Zur Not auch im Schlamm
Kultur: Roland Seidler wuchtet das Theater Boitzenburg fast allein: Er schreibt, inszeniert und spielt mit
Es muss nicht immer Ralswiek sein: In der Uckermark etabliert sich ein Freilichttheater. Dahinter steht ein Mann, der schon mit Gojko Mitic durch die Mongolei ritt.
BOITZENBURG Auch das Wetter hat im Drehbuch geblättert. Feiner Landregen geht über Boitzenburg nieder – kurz bevor die Generalprobe beginnt. Das passt durchaus, um ein Stück in den englischen Wäldern des Sherwood Forest zu untermalen, doch soviel Werktreue hatte Roland Seidler eigentlich nicht im Sinn. Er setzt die schwere Holzbank ab, die er geradevor die Bühne schleppte, schaut grimmig gen Himmel, wirft sich in die Brust und donnert: „Scheiße, warum regnet es denn?“ Publikum gibt es zwar keines – die Helfer haben ihre Bänke stehen gelassen und sind unter Bäume geflüchtet – doch Seidler lässt seine rauhe Stimme erschallen, als handle es sich um eine lange geprobte Szene.
Die Generalprobe verschiebt der Regisseur Seidler wegen des Regens aber nicht. Im Naturtheater an der Boitzenburger Klosterruine müssen alle wetterfest sein: Darsteller und Helfer ohnehin, und auch die Zuschauer tun gut daran, auf jede Witterung vorbereitet zu sein – obgleich Seidler am Eingang auch Regencapes verkaufen lässt. „Das ist eine clevere Angelegenheit, nicht?“, sagt er und setzt ein Lausbubengesicht auf.
Seine Freude währt nicht lange, denn es regnet sich ein. Er fürchtet nicht um sein Stück – nach Jahren als Winnetou in Annaberg-Buchholz und als Oberbösewicht bei den Störtebeker-Festspielen in Ralswiek ist der Schauspieler Seidler einiges gewohnt, zur Not spiele er auch knietief im Schlamm, sagt er. Doch der Unternehmer Seidler fürchtet um die Zuschauerzahlen. Trotz allgemeinen Lobes für Idee und Umsetzung ist das Theater in der Klosterruine Boitzenburg im vierten Jahr seines Bestehens noch lange keine sichere Bank. „Finanziell ist das grenzwertig“, sagt er, „ich habe in letzter Zeit nichts verdient. Das muss sich ändern, sonst kann ich’s lassen.“ Beim Freiluft-Theater gilt: Gutes Wetter gleich gute Einnahmen. Die letzten Sommer waren eher regenreich.
Vor 15 Jahren hatte Roland Seidler erste Theaterpläne für die Uckermark. Sie waren deutlich größer: Mit dem Deutschen Theater Berlin und dem Nationaltheater in Weimar wollte er eine Klassikbühne in Boitzenburg gründen. Er hatte bereits zwei Minister im Boot, Kontakte nach Brüssel und zur Unesco, aber es scheiterte an den Leuten in der Gemeinde, die lieber ihre Ruhe haben wollten. „Da ist der Uckermärker komisch. Er will zwar Touristen, aber am liebsten solche, die Geld überweisen und dann wegbleiben.“ So wurde nichts aus dem Plan, doch der Kulturförderer Seidler nahm einen zweiten Anlauf: „Nun mache ich halt einfaches Volkstheater, schreibe die Stücke, inszeniere, entwerfe das Bühnenbild und spiele selbst mit“, sagt er mit einem Lächeln, das zwischen Wehmut und Trotz schwingt: „Uckermärker gelten als die stursten Menschen Deutschlands. Was die Gemeinde damals unterschätzt hat, ist: Ich bin auch einer.“
Jahr für Jahr nimmt Seidler sich vor, diesmal nicht mitzuspielen, und Jahr für Jahr tritt er dann doch auf: Weil Schauspieler ausfallen oder kurzfristig andere, besser dotierte Engagements bekommen. „Einmal musste ich alter Mann sogar den d’Artagnan spielen“, erzählt der 57-Jährige etwas kokett und fasst sich an die Leiste, die seit der Hauptprobe am Vortag schmerzt: Muskelzerrung beim Reiten.
Neben der Liebe zum Theater ist es diese uckermärkische Sturheit, die Seidler antreibt, die ihn dazu bringt, Schmerztabletten einzuwerfen, um trotz Verletzung reiten und fechten zu können. Sie hilft ihm, den Regen nach Kräften zu ignorieren, sie lässt ihn die Nachricht, ein Nebendarsteller habe wegen Brechdurchfalls kurz vor der Premiere abgesagt, mit einem Schulterzucken quittieren.
So bringt er seine Generalprobe trotz des Wetters sauber über die Bühne: Eine verschlungene Geschichte um fliehende Tempelritter, finstere Inquisitoren und den strahlenden Helden Robin Hood, den der Drehbuchautor Seidler als wendig-wieseligen Anarchisten anlegt. Als der Schauspieler Seidler schließlich die Bühne betritt – diesmal ersetzt er einen Tempelritter – wird klar, warum es letztlich egal ist, ob er wirklich so widerwillig einspringen muss oder ob das Abenteurer-Herz in ihm nicht doch einen Freudensprung macht, wenn ein Kollege ausfällt. Allein seine Präsenz auf der Bühne macht aus der soliden Mantel- und Degengeschichte ein Erlebnis: Was für eine Stimme, was für ein Charisma, welche Verve! Es ist ein klein wenig, als würde über Boitzenburg die Sonne aufgehen, trotz Regens. Wo die anderen nur spielen, verkörpert Seidler; wo sie deklamieren, lebt er seinen Text – mit jener Stimme, die unter anderem in Musicals am Ost-Berliner Metropoltheater geformt und beim Synchronsprechen für die Defa verfeinert wurde. Als Seidler neben Gojko Mitic durch die Mongolei galoppierte und in der Seeluft von Ralswiek zum Angriff rief, kam der entscheidende Hauch Rauheit hinzu.
Wegen dieser Präsenz sind es, trotz 26 Leuten auf der Bühne und einigen weiteren an der Technik, letztlich doch Seidler-Festspiele, die Aufführungen im Naturtheater Boitzenburg. Mit dem wettergegerbten Uckermärker, unter dessen Kettenhemd sich ein kleiner Bauch wölbt, steht und fällt das Theater, und Seidler weiß das: Er bindet seine 25-jährige Tochter als Regieassistentin und den 16-jährigen Sohn als Schauspieler ein. So lange er lebe, wolle er aber weiter in Boitzenburg Theater spielen, sagt er. Da mittlerweile nicht nur die Touristen, sondern auch immer mehr Uckermärker ins professionell ausgestattete Naturtheater kommen, könnte diese Rechnung aufgehen. Nur den Regen, den muss Seidler künftig ins Drehbuch einbeziehen. Und ihn bei den Auftritten weiterhin stur ignorieren.
Erschienen am 18.07.2008