Glassplitter im Geburtstagskuchen
84-Jährige bei Bomben-Evakuierung von Erinnerungen heimgesucht / Alte Dame will im Luftschutzkeller bleiben
BABELSBERG Als Hilde Wandel gestern Morgen kurz nach acht ihre Wohnung in der Fritz-Zubeil-Straße räumte, hatte sie das Schlimmste hinter sich: die Nacht. „Es war schrecklich. Alles brach über mir zusammen. Ich dachte: Jetzt ist es soweit. Jetzt sterbe ich wirklich. Doch dann bin ich wach geworden, und ich habe voller Erstaunen gespürt: Ich habe überlebt.“ Diesen Alptraum, der ihr jahrelang schrecklich vertraut war, hat Hilde Wandel ein halbes Jahrhundert nicht mehr gehabt. Warum er gerade jetzt wiederkehrt, daran hat die 84-Jährige keinen Zweifel.
Während sie erzählt, dreht Sprengmeister Manuel Kunzendorf etwa einen Kilometer entfernt gerade den Zünder aus der amerikanischen Sprengbombe. Als das 250 Kilogramm schwere Geschoss 1943 in den weichen Boden der Nuthewiesen an der Fritz-Zubeil-Straße fiel und ohne zu explodieren liegen blieb, hockte Hilde Wandel im Luftschutzkeller in der Gartenstraße – wenige Meter Luftlinie entfernt.
Es ist die 101. Bombenbergung seit der Wende in Potsdam, doch das erste Mal, dass Hilde Wandel deswegen evakuiert wird. Ein Zettel vom Gesundheitsamt an der Haustür hat sie darauf aufmerksam gemacht. Binnen Sekunden sei alles wieder da gewesen, sagt sie: Die Sirenen, die Todesangst, die Sorge um ihre rheumakranke Mutter, die immer von zwei Männern auf ihrem Stuhl in den Luftschutzkeller getragen werden musste, die Geräusche von splitternden Fenstern, das Echo der Druckwellen unter der Haut, die sie mehr als einmal von einer Ecke des Kellers in die andere warfen. Nein, Hilde Wandel braucht keinen Psychologen, um sich ihren Alptraum zu deuten. „Vielleicht“, sagt sie, „ist das eine der Bomben, die an meinem 20. Geburtstag fielen.“ Damals, am 6. März 1943, seien sie besonders nahe gefallen und der Aufenthalt im Keller ein Alptraum gewesen. Hilde Wandel erinnert sich gut an den Erdbeerkuchen, den ihre Mutter der nun erwachsenen Tochter gebacken hatte. Er war von Glassplittern übersät.
Derweil schüttelt Alina Weidemann gerade den letzten Tropfen Tee aus ihrer Thermoskanne in den Becher, den sie dann mit beiden Händen umklammert, um die Wärme herauszusaugen. Das ist ein aussichtsloses Unterfangen: Der Tee ist längst nur noch lauwarm. Seit 8 Uhr morgens bewacht die Auszubildende aus der städtischen Bußgeldstelle mit ihrer Kollegin Janett Meier aus dem Sozialamt einen Trampelpfad südlich der Großbeerenstraße, der direkt in den Sperrkreis führt. Bis auf einen Spaziergänger mit Hund versuchte in den fünf Stunden niemand, hier „durchzubrechen“, und selbst der verstand die Einwände sofort und machte kehrt. Alina Weidemann erzählt das mit Bedauern. Eine angeregte Debatte wäre zumindest eine kleine Abwechslung gewesen. Etwa 200 Verwaltungsmitarbeiter aus allen Abteilungen des Rathauses frösteln für Bombe 101 in gelben Warnwesten rund um den Sperrkreis um die Wette. Leere Kaffeebecher, Pizzaschachteln, Handschuhe und Schals erzählen von ihren Warmhalteversuchen. Gegen Mittag sind alle Themen angesprochen, der Blick auf die Uhr wird häufiger.
Um 11.30 Uhr hellen sich die Mienen auf: Der Einsatzleiter gibt endlich den Sperrkreis frei. Alle Anwohner sind raus, der Sprengmeister rückt nun dem Zünder zu Leibe.
Die Potsdamer waren diszipliniert. Brunhilde Schulz aus der Grünstraße verließ ihre vier Wände aber nur unter Protest: „Wir haben doch einen Luftschutzkeller“, sagte sie. Doch von besonderen Vorkommnissen wissen weder Verwaltung noch Polizei noch Feuerwehr. Ja, einige mussten nachdrücklich überredet werden, die Wohnung zu verlassen; ja, in einem Fall rückte der Schlüsseldienst an, um einen verbarrikadierten Anwohner von der Notwendigkeit der Räumung zu überzeugen; ja, etwa 35 Bürger, die schlecht zu Fuß sind, brachte die Feuerwehr mit dem Auto in die Ausweichquartiere am Schlaatz und in der Goethe-Schule. Aber sonst? Der Einsatzleiter schüttelt den Kopf und gießt sich Kaffee nach. Die Stadt ist Bomben gewohnt.
Hilde Wandel möchte sich nicht dran gewöhnen. Nicht, dass es ihr in der Turnhalle der Goethe-Schule missfiele, die für fünf Stunden ihre Unterkunft ist: 18 Bewohner aus dem Sperrkreis, überwiegend Rentner, treffen hier zusammen, das Gesundheitsamt empfängt sie mit Kaffee und Spekulatius. In der Halle sitzen die Evakuierten in einer Reihe und tauschen angeregt Details über Krankheit und Altersplagen aus. Nachdem alles gesagt ist, schauen sie stumm ins Leere. Hilde Wandel hingegen lässt die Erinnerungen schweifen. Es hilft ihr, die Nacht zu verarbeiten, sagt sie.
In Halina Kiriljug, die am Kartoffelhof arbeitet, aber heute wegen Sperrung frei hat, findet sie eine dankbare Zuhörerin. Kiriljug stammt aus der Ukraine, lebt seit sechs Jahren in Deutschland. In ihrer Heimat ist sie zweimal wegen Erdbeben evakuiert worden. „Das war aber nicht so lustig wie hier“, sagt sie und deutet mit der Kaffeetasse in die Runde. „Hier ist alles so organisiert, so – wie sagt man? – routiniert!“
Das wiederum ist ein Wort, das Manuel Kunzendorf meidet. Routine ist für Bombenentschärfer gefährlich. Dennoch war es ein normaler Arbeitstag, betont er, als er um 12.35 Uhr die Freigabe verkündet. Der Zünder ist raus, die Bombe transportbereit. Gefahr gebannt. Sozialdezernentin Elona Müller hat ihm eine Jumbopackung Dominosteine geschenkt, hoffend, man treffe vor Weihnachten dienstlich nicht mehr zusammen. Kunzendorf witzelt: „Sprengbombe entschärft, Kalorienbombe bekommen.“
Auch Hilde Wandel ist erleichtert, als die Nachricht in die Turnhalle durchdringt. Als kurz darauf die Schulklingel durchdringend schrillt, zuckt sie dennoch zusammen.
Erschienen am 23.11.2007