Mit Sturheit in den Arbeitsdienst

Justiz: Zeugen tödlicher Messerstecherei wegen unterlassener Hilfe vor Gericht

Weil sie einem Mann nicht halfen, den ihr Freund mit einem Messer verletzte, standen zwei Nauener gestern vor dem Jugendrichter.

NAUEN Hätte er nur das längst Offensichtliche eingeräumt, hätte er zugestanden, was das Gericht ohnehin wusste, der gestrige Tag hätte für Tino Müller besser enden können. Doch der 20-Jährige blieb stur bei seiner Version: Er hatte nichts gesehen, also konnte er auch nicht helfen.

7. Juli 2006: Deutschland ist im WM-Taumel, und Tino Müller hängt mit seinen Freunden Steffen Blum und Thomas Kroll auf dem Nauener Bahnhofsvorplatz herum. Bis auf Kroll haben sie keinen richtigen Schulabschluss, keinen Job, keine Perspektive, dafür ein dickes Vorstrafenregister. Sie trinken. Gegen 22 Uhr kommen vier junge Menschen von einer Betriebsfeier vorbei. Deren Fröhlichkeit muss für das resignierte, angetrunkene Trio zuviel gewesen sein: Sie pöbeln den zwei Frauen und zwei Männern in den Bahnhof hinterher, werfen Bierflaschen nach ihnen.

Steffen Blum steigt in den Fahrstuhl und fährt auf den Bahnsteig, um „die Sache zu klären“, wie Tino Müller berichtet. „Um ihm aufs Maul zu hauen“, präzisiert der Richter. Müller nickt. Er und Kroll folgen über die Treppen. Oben ist Blum bereits in eine Rangelei mit einem der Männer verwickelt: Man schubst und beschimpft sich. Mehr wollen Kroll und Müller nicht mitbekommen haben. Sie seien zum 40 Meter entfernten Ende des Bahnsteigs gegangen, um dort „ein Plakat zu lesen“. Währenddessen verletzt Steffen Blum sein Opfer mit drei Messerstichen schwer. Der Notarzt kann nur noch den Tod des Mannes feststellen.

Erst da habe er von der Eskalation Notiz genommen, behauptet Tino Müller vor Gericht. Es ist dieselbe Version, die er schon bei der Verhandlung gegen den Täter vortrug, der zu neun Jahren Jugendhaft verurteilt wurde. Der Staatsanwalt hält das für eine dreiste Lüge und hat Tino Müller und Thomas Kroll deshalb wegen unterlassener Hilfeleistung und uneidlicher Falschaussage angeklagt.

Fünf Zeugen stehen bereit, um auszusagen, dass die beiden Angeklagten nur drei, vier Meter entfernt standen. Doch Tino Müller ist entschlossen, nichts zuzugeben. Egal, wie bohrend Richter Martin Paßmann nachfragt, der stiernackige Angeklagte sitzt mit hochrotem Kopf da und bleibt einsilbig. Selbst sein Verteidiger ist machtlos. Mehrfach lässt er unterbrechen, um ihm ins Gewissen zu reden. Ohne Erfolg. Irgendwann hebt der Jurist die Arme entschuldigend Richtung Richtertisch: „Ich hab’s versucht!“ soll das heißen.

Nur Thomas Kroll beweist, dass er aus dem Trio der Klügste ist: Er gibt zu, das Messer in der Hand von Steffen Blum gesehen zu haben und darf unter der Auflage, 450 Euro Geldbuße zu leisten, nach Hause gehen. Tino Müller muss warten. Warten, bis sein schon sieben Eintragungen umfassender Erziehungsregisterauszug mit Diebstahl, Sachbeschädigung, Misshandlung, Körperverletzung und Strafvereitelung verlesen wird. Warten, bis die Jugendgerichtshilfe erklärt hat, dass er aus behüteten Verhältnissen stammt. Man einigt sich darauf, Jugendstrafrecht anzuwenden, wegen eklatanter Entwicklungsdefizite. Sein Verteidiger nennt ihn „einfach strukturiert“, die Jugendgerichtshilfe erwähnt zweimaliges Sitzenbleiben, den Abbruch der Lehrstelle und Desinteresse. Selbst der Staatsanwalt bittet Tino Müller, wenigstens dieses eine Mal nicht dumm zu sein. Vergeblich. Richter Paßmann verhängt daher 80 gemeinnützige Arbeitsstunden. „Rennen sie nicht aus purer Dämlichkeit in die nächsten Verfahren“, gibt er Müller noch mit auf den Weg. Zwei weitere laufen allerdings schon.

(alle Namen geändert)

Erschienen am 27.05.2008

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