Den Tiefpunkt unterboten

„Es geht vor allem um die Tiere“, das werden alle Beteiligten am Tierheim-Debakel nicht müde, zu betonen. Doch daran darf man getrost ernsthaft zweifeln. Vielmehr scheint es, als wären die ohnehin Leidenden in diesem ewig währenden, unwürdigen Gerangel nie der Zweck, sondern stets nur Mittel der Auseinandersetzung. Ob es um persönliche Animositäten zwischen Tierschutzverein und Stadtverwaltung geht, um Profilierungstendenzen oder vorgezogenen Wahlkampf, ist letztlich egal: Fest steht, dass es für die Landeshauptstadt mittlerweile mehr als nur peinlich ist, dass sie ihr Tierheimproblem nicht gelöst bekommt. Nach unzähligen Anläufen, nach all dem Streit um alternative Standorte, markierte der Vorstoß vom Mai, den Betrieb eines neuen Heimes nicht dem engagierten Tierschutzverein zu überlassen, sondern ihn europaweit auszuschreiben, den vorläufigen Tiefpunkt des Gezerres. Der ist nun mit dem hinter den Kulissen offenbar lange vorbereiteten und ohne Information der Fraktionen zur Unzeit kommunizierten Vorschlag, einen privaten Anbieter zu wählen, erneut unterboten worden. Ganz gleich, warum: Es geht nicht um Hund und Katze, es geht zu wie zwischen beiden Arten.

Erschienen am 27.08.2007

Wenn die Geigen wiehern

Filmlivekonzert zu „Dick und Doof“-Streifen fordert Musikern einiges ab

„War das Moll oder Dur? Also ich hab Dur erwartet.“ Scott Lawton lässt den Taktstock sinken und grinst. Ohne Blick in die Noten kann Gert-Jan Blom aus der ersten Bankreihe bestätigen: „Es ist Dur!“ „Dann habt ihr ein sehr interessantes Dur gespielt“, sagt Lawton, wieder seinem Orchester zugewandt. Die Musiker zucken mit den Schultern und schauen konzentriert auf ihre Notenblätter. Es funktioniert noch nicht alles, aber schon das meiste bei der Generalprobe zum „Filmlivekonzert Dick und Doof“ im Nikolaisaal, das heute Abend dort erklingen wird. Scott Lawton hat das Deutsche Filmorchester Babelsberg bestens im Griff, und er wird von zwei Profis in Sachen Filmmusik der 1920er und 30er Jahre flankiert: Musikforscher Piet Schreuders und Gert-Jan Blom, Orchesterleiter der berühmten „Beau Hunks“, stehen dem Dirigenten zur Seite.

Die beiden Niederländer haben sich das Verdienst erworben, die fast vergessene und vielbelächelte Filmmusik der letzten Stumm- und ersten Sprachfilme auszugraben. „Es ist fast ein archäologischer Prozess gewesen“, sagt Piet Schreuders. Weder gab es Aufnahmen dieser Stücke, noch Noten, noch hielten es die damaligen Filmemacher für nötig, Komponisten oder Musiker im Abspann zu erwähnen. Also setzten sich Schreuders und Blom zusammen und hörten sich die Musik tausende Male an. Sie transkribierten die Noten, bevor sie sie wieder zu Orchesterarrangements zusammensetzten. „Originaltreue war dabei oberstes Gebot“, sagt Schreuders. Vier Alben produzierten die „Beau Hunks“ mit dieser Musik und erwarben sich internationalen Ruhm, bevor sie sich, der Filmmusik müde, wieder anderen Projekten zuwandten. Drei seiner Besten – Saxophonisten und Klarinettisten – hat Gert-Jan Blom nach Potsdam mitgebracht, um das Filmorchester zu unterstützen. „Das Orchester ist gut, aber für sie ist es ein Konzert. Für uns ist es Enthusiasmus und ein Teil unseres Lebens“, erklärt Schreuders lächend den Unterschied.

Den schwersten Job an diesem Abend aber hat zweifellos Scott Lawton: Er muss nicht nur rund 20 Musiker dirigieren, sondern auch noch darauf achten, dass Melodien synchron zu den zwei „Dick und Doof“-Filmen auf der Leinwand laufen. Manchmal auf den Ton genau. „Scott macht das super“, sagt Piet Schreuders anerkennend, „egal in welchem Dur“.

Erschienen am 24.08.2007

Tach ringsum!

In der Potsdamer Polit-Elite hat sich ein Hang zur sprachlichen Pflaumigkeit breit gemacht, der jovial wirken soll, in Wirklichkeit aber nur peinlich, weil irgendwie „ossig“ ist. So in etwa lautet die These eines großen Hamburger Nachrichtenmagazins, das doch wirklich einen seiner Spitzenschreiber nach Babelsberg-Süd entsandte, um der Einweihung eines Aufzugs beizuwohnen. Ob’s nun dem Sommerloch zu klagen ist oder der Edelfeder ein besonderer Hang zu Liften innewohnt, muss ungeklärt bleiben, denn der Text lässt die Frage nach seinem Anlass aus Hamburger, ja nationaler Sicht offen. Jedenfalls gibt der Autor die Protagonisten – neben Anwohnern auch den Infrastrukturminister – gern mundartlich wieder, er lässt sie „„jefördert“, und „abjewandelt“ sagen und nutzt das nicht nur, um seinen Text lokal einzufärben, sondern auch, um dessen Süffisanz durch diesen Schwung Provinz zu steigern. Tja: Wer sich in die Mark begibt, der muss ooch mittet Berlinern auskommen. Ein paar weitere Termine, etwa mit dem Landesvater, der beim Betreten eines Raumes stets ein launig-flapsiges „Tach zusamm’“ oder „Tach ringsum“ in die Menge wirft, hätte die Edelfeder aber gelehrt: Die tun hier nicht nur so. Die sind so.

Erschienen am 11.08.2007

Die dunkle Seite der Amundsenstraße

RTL ließ für düsteren Krimi eine Verfolgungsjagd drehen

NEDLITZ Kein Hase und kein Reh musste am Montagabend um sein Leben fürchten, als im Wald an der Amundsenstraße scharf geschossen wurde. Dafür aber der Mann vom Special-Effects-Team: Hauptdarstellerin Melika Foroutan war sichtlich genervt, als ihre Pistole nach zwei Schüssen nur noch ein leises „Klack“ von sich gab – gerade, als sie zum dramatischen Höhepunkt abdrückte. Regisseur Peter Keglevic rief daraufhin „Abbruch“ und zog sich mit krauser Stirn zurück, Aufnahmeleiter Stefan Bechem sah aus, als explodiere gleich er statt der Patrone.

Pannen passieren, obwohl es hochprofessionell zugeht am Set von „Die dunkle Seite“, der Verfilmung des gleichnamigen Romans von Frank Schätzing („Der Schwarm“), den die Firma Network Movie für RTL dreht. Doch der lange Drehtag fordert an diesem Abend Tribut: Seit 6 Uhr morgens ist die vielköpfige Crew in der Amundsenstraße am Werk, die dafür voll gesperrt ist. Mehr als diesen einen Tag haben die Filmleute allerdings auch nicht für die rund sieben Filmminuten, in denen eine Verfolgungsjagd und deren nervenaufreibender Showdown zu sehen sein werden.

„Die Amundsenstraße ist grandios. Wir mussten dort einfach drehen. Diese dichte Allee, über der die Baumkronen ein durchgehendes Dach bilden, ist eine unglaubliche Kulisse“, schwärmte Andi Wecker, leitender Producer bei Network Movie am Telefon. Durch ihren rund 1,5 Kilometer langen, schnurgeraden Verlauf eigne sie sich zudem hervorragend zum Filmen der Verfolgungsjagd.

Die war am Montagabend schon längst im Kasten. Trotz erster Ermüdungserscheinungen konzentrierte sich das Team auf deren Schluss-Szene, wo Detektivin Vera Gemini (Melika Foroutan) den Privatdetektiv Christian Zander (Charly Hübner) schließlich stellt und zum Reden bringen will. Filmleute sind Perfektionisten. Nicht nur, dass der Zugang zum Set dem Passieren einer Hochsicherheitsschleuse glich, auch entlang aller denkbaren und einiger undenkbarer Zuwegungen zur Straße waren freundliche, aber strenge Sicherheitsleute aufgestellt. Vor Ort herrschte hochprofessionelles Gewusel. Spiegelungen in Autoscheiben, Lichteinfall, Störgeräusche durch überquerende Flugzeuge, Überreste der Ausrüstung im Bild, all das zu verhindern hatte Aufnahmeleiter Stefan Bechem im Blick. Während Melika Foroutan und Charly Hübner ihre Texte durchgingen, tupfte die Maske ihnen den Schweiß aus dem Gesicht, jemand verteilte Ohrstöpsel gegen den Knall der Pistole und ein Kamera-Assistenz sprintete nach dem Ersatz-Akku.

Nur Peter Keglevic verströmte eine Ruhe, als säße er nicht im Zentrum des Orkans, sondern betrachte ihn durch eine Glasscheibe. Der in Salzburg geborene Drehbuchschreiber und Regisseur ist bereits mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Grimme-Preis für seine Verfilmung der Oetker-Entführung und dem Goldenen Löwen für „Die Roy-Black-Story“. Darüber hinaus gilt Keglevic als Krimi-Spezialist: Er drehte auch mehrere Tatort-Folgen und Episoden bei „Doppelter Einsatz“ und „Der Elefant“. Wann „Die dunkle Seite“ auf RTL gesendet wird, ist derzeit noch unklar.

Erschienen am 08.08.2007

Das wahre Leben

Es ist verdienstvoll, dass das Medienlabor Potsdam und die „Politikfabrik“ junge Menschen die EU „abchecken“ lassen. Und es ist nötig. Denn obwohl die Abiturienten, Azubis und Studenten heute weltgewandt und weltoffen sind und mit 20 Jahren oft mehr von der Welt gesehen haben, als ihre Eltern mit 40 oder 50, rauscht die politische und gesellschaftliche Wirklichkeit im Zielland häufig im Zug oder Bus an ihnen vorbei. Clubs sind halt keine Vorstädte, Strände keine Provinz und Bars keine Bergdörfer. Genau in letztere aber werden die EU-Checker gesandt, und die Pflicht zur Berichterstattung schürt das Interesse am Leben und Leiden dort. Selbst der gern und oft zu Recht vorgebrachte Einwand, es bewerbe sich ohnehin nur, wer schon politisches Interesse habe, zieht diesmal nicht: Durch die Auswahl per Abstimmung im Internet und dadurch, dass man die Reise online verfolgen und mitbestimmen kann, kommt ein wesentlich größerer Kreis von Jugendlichen mit dem wahren Leben vor Ort in Berührung. Nicht zuletzt ist es sympathische Werbung für Deutschland: Dass unsere Jugend so sehr an seinem Alltag interessiert ist, dürfte den rumänischen Bauern und den bulgarischen Vorstädter recht positiv überraschen.

Erschienen am 20.07.2007

„Karl Marx“ lässt Häuser liften

Eine Aufzug-Inbetriebnahme mit ministeriellem Beistand

AM STERN Ruth Rauter hatte mit vielem gerechnet an diesem Vormittag, aber nicht damit, dass der Minister begehrliche Blicke auf ihren Braten werfen würde. Doch Reinhold Dellmann (SPD), im Kabinett für Verkehr und Infrastruktur zuständig, tat genau das: Er stellte sich vor den Braten in Ruth Rauters Küche und sagte vernehmlich: „Der sieht aber lecker aus!“ Der Appetit war so deutlich zu hören, dass Frau Rauter, obschon bestrebt, eine gute Gastgeberin zu sein, sich gezwungen fand, zu antworten: „Ja, der ist für unseren Besuch, der gleich kommen wird.“

So zog der Minister knurrenden Magens wieder aus der Rauterschen Küche. Er hatte sie betreten, weil Ruth und Gerd Rauter die ersten Wiedereinzügler in der Galilei-Straße 73/75 sind, seit die Wohnungsgenossenschaft „Karl Marx“ das Haus aufwändig sanierte: mit neuem Wohnungszuschnitt, neuen Bädern, Wärmedämmung, neuer Fassade und einem Fahrstuhl, der dafür sorgt, dass 15 Wohnungen nun alten- und behindertengerecht zu erreichen sind. Rund 1,7 Millionen Euro hat das gekostet, und weil das Land im Rahmen eines Zuschussprogramms die Hälfte der Kosten des Aufzugs – etwa 90 000 Euro – übernahm, schaute auch der Minister zur Einweihung vorbei. Schließlich ist die Galileistraße 73/75 das erste Haus, das in den Genuss dieses im Zuge der Föderalismusreform an die Länder gewanderten Fördertopfes gelangte, der im Februar geöffnet wurde.

Es war Dellmans erster Termin nach dem Urlaub und es schien, als habe er gefastet: Auch WG-Chef Ulf Hahn musste den Minister enttäuschen, als der nach einer Testrunde mit dem Fahrstuhl fragen ließ, wo denn nun die Schnittchen zu finden seien. „Beim nächsten Mal wieder“, sagte Hahn, und machte ein Gesicht, als sei er beim Abschreiben ertappt worden.

Davon abgesehen war es ein guter Tag für den WG-Chef: Die hellen, großzügigen und leicht zugänglichen Wohnungen mit 46, 55 und 61 Quadratmetern Wohnfläche ernteten viel Lob und sind samt und sonders schon vergeben, nicht zuletzt wegen günstiger Mietpreise. Der Beginn der Sanierung und Erweiterung des nächsten Hauses steht noch in dieser Woche an: Am Kahleberg werden nicht nur zwei Stockwerke auf ein weiteres WG-Gebäude draufgesetzt, dank erneuter Förderung aus dem Hause Dellmann wird auch dort ein Aufzug das Erreichen der Wohnungen nicht nur für Alte und Behinderte erleichtern.

Die Rauters sind schon jetzt hochzufrieden. Sie sind trotz Baulärms früher zurückgezogen und erfreuen sich täglich am neuen Schnitt ihrer Wohnung, am breiten Korridor und dem großen Bad. Und am noch eben geretteten Braten.

Erschienen am 31.07.2007

Ein Schmuckstück

Er wünsche sich die Überschrift „Villa Quandt macht Riesenfortschritte“, erklärte Demir Arslantepe nach einer Baustellenführung mit schelmischem Grinsen dem Pressetross. Der Baudenkmalpfleger der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten fügte hinzu, er wolle das nicht für sich, sondern für seinen geschundenen Presse-Chef, der unter der massiven Kritik an der neuen Parkordnung schwer leide. Nun sind Journalisten ein renitenter Haufen, der sich höchst ungern etwas vorschreiben lässt, und so musste dem Denkmalpfleger schon aus Prinzip seine Wunschzeile verwehrt werden. Davon abgesehen aber ist selbst bei kritischem Blick wenig auszusetzen am Baugeschehen in der Großen Weinmeisterstraße: Die Arbeiten liegen im Zeitplan, die künftigen Nutzer wurden, wo immer es ging, in die Planung einbezogen, und den Teilnehmern der Baustellenführung war die Begeisterung über die Wandlung der Villa von einer düsteren Ruine in ein helles, repräsentatives Schmuckstück deutlich anzusehen. Selbst die „Russensauna“ im Keller hat die Stiftung liebevoll restaurieren lassen, auch wenn sich wohl keine Nutzung dafür finden wird. Zusammengefasst heißt das wohl: Die Villa Quandt macht Riesenfortschritte.

Erschienen am 13.07.2007

Unverzichtbar

Es ist eine Plage, seine Erinnerungen an nachfolgende Generationen weiterzugeben. Nachfolgende Generationen tendieren dazu, ihre Erfahrungen und ja, auch ihre Fehler, selbst machen zu wollen. Nachfolgende Generationen fühlen sich schnell belehrt oder – und das ist angesichts heikler Themen wie des Holocaust um so schlimmer – schlichtweg gelangweilt. Das trifft besonders auf Jugendliche zu, für die das irgendwie graue Vorzeit ist, die keinen Bezug zu ihrem Alltag zu haben scheint, der sich eher um Pop, Pickel und Pubertät dreht. Es ist nicht mal eine Saat, die schnell aufgeht, denn die Erfolge zeigen sich oft erst, wenn der Weitergebende nicht mehr lebt. Und nicht jeder ist ein Talent wie Anne Franks Freundin Hannah Pick-Goslar, das mühelos größere Säle fesselt.

Es kann aber auch ein Kinderspiel sein, Erinnerungen weiterzugeben. Nichts macht mehr Spaß, als etwas zu schaffen, das einen überdauert. Im Alter wächst der Wunsch, etwas über das Materielle Hinausreichendes zu hinterlassen. Wenn es auch noch in einer Gruppe wie den „Zeitzeugen“ geschieht, kann es kaum Schöneres geben. Doch egal, ob Weitergabe Frust oder Freude ist, eines ist sie sicher: unverzichtbar.

Erschienen am 10.07.2007

Freundinnen in schwerer Zeit

Hannah Pick-Goslar berichtete an der Voltaire-Schule von Anne Frank

INNENSTADT Es muss schwer sein für Hannah Pick-Goslar, in Anne Franks Tagebuch zu lesen. Besonders jene Stelle, in der Anne mutmaßt, ihre Freundin Hannah sei vermutlich längst tot. Seit Ende des Krieges ist es genau andersherum: Anne ist tot, Hannah lebt. Und sie wird nicht müde, davon zu berichten – davon, wie sie Anne kennen lernte, und was für finstere Zeiten es waren. In Amsterdam, wohin die beiden jüdischen Familien geflohen waren, als Hitler 1933 an die Macht kam, trafen die beiden Fünfjährigen aufeinander: Eine Begegnung im Gemüseladen, der erste Tag im Kindergarten, und Hannah und Anne sollten Freundinnen werden für den Rest ihres Lebens. Sie ahnten noch nicht, dass das nur noch wenige Jahre waren.

Soweit es ihre Kraft und Gesundheit zulassen, kommt Hannah Pick-Goslar aus Jerusalem oft nach Deutschland, um ihre und Annes Geschichte zu erzählen. Besonders oft kommt sie nach Brandenburg, und in die Landeshauptstadt am liebsten. Die Aula der Voltaire-Schule ist gut gefüllt an diesem Vormittag, fast 100 Schüler, vorrangig aus der achten und neunten Klasse begrüßen die energiegeladene Israelin mit kräftigem Applaus. Sie wirkt nicht wie 79 – straffer Gang, pechschwarzes Haar, elegante Kleidung, selbstsicheres Auftreten. Die Entschuldigung für ihr schlechtes Deutsch darf getrost als Koketterie verbucht werden: In ihrem rund einstündigen Vortrag, frei und ohne Pause gesprochen, unterläuft ihr kein Fehler, keine Betonung weist darauf hin, dass sie seit vielen Jahren im Nahen Osten lebt, nicht mal ein Wort sucht sie.

Hannah Pick-Goslar begeht auch nicht den Fehler, Anne Frank auf einen Sockel zu heben. Sie ist klug genug, zu wissen, dass ihr Tagebuch, das offenbar alle im Saal gelesen haben, für sich spricht. Die reale Anne mit ihren Schwächen zu zeigen, lässt die Schüler viel näher an das junge Mädchen heran, lässt sie stärker mitleiden, als es jeder Heroisierungs-Versuch könnte. Anne habe gern im Mittelpunkt gestanden, sagt Hannah Pick-Goslar, und ihre Mutter habe mit Recht gesagt: „Vielleicht weiß Gott alles, aber sicher ist: Anne weiß alles besser.“ Um so stärker und nachhaltiger hat sich die vom Typhus geschwächte, jämmerliche Gestalt mit der dünnen Stimme in Hannah Pick-Goslars Gedächtnis eingebrannt, der sie Jahre später, von einem Stacheldrahtzaun getrennt, im KZ Bergen-Belsen begegnete: Wenige Wochen nach diesem Zufallstreffen war Anne tot. Sie würde wohl glücklich sein, zu wissen, dass sie ihre Energie und Erzählkraft an ihre Freundin weitergegeben hat.

Erschienen am 10.07.2007

Das Stock-Werk

„Auf geht’s“, das hielt der gewöhnliche Deutsche bislang für eine ländlich-bajuwarische Ermunterung, die dem sinnenfrohen Bergvolk den beschwerlichen Aufstieg zu den Rindviechern auf der Alm erleichtern sollte. Auch wenn die zwei Silben, knackig wie a Lederhos’n, längst legion geworden sind: Spätestens durch testweises Anhängen eines „Buam!“ gelingt die landschaftliche Einordnung des rustikalen Motivationsausrufs selbst dem Zugereisten.
Dass indes die ursprüngliche Bedeutung eine – man muss es so deutlich sagen: – handfestere ist, hat die Welt jenseits des Weißbieräquators nun von zweien erfahren, die eher für den schnellen Abstieg berühmt sind. Naheliegenderweise war es der Donau-Kurier, der „die Skilegenden Rosi Mittermeier, 56, und Christian Neureuther, 58“ mit dem endgültig aufklärenden Satz zitierte: „Seit eine Studie belegt hat, dass Nordic Walker länger Sex haben, steht meine Frau täglich mit den Stöcken neben meinem Bett und drängt: ,Auf geht’s! Auf geht’s!’“ Selbst wenn wir uns ungern vorstellen, welche Rolle die Stöcke konkret dabei spielen mögen, auch wenn wir nicht verstehen, ob es dem Altersunterschied geschuldet ist, dass der Neureuther Christian – noch? – im Bett liegen muss, während die Mittermeier Rosi die Stecken schon fest in der Hand hat, so imponiert doch zweierlei: Der in Zeiten blauer Pillen rührend naive, ja fast schon naturmystisch zu nennende Glaube, allein durch Zuruf die erhoffte Wirkung zu zeitigen und nicht zuletzt die offenkundige Vertrautheit der beiden Spezl’n mit dem breiten Repertoire der Symbolik des Liebesspiels.
Haben nicht schon unzählige Romanciers und Regieheroen, Maler und Musiker, Psychologen und Pornoproduzenten, Größen des Geistes und Groschenheftautoren den Aufstieg, die Treppe und den Gipfelsturm mit dem Akt verglichen? Taten wir den beiden munteren Margarinevertretern gar unrecht, wenn wir mutmaßten, die Vereinigung der Geschlechter sei für sie nur eine weitere Form des cholesterinbewussten Genießens? Was der Donaukurier dazu verrät, ist im Grunde nur das: bei der Rosi und dem Christian, da läuft’s offenbar wie geschmiert.

(Veröffentlicht am 16. Juni 2007)


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