommes Frites und einem kleinen Getränk. Zwischen vier (Bratwurst) und sechs Euro (Schnitzel) werden dafür fällig.
Die Stars sind aber die Soßen, nicht nur die Dips für die „besten Pommes weit und breit“, wie ein Plakat kündet – Schnittlauchcreme, Quark, Knoblauch, Honig-Senf, Mayo – sondern eben jene Feuerpasten. Für den vorgebildeten Chilifreund stehen die Scoville-Werte der Soßen an jedem Platz. Die Scoville-Skala gibt die Schärfe von Paprika an, in dem sie den Gehalt an Capsaicin, das für die Schärfeempfindung zuständig ist, angibt. Eine Gemüsepaprika hat null, reines Capsaicin hat 15 Millionen Punkte auf der Skala. Ein Tropfen davon auf der Zunge genügt, um in Ohnmacht zu fallen. Wir probieren alle vier Soßen – mit einer Kalbscurrywurst, die wir zunächst kosten, so lange noch ein Rest Geschmackssinn im Mundraum regiert. Sie ist heiß, weich, außen schön kross, zartes Fleisch – wie eine Curry sein soll.
Los geht’s mit dem Feurigen Pfad (150 000), eine klassische Soße für Currywurstfans, die es gern etwas pikant mögen. Hat eine gewisse Schärfe, tut aber niemandem wirklich weh. So ermutigt, ist der Krakatau (300 000) dran. Das war ein Vulkan, der 1883 sich in unbewohntes Gebiet ergoss. Die Mundhöhle des Testers ist hingegen höchst lebendig. Noch. Sie bleibt es auch danach. Krakatau beißt zwar schon gehörig in die Schleimhäute, und eine gesamte Currywurst mit dieser Soße wäre schon irgendwo zwischen Genuss und Grenzwertigkeit anzusiedeln, aber um Frauen oder die Fußballkumpels zu beeindrucken, tun Männer ja so was. Immerhin: Der Tester zieht jetzt die Jacke aus. Ihm ist „irgendwie warm“ geworden. Es folgt Montezumas Rache (600 000). Kein schöner Name für ein Lebensmittel, weil sofort Assoziationen an Reisekrankheit und Urlaubswochen auf der Toilette auftauchen. Aber sei’s drum. Montezuma ist hinterlistig, denn die tastende Zunge erschmeckt zunächst nur Fruchtigkeit. Auch der Gaumen. Verdutztes Innehalten. Dann zündet der Nachbrenner. Es ist Zeit, den obersten Hemdknopf zu öffnen und von Nasen- auf Mundatmung zu wechseln – in dem sinnlosen Versuch, die gebeutelten Geschmacksknospen zu kühlen. Der Cola-Verbrauch steigt und verschafft die Illusion von Kühlung, obgleich wir vorab doch gelesen haben, dass nur Fett oder Alkohol das Capsaicin leidlich bändigen. Für einen Schnaps im Dienst ist es aber zu früh, und die sicherheitshalber mitgebrachte Schlagsahneflasche zu öffnen kommt nicht in Frage, so lange der wirklich nette Herr hinter der Theke so dämlich und erwartungsvoll grinst.
Also zum Finale. Das Jüngste Gericht bringt eine Million Punkte auf der Scoville-Skala und den Respekt der zwei Bauarbeiter, die am selben Tisch sitzen. „Alle Achtung!“ sagen sie, das kommt nicht oft vor. Es bleibt nicht viel Zeit, sich daran zu erfreuen. Der Mundraum verwandelt sich in ein flammendes Inferno, der Tester liefe am liebsten los und wird nur noch vom Berufsethos an den Platz gefesselt. Das Zahnfleisch scheint sich zurückziehen zu wollen, es spannt, es brennt und die Gesichtsfarbe nimmt das intensive Feuerwehrrot der Soße an. Die Serviette wird zum Abtupfen der Stirn benötigt, und eine ältere Damen gegenüber tippt beunruhigt ihren Mann an und schaut, als führe sie an einem Autounfall vorbei. Die Atemfrequenz liegt deutlich über 100, nur bringt das stoßweise Kühlen des Mundraums nichts. Das Capsaicin reizt zwar die selben Nerven, die auch Hitze melden. Jetzt hilft nur noch Geduld. In all das Leiden hinein sagt der Mann hinter der Theke, um Frauen zu beeindrucken, schaffen manche Männer davon sogar eine ganze Currywurst. Wir halten das für missverstandene Liebe.

Erschienen am 26.03.2011

Vernachlässigenswert

Donnerstag, 24. März 2011

Jan Bosschaart hat eine simple Lösung für Gartenstadt, die aber leider nicht funktioniert

Warum macht es sich die Stadt eigentlich so schwer, mit all diesen Workshops und Werkstätten, Bürgerversammlungen und Bürgeraktiv, mit Betroffenenvertretungen und Briefwahlen? Wenn eines immer deutlicher wird, dann, dass die Drewitzer die Gartenstadt partout nicht wollen. Auch wenn Außenstehende die Idee noch so gut finden, auch wenn das Konzept auf Bundesebene prämiert wurde, auch wenn die Stadtverordneten einstimmig – wann gibt’s das schon mal? – dafür waren: Die Drewitzer wollen es nicht. Sie wollen keinen Park, sie wollen Durchgangsverkehr, sie wollen keine Grünanlagen, aber ihre Parkplätze vor der Haustür; der Horizont der Argumente reicht manchmal nicht über Papierkörbe und alte Pizzaschachteln hinaus. Warum setzt die Stadt dann Experten, Nerven und Steuergeld ein, um Menschen, die es nicht besser haben wollen, zwangszubeglücken? Sagt doch die Pläne ab, lasst die Wohnungswirtschaft ihre Platten sanieren und überlasst Drewitz sich ansonsten selbst? Dumm nur, dass ein organisiertes Gemeinwesen im Interesse aller handeln muss. Also auch der rund 140 000 Nicht- oder Noch-Nichtdrewitzer. In 20 Jahren heißt es sonst nämlich, da wäre ein Stadtteil vernachlässigt worden, weil alle um die schicke Innenstadt besorgt waren.

Erschienen am 24.03.2011

Kluge Idee

Donnerstag, 10. März 2011

Jan Bosschaart über städtebauliche Weisheit in Abrissverfügungen

Bevor sich nun das Heer der Klagenden erhebt und den Umstand beweint, dass schon wieder historisch rekonstruiert werden soll in dieser Stadt, diesmal in der Pufferzone der Französischen Kirche, sei darauf hingewiesen, dass schon die heftiger Preußentümelei unverdächtige DDR es war, die zwar die Ruinen der Holländertypenhäuser für den sozialistischen Fortschritt in Form eines Hubschrauberlandeplatzes aus dem Stadtbild tilgte, zugleich aber aufgab, sie dereinst wiederzuerrichten, um der Französischen Kirche – was für ein bürgerlich-ästhetischer Gedankengang! – ihre Maßstäblichkeit zurückzugeben. Wie klug und weitsichtig das war, wird ersichtlich, wenn man erstaunt bemerkt, wie groß die Kirche neben dem Neubau plötzlich wirkt, und wie ganz ungerechtfertigt klein sie so ohne Kontext auf dem Bassinplatz stehend derzeit noch anmutet. Der Auftrag aus der Abrissverfügung von 1987 hätte auch vom heutigen Gestaltungsrat stammen können. Zugleich handelt es sich um eine städtebaulich kluge Entscheidung. Wenn nun dank Sonntagsverkaufsverbotes das Holländische Viertel wirklich wüst fallen sollte, baut die Stadt halt das „Kleine Holländerviertel“ wieder auf – für Senioren. Die haben dank demografischen Wandels in den nächsten Jahrzehnten nämlich ganz sicher Konjunktur.

Erschienen am 10.03.2011

Ostalgie zu Schlussverkaufspreisen

Montag, 7. März 2011

Messe: „Ostpro“ in der Metropolishalle war gut besucht / DDR-Produkte beliebt

Einkaufen wie im Konsum: Von Tempo-Linsen bis Röstfein-Kaffee.

POTSDAM | Geruchstechnisch ist die Messe „Ostpro“ eine Enttäuschung: „Hier gibt’s zwar Filinchen und Rondo Melange, aber es riecht trotzdem wie im Intershop“, stellt ein älterer Herr beim Betreten der Metropolishalle fest. Zwei Tage lang verkaufen rund 60 Anbieter typische Ostprodukte, neue Produkte unter typischen Ostmarken oder schlichtweg Regionales aus den nicht mehr ganz so neuen Bundesländern. Dem Besucherinteresse tut das 20 Jahre nach der Wende keinen Abbruch – rund 10 000 Gäste drängen sich laut Veranstalter an beiden Tagen in die Halle, ein bisschen Schlangestehen inklusive. Aber das gehörte in diesem Fall ebenso zum Flair wie der sehr moderate Eintritt von zwei Euro. Das Stimmengewirr ist leicht sächsisch gefärbt, der Altersschnitt liegt deutlich über 60 – Ostalgie ist kein Teenagerphänomen.
Gekauft werden weniger die Produkte als vielmehr das „Früher“-Gefühl, das sich in stark am Original gehaltenen Verpackungen manifestiert, deren Inhalt letztlich ein bisschen egal ist. Filinchen etwa gibt es mittlerweile in der „Kakao und Kokos“-Variante („hatten wir ja früher beides nich“) oder mit Dinkel („kannt’ ick damals nich“), sie gehen aber im Siebener-Pack wie geschnitten Brot über die Theke. Gleiches gilt für Tempo-Bohnen, -Erbsen, und -Linsen, für die sich die Leute mit Plastikkörben („Kein Rundgang ohne Korb“) der alten Zeiten wegen brav in die Schlange reihen, und es gilt auch für Plauener Spitze, Lausitzer Glanzbalsam (putzt Schuhe, Möbel und Bildschirme), Sarisal-Salz, Moskauer Eis im Butterpapier, Badusan-Schaumbad, Nautik-Rasiercreme und Elsterglanz. Inka Bause wirbt auf Plakaten für Röstfein-Kaffee, der inzwischen aus richtigem Kaffee besteht und sogar als Espresso und Cappuccino zu erwerben ist. „Das Original würd’ ich heute nicht mehr runterkriegen“, sagt eine Frau, die gerade für 42 Euro am Stand eingekauft hat. Sie kauft weniger die Produkte als „so ein Heimatgefühl“, wie sie bekennt.
Nach soviel Osten ist der Stand des „Neuen Deutschland“ gefühlsmäßig auch korrekt, die Listen für das kostenlose Probeabo füllen sich wie von selbst, und wer schon dasteht, nimmt auch die DVDs mit den schönsten Auftritten des Erich-Weinert-Ensembles und dem Propaganda-Filmchen „Berlin – Hauptstadt der DDR“ gern mit. Das Standardwerk „Die Flachzangen aus dem Westen“, das Wessi-Manager beim Spatenstich in Deutschen Demokratischen Boden auf dem Cover hat, verkauft sich gut, daneben liegen Poesiebände von Eva Strittmatter und das gesammelte Werk von Hermann Kant. „Von solchem Andrang aufs ND hätte Erich geträumt“, kommentiert ein Mann in der Schlange selbstironisch. „Welcher – Honecker oder Mielke?“, fragt sein Nebenmann. „Ist doch egal!“.
Das trifft’s. Zwischen Drei Haselnüssen für Aschenbrödel, Pittiplatsch und Bambina-Schokolade, deren Hauptzutat von gemahlenem Ostseesand längst auf echten Kakao gewechselt hat, schrumpft die Diktatur auf eine heimelig-lauwarme Warenwelt. Ob’s Erich – egal welchem – gefallen hätte, dass der ehemalige Klassenfeind die Arbeiter-und-Bauern-Produkte längst als Marketingfalle erkannt hat?
Der Konsument ist mittlerweile immerhin kritisch geworden. „Das gibt’s auch bei Kaufland, und zwar billiger“, ist ein oft gehörter Satz.

Erschienen am 07.03.2011

Rekordverdächtig

Freitag, 4. März 2011

Jan Bosschaart über Standortabwertung für sehr Fortgeschrittene

Diese Stadt kriegt wirklich nahezu jeden Investor klein. Im Zerreden von Vorhaben beweist die Landeshauptstadt eine Meisterschaft, um die man sie wirklich beneiden müsste, wäre sie nicht so destruktiv. Dass etwas aus rechtlichen Gründen nicht machbar ist, gehört ja noch zum Schicksal großer Projekte, auch dass sie zuweilen politisch nicht gewollt sind. Das Vertreiben von Investoren, die nicht mal Fördermittel wollen, noch bevor überhaupt ein Verfahren in Gang gesetzt werden kann, ist allerdings schon Standortabwertung für sehr Fortgeschrittene. Berlin mag es recht sein, dort war laut Investor in 48 Stunden alles geklärt. Solange Potsdam seinem eigenen Glück so engagiert im Weg steht, darf man sich über mitleidige Blicke aus der Bundeshauptstadt nicht wundern. Vielleicht muss man dergleichen in einer Stadt, der es seit Jahren gelingt, trotz großer Freiflächen in ihren Ortsteilen kein Tierheim auf den märkischen Boden zu setzen, ja auch erwarten. Dann allerdings bleibt die Frage bestehen, wo all die Bedenkenträger und Verhinderer waren, als es um die Errichtung einiger zweifelhafter Schönheiten der Nachwendezeit ging. Und welche Mopsfledermausseerosennatter von der „Königin der Nacht“ vertrieben worden wäre, aber den „Rock am Wasserturm“ klaglos erduldet.

Erschienen am 04.03.2011

Sargnagel

Freitag, 25. Februar 2011

Jan Bosschaart über ein völlig verfehltes Ladenschlussgesetz und seine Folgen

Es ist ein sehr kundenunfreundliches Ladenschlussgesetz, das 2010 auf Druck von Kirchen und Gewerkschaften zustande kam. Ladenöffnungen am Sonntag sind dort als absolute Ausnahme definiert – angeblich, um Verkäufer zu schützen. Dieses Scheinargument war von Beginn an nicht sonderlich überzeugend – Ärzte, Feuerwehrleute, Journalisten, Piloten und Busfahrer müssen ja auch am Wochenende arbeiten, Selbstständige sowieso. Letztlich wird mit den straffen Regelungen weniger die Profitgier der Wirtschaft gebändigt, als der Arbeitsmarkt geschädigt: Viele Geschäfte, die sonntags geöffnet hatten, mussten Angestellte entlassen. In schwächelnden Arealen wie dem Holländischen Viertel ist das Gesetz gar zum Sargnagel geworden: Wenn die halblegale Sonntagsöffnung der seidene Faden war, an dem der Geschäftserfolg hing, wird das Verbot zum geschäftlichen Todesurteil. Nicht nur, dass selbst der willige Käufer den von der Politik immer wieder geforderten Konsum an den einzigen arbeitsfreien Tagen nun gar nicht mehr leisten kann – es ist auch äußerst fraglich, ob all die arbeitslosen Verkäufer und insolventen Einzelhändler künftig den nun freien Sonntag dazu nutzen, mal wieder in die Kirche zu gehen. Oder der Gewerkschaft beizutreten.

Erschienen am 25.02.2011

Nur für geladene Gäste

Donnerstag, 17. Februar 2011

Landtagsbau: Grundsteinlegung wird zum Fehlstart für das wichtigste Bauprojekt des Landes / Jauch fehlte

Selbst aus der Prignitz waren Menschen angereist, um den Baustart ihres Landtagsschlosses zu erleben. Die Reise hätten sie sich sparen können.

Transparenz und Bürgernähe enden gestern Mittag bei Herrn Ullmann. Herr Ullmann ist ausweislich seines Namensschildes fürs Protokoll des Landtages zuständig, das heißt, er ist an diesem historischen Tag Prellbock des Bürgerzorns und versichert sich daher der Gesellschaft eines Quartetts breitschultriger Wachschützer in neonfarbenen Warnwesten. Denn zur Grundsteinlegung des Landtages darf nur, wer eine der 400 Einladungen hat.
Es geht um jenen Landtag, der, so erklärt es der Ministerpräsident den Auserwählten hinter dem blickdichten Zwei-Meter-Zaun, „hier unten auf Augenhöhe mit dem Bürger“ sein will. „Ein beschissenerer Start is ja wohl kaum denkbar“, findet ein älterer Herr vor der Absperrung. Es ist noch das freundlichste, was sich Herr Ullmann und seine Vierschröter mit humorlosem Gesichtsausdruck anhören müssen. „Frechheit“, „unverschämt bis zum Geht-Nicht-Mehr“, „Verbrecher da drin“, tönt es aus allen Richtungen. Lautes Grummeln, als die Spitze der Linkspartei samt ihrem Finanzminister und Schlossbauherren Helmuth Markov passieren darf. „Diese Leute haben mit aller Kraft gegen das Schloss gekämpft. Jetzt trinken sie auf Steuerzahlerkosten Sekt, und die Bürger, die dafür kämpften, stehen draußen und frieren“, schimpft jemand. Linksfraktionschefin Kerstin Kaiser ist das sichtlich unangenehm. „Ich habe nie für diesen Landtag gestimmt“, sagt sie, ohne anzuhalten. Sozialminister Gunter Baaske (SPD) murmelt etwas von „Sicherheit“ und „mal sehen, was sich machen lässt“. Zu sehen ist von ihm fortan nichts mehr. Auch die Bundestagsabgeordnete Andrea Wicklein (SPD) findet die Sperre „unsäglich“. Sie verstummt, als jemand fragt, ob die SPD Angst vor dem Volk habe. „Die wollen kein Prekariat und keinen Pöbel“, sagt einer aus der Prígnitz. Landtagsarchitekt Peter Kulka schüttelt den Kopf: „Man kann die Menschen mitnehmen oder nicht. Ich bin für mitnehmen.“
Der Bürgerprotest ist Wasser auf die Mühlen von Barbara Kuster. Die Schlosslobbyistin ohne Einladung zelebriert ihr Ausgesperrtsein: Demonstrativ trägt sie ein Fernglas vor sich her, um die Distanz der Regierung zu den Bürgern zu verdeutlichen. Es fruchtet: „Was? Sie sind nicht drin? Eine Schande!“ – das hört Kuster bestimmt 20 Mal.
Die Wut vor dem Tor macht resigniertem Sarkasmus Platz, als klar wird, dass die Zeremonie begonnen hat. „Vielleicht reicht der Sekt ja nicht für alle“, sucht jemand nach einer Begründung.
Herr Ullmann zieht sich mit zwei seiner Warnwesten zurück. Als der dritte Wachmann abrückt, planen die Ausgesperrten im Scherz den Durchbruch. „Gehen Sie sich doch mal aufwärmen, wir warten auch allein draußen“, ruft jemand dem verbliebenen Wachschützer zu. Kollektives Gelächter. Der Mann bleibt ernst. Irgendwer entdeckt das Schild, auf dem steht, dass das Gelände von scharfen Wachhunden gesichert werde. „Überlebende werden strafrechlich verfolgt“, steht darauf. Das finden die Umstehenden an diesem Tag nur begrenzt lustig.
Mittlerweile ist der Grundstein gelegt, und auf dem Weg zu den Häppchen läuft die Prominenz in Sichtweite zum Tor vorbei. Als Platzeck kommt, sind die „Heuchler“-Rufe so laut, dass er sie unmöglich überhören kann. „Der soll es nicht wagen, sich rauszureden. Er ist der Ministerpräsident“, ruft eine Dame mit hochrotem Kopf. „Lass doch“, sagt ihr Mann und legt beschwichtigend die Hand auf ihren Unterarm: „Wir hätten nicht kommen sollen, sondern Mittagsschlaf halten.“ Er zieht sie sanft mit sich. Für die Bürger gibt es an diesem Tag nichts mehr zu sehen.
Im Partyzelt ist der Fehlstart für das wichtigste Bauprojekt des Landes inzwischen aufgefallen. Es läuft die Suche nach dem Schuldigen. Oppositionsführerin Saskia Ludwig (CDU) ist aus Protest erst gar nicht gekommen. Der Linken-Landtagsabgeordnete Hans-Jürgen Scharfenberg kritisiert den eigenen Genossen Finanzminister: „Ich habe schon vor Wochen gesagt, man darf sich bei einem so symbolträchtigen Akt nicht einigeln.“ Markov war als Bauherr der Einladende. Er beteuerte gestern, man könne aus Sicherheitsgründen kein Volksfest auf einer Baustelle veranstalten. Damit hat er sich dem Regime des Baukonsortiums Bam Deutschland AG unterworfen. „Auf 100 Grundsteinlegungen habe ich so etwas nicht gesehen. Wenn einer in die Grube stürzt, zahlen wir die Rente bis zum Schluss“, sagt Bam-Vorstandschef Alexander Naujoks. Oberbürgermeister Jann Jakobs (SPD) sagt, er hätte den erfreulichen Anlass trotzdem lieber mit den Potsdamern gefeiert.
Einer war wieder eingeladen und ist wieder nicht gekommen. Günther Jauch, der Spender des Fortunaportals. Er habe nicht einmal geantwortet, sagt Markovs Sprecherin Ingrid Mattern. Der Potsdamer TV-Moderator hat nach den Querelen um den Schlossbau für sich entschieden: Du investierst nur noch in Menschen, nicht mehr in Steine. Die Kinder im Hilfsprojekt „Arche“ danken es ihm.

(Mit Volkmar Klein)

Erschienen am 17.02.2011

Na, geht doch

Donnerstag, 10. Februar 2011

Jan Bosschaart über die Pflasterhauptstadt und ihre Zentrale, den Bauausschuss

Die kollektive Begeisterung beim Aufruf des Themas „Pflaster“ im Bauausschuss kennt kaum Grenzen – das Gremium darf mit Recht und Fuge als deutlich pflastergeschädigt gelten, seit es sich dank einiger Mitglieder regelmäßig zwangsverpflichtet sieht, die Natursteinfrage zu diskutieren, bis alles auf Format geschlagen und festgeklopft ist. Die Liegezeiten des Ausschusses können sich da schon mal verdreifachen. Doch stand diesmal kein erneuter Antrag darüber zur zähen Debatte, ob nicht dort oder hier oder vielleicht auch da noch gepflastert werden könnte, sondern eine Information über die generelle Strategie der Stadt, und so wandelte sich Unmut in Freude: Dass nämlich „Pflastermeister“ Norbert Praetzel mit seinen Mitarbeitern da Wünschenswertes fernab jeder Ideologie sprichwörtlich auf den Weg bringt, stand über alle Fraktionsgrenzen, in diesem Fall müsste man gar sagen: über alle Konfessionsgrenzen hinweg fest. Mit einem ausgefeilten Konzept will Potsdam das Pflastererhandwerk wiederbeleben und stärken. Dazu wird die Ausbildung junger Straßenbauer ebenso gefördert wie Mitarbeiter qualifiziert und fremde Buddler auf Linie gebracht werden. Dieser unaufgeregte Zugang zwischen die steinharten Fronten wurde daher allenthalben begrüßt.

Erschienen am 10.02.2011


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