Dringend gesucht: 30 Hektar für ein Anti-G8-Camp

Protestgruppen klagen über mangelnde Kooperation rund um Heiligendamm: Im Ernstfall sehen sie das Land in der Pflicht

SCHWERIN Etwa 20 000 Mitstreiter erwarten die vornehmlich linken Gruppen und Aktionsbündnisse, die beim G8-Gipfel in Heiligendamm im Juni gegen die Globalisierung protestieren wollen. Eine Fläche, um für sie ein Camp einzurichten, wird hingegen noch händeringend gesucht. Die teilnehmenden Organisationen – vor allem Attac und die Jugendgruppen der Grünen, des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) und des Bundes für Umwelt und Naturschutz in Deutschland (Bund) – haben für diese Aufgabe eine Camp AG ins Leben gerufen.
„Um alle unterzubekommen, bräuchten wir etwa 30 Hektar freie Fläche“, sagt Adolf Riekenberg von der Camp AG. Viele Bürgermeister rund um Heiligendamm begegnen dem Ansinnen mit Skepsis und würden sich auf eine Hinhalte-Taktik verlegen, so Riekenberg. „Die wissen offenbar nicht, was auf sie zukommt und was so ein Protest eigentlich ist“, vermutet er. Momentan führt die Camp AG nach eigenen Angaben Gespräche mit Bürgermeistern im Amtsbereich Bad Doberan. Einzelne Gesprächspartner hätten bereits zugesagt, sich im Gemeinderat für das Anliegen der Camp AG stark zu machen. Dennoch vermisst Riekenberg den „Willen, sich wirklich intensiv der Lösung des Platzproblems zu widmen“. Sollte es nicht gelingen, die geeigneten Flächen zu bekommen, sieht die Camp AG das Land in der Pflicht, für die Unterbringung der Protestler zu sorgen.
Ein Ansinnen, dass das Innenministerium in Schwerin energisch zurückweist. „Wir sind nicht verpflichtet, irgend etwas zur Verfügung zu stellen“, so Sprecherin Marion Schlender gegenüber der MAZ. Das gelte ebenso für die Kommunen vor Ort. Das Innenministerium würde es aber begrüßen, wenn Camp AG und Gemeinden zu einer einvernehmlichen Lösung kämen. „Es ist sicher im Interesse aller, wenn es zu einer Einigung kommt. Die Gemeinden haben dann Kontrolle darüber, wo gecampt wird, und die Polizei kann leichter für Ordnung sorgen“, so die Sprecherin. „Die Leute kommen nämlich ohnehin, auch wenn es kein offizielles Camp gibt.“ In einer Pressemitteilung hatte die Camp AG bereits gedroht, sie werde individuelle Lösungen finden, falls die Gemeinden rund um Heiligendamm nicht genügend Platz zur Verfügung stellten. Das soll im Klartext wohl heißen: Dann campen wir, wo es uns passt, und ihr habt den Schaden. Konkret wollte Adolf Riekenberg diese Drohung aber nicht bestätigen.
Auch die Pressestelle der extra für den G8-Gipfel eingerichteten Sonderpolizeieinheit „Kavala“ verweigerte mit Hinweis auf die laufenden Verhandlungen die Auskunft. Derweil ärgert sich die Camp AG über die jüngst bekannt gewordenen Pläne, um den umstrittenen Zaun um Heiligendamm noch eine zehn Kilometer breite Sicherheitszone zu ziehen, in der nicht protestiert oder gecampt werden darf. „Wir werden diese Zone nicht akzeptieren“, erklären die Gipfelgegner, freuen sich aber über die hohe Zahl der eingesetzten Polizisten: „Das zeigt, dass die internationale Protestbewegung ernst genommen wird.“

Erschienen am 28.02.2007

Klarheit und Reinheit

2005 konvertierten mehr als 4000 Deutsche zum Islam – darunter auch einige Märker

POTSDAM Für Christian Hoffmann war es wie ein Blitz. Auf seinem Balkon sitzend, durchflutete ihn plötzlich die Erkenntnis: „Himmel und Erde sind Allahs Schöpfung, und der Islam ist die letzte von ihm offenbarte Religion.“ Glaubt man seinen Worten, so war er damals glücklich und nach nichts auf der Suche. Später hat der ehemalige CDU-Pressesprecher ein Buch über seinen Wechsel zum Islam und all die Folgen geschrieben, das 1995 für einigen Wirbel sorgte: „Zwischen allen Stühlen“ heißt es.
Nicht immer gibt es diesen einen Moment, wo sich eine neue Religion mit Blitz und Donner oder einem inneren Erdbeben zeigt. Bei Abdalhafidh Ullmann war es ein langsamer, konflikthafter Prozess. Am Anfang stand Unzufriedenheit. „Etwas war aus der Balance geraten“, sagt der 25-Jährige und rückt seinen leuchtendroten Fez zurecht. Was genau, das weiß er nicht. Oder er mag es nicht sagen. Es ist schwer, hinter Abdalhafidhs Stirn zu blicken. Nach jeder Frage nippt er am Espresso, schaut eine Weile zum Fenster und setzt ein wissendes Lächeln auf, bevor er antwortet. „Ich weiß nicht, was gefehlt hat, aber der Islam hat es mir gegeben. Ich bin jetzt ein glücklicher Mensch.“
Nach der Schule ging Abdalhafidh für vier Jahre zur Bundeswehr. Damals hieß er noch Alexander. Die klare Struktur, die Ordnung dort haben ihm gefallen. Und der Respekt, den Jüngere vor Älteren haben. „Draußen“, sagt er, und meint die Welt außerhalb der Kaserne, „draußen habe ich das vermisst“. „Draußen“, das war auch das Volkswirtschaftsstudium, auf das sich Abdalhafidh, der bereits eine Lehre zum Bankkaufmann in der Tasche hatte, schließlich einließ. Nicht für lange. Das Gebot des Geldvermehrens, „diesen Zynismus“, das habe er nicht ertragen. Die nächste Station, eine Ausbildung zum Heilpraktiker, füllte ihn mehr aus. Die Unzufriedenheit mit seinem Leben aber blieb. Alexander war ein Suchender, Abdalhafidh ist ein Angekommener. Sagt Abdalhafidh.
Klarheit, Reinheit, Respekt: Viele Deutsche, die zum Islam konvertieren, fühlen sich davon angezogen. In den letzten Jahren wurden es stetig mehr, rund 4000 ermittelte das Islam-Archiv in Soest für 2005, und die Tendenz scheint weiter steigend. „Die Konvertitenszene hat sich total verändert“, sagt Salim Abdullah, der Leiter des Islam-Archivs. Waren es früher Ehepartner, vorrangig Frauen, die bei der Heirat mit einem Muslim dessen Religion annahmen, so sind es heute vor allem junge Akademiker, die sich intensiv mit dem Koran beschäftigen und dann aus freien Stücken den Weg zu Allah suchen. „Die wenigsten sind älter als 35“, sagt Abdullah.
Über die Gründe lässt sich nur spekulieren. „Das ist eine ganz individuelle Entscheidung“, meint der Leiter des Islam-Archivs. Auffällig ist, dass die Zahl der deutschen Konvertiten seit etwa 2001 rapide ansteigt – von etwa 300 im Jahr vor 2001 auf mehr als 4000 heute. Es scheint, als habe der 11. September eine Lawine ausgelöst.
Eine Erklärung lautet: Durch die politische Entwicklung ist der Islam ins Zentrum des öffentlichen Interesses gerückt, und viele Menschen begannen, sich damit näher zu befassen. Einige fanden darin eine neue Heimat. Ahmad Gross, der Amir der Potsdamer Muslime, sagt, für manchen sei der Wechsel zum Islam auch eine politische Aussage: gegen Globalisierung, gegen die Macht des Zinses, den der Koran ausdrücklich verdammt, und gegen die amerikanische Außenpolitik. Das ist die andere Erklärung.
Auf Abdalhafidh treffen beide nicht zu. Der Islam ist für ihn ein Weg, sein Leben neu zu ordnen. Und nicht nur für ihn. „Meine Frau war depressiv. Jetzt ist sie zum zweiten Mal schwanger. Einen besseren Beweis für meinen Glauben gibt es nicht.“ Auch er schätzt am Islam die Klarheit. Mit der Dreifaltigkeit des christlichen Gottes kann er wenig anfangen. Für Moslems sind Christen Polytheisten. Außerdem stehe bei ihnen die Kirche zwischen dem Einzelnen und Gott.
„Im Islam schließt der Gläubige hingegen einen Privatvertrag mit Allah. Keine Priesterkaste entscheidet über Aufnahme oder Ablehnung“, sagt der Leiter des Islam-Archivs. Lediglich zwei muslimische Zeugen sind nötig, um die Schahada, das Bekenntnis, abzulegen. Auch einen formellen Austritt gibt es nicht. „Das muss der Gläubige mit Allah ausmachen“, so Abdullah.
Die Klarheit seines neuen Glaubens – ein Gott, ein Prophet, eine seit ihren Ursprüngen unveränderte heilige Schrift – korrespondiert für Abdalhafidh mit der Klarheit, die sein Leben seitdem gewann. Mit seiner Herkunftsfamilie habe er sich ausgesöhnt, nachdem er den Koran studiert hatte. Auf einige Freunde müsse er verzichten. „Die dachten, ich renne künftig mit dem Sprengstoffgürtel durch die Welt“, erzählt er und versucht ein Lächeln. Die Aufnahme in die muslimische Gemeinde ersetze sie ihm hundertfach.
Es ist ein enger Kreis, etwa 20 Familien, der sich in den hellen, spartanisch eingerichteten Räumen in der Potsdamer Weinbergstraße trifft. Der Sonntag gehört ganz den Familien. Man liest gemeinsam im Koran, hört Vorträge, betet und singt. Die Frauen bereiten im Obergeschoss Essen zu, die Männer sitzen in Grüppchen auf dem Boden und reden. Draußen tobt ein munterer Haufen Kinder. Aufgaben und Hierarchien sind klar verteilt, und Abdalhafidh findet hier den Respekt, den er „draußen“ so schmerzlich vermisst: Die Kinder sind höflich, und sie übernehmen selbstverständlich Pflichten: decken den Tisch, räumen auf, machen sauber. Reinheit ist auch eine Besonderheit des Islam. Viele Moslems fühlen sich schon von der christlichen Lehre der Erbsünde „irgendwie beschmutzt“, wie Abdalhafidh es nennt. Vor jedem Gebet ist eine Waschung Pflicht, um in den Zustand ritueller Reinheit zu gelangen. Wer Moslem wird, bekommt alle zuvor begangenen Sünden vergeben. Alkohol und Schweinefleisch lehnen Muslime als verunreinigend ab.
Abdalhafidh hat einige Religionen „angetestet“, wie er sagt, bevor er zum Islam fand. Das haben sie hier fast alle. Die meisten der Potsdamer Muslime sind in der DDR großgeworden und waren sehr skeptisch. „Wie in einem Warenhaus haben sie alles genau geprüft und abgewogen“, sagt Amir Gross. Für viele Ostdeutsche ist es die erste Religion, was die Skepsis nicht eben minderte. Die Geschichte von Christian Hoffmann und dem Blitz kann Abdalhafidh daher nicht nachvollziehen. „Der Glaube wächst in einem – dafür bleibt er dann auch.“

Erschienen am 21.02.2007

Ein Prinz als Schirmherr

Sebastian Krumbiegel über die Probleme als „Betroffenheits-Gutmensch“

Sebastian Krumbiegel, Sänger der „Prinzen“, wird Schirmherr der ökumenischen Friedensdekade 2007, die unter dem Motto „andere achten“ steht. Krumbiegel tourt derzeit mit dem von ihm herausgegebenen Buch „Hoffnung säen“ durch Deutschland. Gemeinsam mit Kristof Hahn liest er auf dieser „musikalischen Lesereise“ aus Lebensgeschichten von Flüchtlingen. Die Fragen stellte Jan Bosschaart.

Ein Pop-Sänger als Schirmherr der Friedensdekade – wie kam es denn dazu? Krumbiegel: Das liegt daran, dass ich zurzeit mit meinem Buch „Hoffnung säen“, den Geschichten von neun Flüchtlingen, durch Deutschland toure. Es klingt hochtrabend, aber ich glaube, die Kirche ist auf mich aufmerksam geworden, weil ich mich mit dem Buch für ein menschlicheres Miteinander ausspreche.
Was müssen Sie als Schirmherr tun, außer ihren Namen hergeben?
Krumbiegel: Ich werbe für die Idee, ich mache die Leute darauf aufmerksam, dass die Friedensdekade stattfindet. Mit Auftritten ist das nicht verbunden.
Was hat Sie bewogen, ja zu sagen?
Krumbiegel: Dass es um menschliches Miteinander geht, darum, dass wir aufeinander zugehen sollten. Wir verlassen uns zu sehr auf den Staat oder denken: „Irgendjemand sollte irgendetwas für mich tun.“ Stattdessen sollte jeder die Dinge selbst in die Hand nehmen und sich darum kümmern, dass die Welt um ihn herum besser wird. Das ist ja auch ein Anliegen der Lesetour. Es macht Spaß, weil wir merken, dass wir die Leute erreichen. Sie hören zu und sie werden berührt von dem, was wir vorlesen.
Sie touren nur durch ostdeutsche Städte?
Krumbiegel: Wir wollten dahin, wo es die Leute angeht. In ein multikulturelles Zentrum nach Berlin-Kreuzberg zu gehen, hieße Eulen nach Athen tragen. Wichtiger sind Gegenden, wo Rechtsradikalismus ein Thema ist, wo Übergriffe stattfinden. Das ist statistisch im Osten häufiger. Dennoch werden wir das ändern: Ab April sind wir auch in Westdeutschland – sogar in Bayern – unterwegs, denn es geht auch darum, die Toleranz in die Welt hinauszutragen – allerdings, ohne den Heilsbringer zu spielen. Es ist problematisch, sich vor die Leute zu stellen und zu sagen: „Ich weiß was!“ Wir versuchen, die Texte und die Musik für sich wirken zu lassen.
Haben die ostdeutschen Bundesländer größeren Nachholbedarf in Sachen Ausländertoleranz?
Krumbiegel: Ich glaube ja. Wir sind 40 Jahre lang anders sozialisiert und anders groß geworden. Mit Ausländern waren wir kaum konfrontiert. Die wenigen Ausländer hier blieben unter sich, es gab nicht, wie in Westdeutschland, die typischen Gastarbeiter, die ihre ganze Kultur mitbrachten. Das ist es sicher nicht allein, aber Fakt bleibt: Die Übergriffe im Osten sind häufiger, es gibt hier mehr Nazis, sie werden sogar in die Landtage gewählt – das muss schon mit unserer DDR-Vergangenheit zu tun haben.
Was erhoffen sie sich von der Lesereise?
Krumbiegel: Ich hoffe, dass ich die Leute anknipse, sie für ein Thema sensibilisiere, das kein populäres ist. Die Leute rufen ja nicht „Juhu, jetzt kommt einer und erzählt uns was über Ausländer in Deutschland.“ Ich hoffe, dass ich vor allem die erreiche, die noch gar keine gefestigte Meinung haben. Selbst bei Nazis ist nicht Hopfen und Malz verloren, es gibt viele, die man einfach nur zur Besinnung bringen sollte.
Kommen nicht ohnehin nur die, die schon ihrer Meinung sind?
Krumbiegel: Das ist ein Problem, mit dem wir umgehen müssen. Ein Beispiel: Bei einer Lesung in einer Dresdner Berufsschule fragte ich, ob alle freiwillig da seien. Da haben einige gemault und gesagt „Gezwungen!“, und ich sagte: „Okay, wer gehen will, kann gehen“. Von über hundert sind wohl fünf aufgestanden und gegangen, die fühlten sich dann stark. Hinterher habe ich gedacht: „Eigentlich blöd!“ Vielleicht hätte ich die noch kriegen können. Andererseits will ich niemanden zwingen. Aber ich würde es beim nächsten Mal anders machen.
Wie haben Sie die Flüchtlinge, deren Geschichten Sie lesen, kennengelernt?
Krumbiegel: Die „Bunten Gärten“ sind ein Leipziger Integrations-Projekt. Bei gemeinsamer Gartenarbeit können Migranten hier der Isolation entrinnen. Mit der Einrichtung hatte ich schon mehrfach Kontakt. Irgendwann fragte man mich, ob ich ein Buch herausgeben würde, das die Schicksale der Migranten beschreibt. Zwei Journalistinnen haben die Interviews geführt, und gemeinsam haben wir neun Geschichten ausgewählt. Mit der Tour will ich den Menschen dahinter ein Forum verschaffen.
Ein Kritiker schrieb, man spüre, dass das Buch betroffen machen soll.
Krumbiegel: Ich sehe darin nichts Schlechtes. Natürlich ist es immer ein Balanceakt und schwer, als Betroffenheits-Gutmensch durch die Gegend zu eiern. Oft ist es aber der einzige Weg, die Menschen zu erreichen. Man kann sich zu Recht auch über Betroffenheitsgalas im Fernsehen aufregen – aber am Ende bleiben dennoch Millionen für Bedürftige hängen.
Haben Sie nach einem Lese-Abend wieder Lust auf Prinzenkonzerte?
Krumbiegel: Die Prinzen sind meine Lieblingsband, darauf habe ich immer Lust. Wir kaspern ja als Prinzen auch nicht nur herum, da kommen auch ernste Töne. In beiden Fälle schlüpfe ich nicht in eine Rolle. Weder sage ich mir vor der Lesung „Jetzt gehe ich als Literat raus!“, noch setze ich mir als Prinz die Narrenkappe auf. Ich bin jetzt 40 Jahre alt und weiß schon, dass das zwei verschiedene Dinge sind. Aber es sind Seiten, die beide zu mir gehören.
Sie sind im Juni 2003 in Leipzig von zwei Jugendlichen zusammengeschlagen und schwer verletzt worden. Hat diese Erfahrung ihr Engagement verstärkt?
Krumbiegel: Ich denke nicht. Wir waren auch vorher aktiv, richten zum Beispiel seit zehn Jahren das „Courage zeigen“- Festival in Leipzig aus. Die wichtigste Lektion ist, dass mir jemand geholfen hat, dass einer mutig war. Er spielte nicht den Helden, er hat einfach nur Lärm gemacht und die Täter in die Flucht geschlagen. Es geht bei Zivilcourage nicht darum, mit einer Kung-Fu-Nummer dazwischenzuspringen. Es geht darum, dass man sich einmischt und Alarm schlägt.

Erschienen am 01.02.2007

„Menschenrecht ist schwieriges Terrain“

Der Grünen-Politiker Volker Beck über seine Gespräche im Iran

Die Grünen-Politiker Fritz Kuhn und Volker Beck waren vergangene Woche im Iran. Dort besuchten sie den Deutschen Donald Klein im berüchtigten Ewin-Gefängnis. Klein war auf einer Angelreise in iranische Gewässer geraten und daraufhin zu 18 Monaten Haft verurteilt worden. Mit Volker Beck sprach Jan Bosschaart.

In welchem Zustand haben Sie Donald Klein angetroffen?
Beck: Er wirkte gefasst und verhalten optimistisch. Er hatte im Sommer fast nichts gegessen und drastisch abgenommen, das sieht man noch. Mittlerweile hat er etwas zugelegt und sich seelisch gefangen. Er sagt, er werde vom Wachpersonal und den Mitgefangenen ordentlich behandelt. Die restlichen Monate will er durchstehen – er sehnt sich sehr nach der Freiheit.

Was konnten Sie für ihn tun?
Beck: Wir haben das Problem angesprochen und auf eine Lösung gedrängt. Und wir haben deutlich gemacht, dass ein solcher Einzelfall für Deutschland enorm wichtig ist.

Welche weiteren Ziele hatte die Reise?
Beck: Wir wollten uns über den Diskussionsstand zum Atomprogramm und zur Situation nach dem UN-Sicherheitsratsbeschluss informieren. Wichtig war, zu verdeutlichen, dass man den Beschluss des Sicherheitsrates ernst nehmen muss. Und wir haben die Menschenrechte angesprochen – die Todesstrafe, die Rolle der Frau, der Homosexuellen und die Verfolgung religiöser Minderheiten.

Mit welchem Erfolg?
Beck: Uns war klar, dass wir nicht mit konkreten Erfolgen heimkehren. Wir konnten unseren Standpunkt verdeutlichen und sehen, wie die Iraner denken. Wichtig ist, dass wieder Bewegung in den Menschenrechts-Dialog kommt. Direkte Gespräche sind die einzige Perspektive.

Wie wurden ihre Standpunkte aufgenommen?
Beck: Menschenrechtsfragen sind im Iran ein schwieriges Terrain. In Sachen Atomkraft sind die Iraner erschrocken über die Geschlossenheit der internationalen Gemeinschaft – den Beschluss des Sicherheitsrats haben sie wohl nicht erwartet.

Gab es Misstrauen?
Beck: Es gibt Misstrauen gegenüber Europa insgesamt, ob es bereit ist, eine eigene Position durchzuhalten oder ob es nur Angebote macht und am Ende doch Amerika folgt. Wir müssen den Iranern deutlich machen, dass Europa bereit ist, eine eigenständige Rolle zu übernehmen.

Erschienen am 29.01.2007

„Ein Anfang, mehr nicht“

Ex-Bundesumweltminister Jürgen Trittin (Bündnis 90/Die Grünen) ist angesichts des Sinneswandels in Washington verhalten optimistisch. Mit ihm sprach Jan Bosschaart.

Ist der US-Präsident jetzt ein Grüner?
Trittin: Bush hat bereits 2006 die Abhängigkeit der USA vom nahöstlichen Öl erkannt. Nun nennt er ein Ziel: Verbrauch und Nachfrage bis 2017 um 20 Prozent zu reduzieren. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung, grün wird er damit noch lange nicht.

Ist die Verringerung um 20 Prozent ein realistisches Ziel?
Trittin: Ja, aber kein besonders ambitioniertes. Ein ambitioniertes Ziel wäre es, den Treibstoffverbrauch im gleichen Zeitraum um die Hälfte reduzieren.

Was müsste dazu getan werden?
Trittin: Es gibt zwei Kernpotenziale: Das eine sind effizientere Fahrzeuge, das zweite ist der massive Einsatz von biologischen Treibstoffen aus nachwachsenden Rohstoffen.

Hat Bush Sie überrascht?
Trittin: Ich erkenne an, dass es ein erster Schritt ist. Noch schöner wäre es, wenn die US-Regierung Bundesstaaten wie Kalifornien, die Verbrauchsobergrenzen wollen, dabei freie Hand ließe.

Schließen sich die USA am Ende doch noch dem Kyoto-Protokoll an?
Trittin: Wohl kaum. Das Protokoll läuft 2012 aus. Die aktuellen Bemühungen der USA erhöhen aber die Chancen, Länder wie China und Indien in ein Nachfolgeprotokoll einzubinden. Da ist in eine lange festgefahrene Angelegenheit jetzt etwas Bewegung gekommen. Es ist ein Anfang, mehr aber auch nicht.

Erschienen am 25.01.2007

Michas rotierende Welt

Ein Abend im „Waschomat“

Vorwäsche

Mit einem Klick rastet die Waschmaschinentür ein, der Finger verharrt über dem Startknopf. „Das würde ich nicht tun“, sagt Michael. „Wieso nicht? Ist beides schwarz, beides 30 Grad!“ Das muss ein furchtbar dummer Satz gewesen sein, denn Michael verdreht genervt die Augen. „Das fusselt“, sagt er schließlich, „Baumwolle und Kunstfaser zusammen, das fusselt.“

Es ist leer im Waschomat am Rande der Altstadt. Nur wenige der 18 Waschmaschinen mümmeln, von Neonlicht beschienen, die Unterwäsche, Gardinen, Handtücher ihrer Mieter durch. Außer Michael, 38, graue Hose, grauer Karo-Pulli mit weißem Hemd darunter, sitzt nur einer im Geschäft, vor drei riesigen Reisetaschen, und liest. „Das ist Sven, aber den brauchst du gar nicht ansprechen, der ist stumm wie ein Fisch“, sagt Michael. Aus seiner Verachtung macht er keinen Hehl. Sven, unrasiert und mit filzigen Haaren, hat offenbar den Inhalt der Taschen in drei große Maschinen gepresst und überbrückt die Zeit, indem er „Die Bedeutung des sozialen Abstiegs für die Identität“ liest. Nachdem die Erwähnung seines Namens ihn ohnehin unterbrochen hat, geht er zum Kaffeeautomaten und zieht sich einen Plastikkaffee.

Hauptwaschgang

Zwei quirlige Teenager betreten den Waschomaten mit einer Reisetasche, die sie gemeinsam tragen. Sie wirken uniform: Lange schwarze Haare, dick aufgetragene Schminke, enge Jeans. Und sie sind bester Laune. Kichernd und giggelnd räumen sie eine Maschine ein, zeigen sich ihre Kleidung. Michaels Stirn liegt in Dauerfalten. Er ist von dem Gespräch ausgeschlossen, da sie türkisch reden, und ihr Umgang mit der Wäsche behagt ihm auch nicht. Sven, vom plötzlichen Lärm aufgeschreckt, zieht sich noch einen Kaffee.

Die Tür spuckt einen älteren Herrn in den Waschsalon. Unsicher schaut er sich um, hinkt in die hinterste Ecke zu einer großen Maschine. Aus seinem abgewetzten, löchrigen Koffer stopft er unwillig, fast wütend die Trommel voll. Dann ist die Leibwäsche an der Reihe: Die Jacke mit dem fleckigen Kragen, die schmuddelige Cordhose, die statt eines Gürtels von einer Paketschnur gehalten wird, das Polohemd, dem die Knöpfe fehlen. Nur in einer Unterhose, die mal weiß gewesen sein muss, und in Strümpfen setzt er sich auf die Bank und schaut in eine Zeitung von letzter Woche. Die Teenager kichern etwas lauter und blicken den Alten ungeniert an. „Arme Sau!“ sagt Michael.

Als es dunkel wird, kommt Herr Yildeniz. Herr Yildeniz ist klein und ständig in Bewegung. An seiner viel zu dicken, goldenen Armbanduhr hängt ein Schlüsselbund. Herr Yildeniz sieht hier nach dem Rechten, hebt Taschentücher auf, wischt Waschmittelreste weg, füllt Automaten nach. Er hat einen schwäbisch-bayrisch-türkischen Akzent, das klingt putzig. „Hallo Yildrim!“, sagt Michael, als Herr Yildeniz unter seinen erhobenen Füßen die Flusen unter der Bank hervorfegt. „Du schon wieder!“, knurrt Herr Yildeniz auf schwäbisch-bayrisch-türkisch und fegt weiter.
Das Surren des Kaffeeautomaten verrät, dasss Sven nicht an seinem Platz ist.

Als Herr Yildeniz geht, macht sich Langeweile breit. Die Abendkundschaft ist durch. Der Alte schläft, die Mädchen rauchen vor der Tür. Sven liest, umringt von leeren Kaffeebechern. Michael starrt auf „Jumbo, die Waschmaschine mit dem großen Hunger (14 kg)“. Darüber steht ein Schild: „Bitte keine Pferdedecken in die Maschine!“ Was macht Michael eigentlich hier? Seine Wäsche – zwei Pullunder, drei Hemden – ist längst gewaschen, geschleudert, gemangelt und getrocknet sowie nach Farben, Funktionen und Schrankfächern sortiert. „Ich lerne hier, mich zu emanzipieren!“, sagt er. „Ein Mann muss irgendwann selbstständig werden. Schließlich bin ich bald 40. Zeit für eine Freundin.“ Sein Gesicht lässt nicht erkennen, ob das Ironie ist. Etwas verlegen streicht er seine akkurat sitzende Ewiger-Junggeselle-Frisur zurecht.

Schleudergang

Das ist der Moment, in dem Julia auftritt. Julia kommt nicht einfach herein, Julia erscheint. Trotz drei Grad Kälte trägt sie einen kurzen Rock und Lederstiefel mit Metallabsätzen, die auf den Fliesen laut klacken. Hinter der Tür hält sie kurz inne und mustert die Runde. Ihr Gesichtsausdruck wird verächtlich. Erhobenen Hauptes schreitet sie klappernd durch den Raum und hinterlässt dabei eine betäubende Duftspur. „Das ist wirklich mal ein kurzer Rock“, sagt Michael, der sich vorgebeut hat, um hinterherzuschauen. „Widerlich“, fügt er nach einer kurzen Pause hinzu.
Selbstverständlich würde Julia hier niemandem ihren Namen verraten. Doch Julia telefoniert, während die Baby-Waschmaschine den Inhalt ihres blauen Jeans-Handtäschchens wäscht. „Hallo, Maja-Schatz, hier ist Julia“, sagt sie. Julias Welt scheint noch aus mehreren Schätzen zu bestehen, doch die Babymaschine läuft schnell durch. Julia stopft die nassen Sachen in ihre Handtasche und entschwebt, ohne jemanden eines weiteren Blickes zu würdigen. Vor der Tür wartet ein Sportwagen, dessen gegelter Fahrer sie mit quietschenden Reifen davonträgt. „Ekelhaft!“, sagt Michael. Er sagt es so laut, dass der Neid deutlich hörbar wird.

Trocknen

Baumwolle und Kunstfaser sind im Trockner, die Stimmung sinkt auf den Tiefpunkt. Die Mädchen haben ihre Wäsche abgeholt, der Alte schnarcht. Sven ist sauer, denn der Kaffeeautomat zeigt „Fehler“. Schweigendes Starren auf rotierende Wäschestücke. Ein neuer Kunde kommt mit zwei Teppichen, deren ursprüngliche Farbe unter Katzenhaaren nicht mehr zu erkennen ist, und müht sich redlich, sie in Jumbo zu stopfen. Michael springt entrüstet auf: „Hey, kannst Du nicht lesen?!“ „Halt einmal’s Maul, Micha, einmal! Und geh zu Mama!“, lautet die Antwort. Jetzt schaut sogar Sven auf – er grinst. Michael stapft wutentbrannt und ohne Gruß hinaus. Die Niederlage auf eigenem Boden nimmt er übel.
Der Trockner meldet, Kunstfaser und Baumwolle seien fertig. Sie haben gefusselt.

(Veröffentlicht am 22. Januar 2007)

Professionalität statt Aufregung

Es war keine Sternstunde der Fernsehberichterstattung: Bis auf die Moderatorin traten bei der letzten Landtagswahl in Sachen-Anhalt Politiker und Journalisten geschlossen vom MDR-Tisch zurück, als die Fragerunde beim Abgeordneten der NPD ankam. Es war noch viel weniger eine Sternstunde des Journalismus, wie die Moderatorin im Gespräch mit dem Mandatsträger umsprang. Ihre aufgeregte Art, ihre Fragen, die eine Antwort schon enthielten und ihr beständiges Unterbrechen des Gegenübers waren von Interviewkultur und kritischem Journalismus meilenweit entfernt. Die gesamte Aktion wirkte selbstgerecht, aufgesetzt und eitel: „Guckt mal, Rechte sind pfui, und wir zeigen, wie man mit ihnen umspringt!“
Selbstredend ist der Einzug rechter Parteien in Landes- und Kommunalparlamente eine Herausforderung für die Demokratie – und damit für den Journalismus. Er ist auch ein Prüfstein dafür, wie stark und wie sicher die Demokratie sich ihrer selbst ist. Als spontane Reaktion von Bürgern wäre der Vorfall an diesem Abend ein schönes Zeichen gegen rechts gewesen. Als konzertierte Aktion der Politiker wirkte er zwar inszeniert, nahm aber zumindest die parlamentarische Isolation der Fraktion vorweg. Als journalistischer Umgang mit dem Vertreter einer Partei, auf die mehr als fünf Prozent der abgegebenen Stimmen entfielen, war der Vorfall peinlich.
Journalisten sollten sachlich bleiben. Sie sollten berichten, aufklären, Hintergründe durchsichtig machen. Für einen Kommentar war an diesem langen Wahlabend genug Sendezeit, er musste nicht in Form eines Interviews erfolgen, das diesen Namen kaum verdient. Da wäre selbst ein völliger Verzicht auf eine Aussage des NPD-Abgeordneten besser gewesen. Denn was erreicht der Journalist auf diese Weise? Bei den Zuschauern, die ohnehin gegen NPD und DVU sind, erzielt er vielleicht Schadenfreude oder oberflächlichen Beifall: „Dem haben sie es aber gegeben!“ Dennoch bleibt eine gewisse Irritation ob des tendenziösen und aufgeregten Umgangs mit dem Parteivertreter. Schlimmer aber ist: Jene Zuschauer, die DVU oder NPD gewählt hatten oder wählen würden, werden ausgegrenzt: Eine wichtige Chance, sie ins Gespräch zurückzuholen – und auch das ist eine journalistisch Aufgabe, gesellschaftliche Debatten anzustoßen, zu moderieren und die eigenen Zuschauer/Leser/Hörer ins Boot zu holen – ist vertan. Das Gefühl gesellschaftlicher Ausgrenzung ist ein häufiger Grund, radikale Parteien zu wählen. Unterstellen wir der MDR-Moderatorin beste Motive, so hat sie ihrer Sache damit doch letztlich einen Bärendienst erwiesen.
Wie also sollten sich Journalisten verhalten? Die Antwort ist im Grunde leicht: professionell, wie sie es gelernt haben. Sie sollten unaufgeregt bleiben, um den Rechten nicht mehr (emotionale) Aufmerksamkeit zu verschaffen, als notwendig ist; kritisch, aber sachlich berichten, wenn es um die alltägliche Arbeit dieser Parteien in den Parlamenten geht; Absichten, Ziele und Methoden der Rechten gründlich recherchieren und, wenn nötig, aufdecken; ihnen keine Spezialbehandlung angedeihen lassen, die sie unnötig ins Rampenlicht öffentlicher Aufmerksamkeit hebt; sie aber auch nicht ignorieren, denn im Verborgenen sind diese Parteien gefährlicher als unter öffentlicher Beobachtung – und kommentieren, wenn es unerträglich oder ungeheuerlich wird, bei fremdenfeindlichen Reden etwa, bei Taten allzumal, oder beim Leugnen des Holocaust.
Selbstverständlich müssen der geistige Horizont, das überschaubare Weltbild und die Absichten von NPD und DVU transparent gemacht werden. Anlässe dafür gibt es genug. Meist bedürfen diese Parteien der journalistischen Schützenhilfe gar nicht: Sie sind zerstritten und in ihrer parlamentarischen Arbeit derart bedeutungslos, dass von ihrem Einzug in die Parlamente zwar ein sehr negatives Signal ausgeht, ihre reale Gefahr aber gering ist – zum Glück. Professionelle Arbeit statt aufgeregter Ignoranz: dann klappt’s auch „mit“ den Rechten.

(Veröffentlicht am 10.11.2006; Text während des „Assessment-Centers“ der MAZ)

Schau mir in die Augen, Rechner

Es hat schon etwas Magisches: Vor meinen Augen schwebt die Erde im leeren Raum. Sie beschreibt eine perfekte Kreisbahn, dicht gefolgt von einer Hupe. Mein Blick verweilt einen Moment auf der Hupe, sie kommt daraufhin meinem Auge ein Stück entgegen. Vorsichtig versuche ich, mit dem Finger darauf zu tippen. Es trötet, dann verwandelt sich die Hupe in eine Klaviatur. »Probieren sie’s ruhig!« ermuntert mich Siegmund Pastoor. Na gut. »Für Elise« erklingt – etwas holprig – aus den Computerboxen. Mein Klavierlehrer würde jetzt strafend schauen.

Der allerdings war auch noch nie in der Verlegenheit, auf einem nichtexistenten Klavier zu spielen. Von der Seite muss das recht albern aussehen: Da sitzt jemand in einem Labor des Heinrich-Hertz-Instituts für Nachrichtentechnik in Berlin vor einem Flachbildschirm und spielt mit seinen Fingern in der Luft Beethoven. Dr. Siegmund Pastoor, Projektleiter von »mUltimo 3D«, kennt den faszinierten Gesichtsausdruck seiner Besucher bereits. »Vor allem bei Männern schlägt der Spieltrieb voll durch«, erklärt er mit einem Lächeln.

»mUltimo« ist ein Kunstwort. Es steht für Multimodalität, also einen Computer, der sich auf verschiedene Arten – Modalitäten – bedienen lässt. Mindestens drei dieser »Modalitäten« sind eigene Entwicklungen: Blickverfolgung, Kopfbeobachtung und Handsteuerung, oder im besten Computerdeutsch: gaze-, head- und handtracking. Das »Ultimo« ist auch nicht ganz zufällig im Projekttitel versteckt, versuchen die Berliner Forscher doch, ganz bescheiden, ein perfekt und intuitiv bedienbares Gerät zu entwickeln.

Das Herzstück aber sind die dreidimensionalen Bilder. Hier griffen die Ingenieure teilweise auf bestehende Technik zurück, etwa den Linsenraster. »Der funktioniert wie die gute alte Wackelkarte«, erläutert der Projektleiter. Etwa eintausend senkrecht angeordnete Linsenstäbe über dem Monitor sorgen dafür, dass jedes Auge ein leicht verschobenes Bild erhält. Das Gehirn verbindet beide zu einem dreidimensionalen Objekt. Damit es das kann, sind der richtige Blickwinkel und der korrekte Abstand zum Monitor wichtig. Hier setzten Dr. Pastoor und sein Team an: Eine kleine, im Bildschirm integrierte Kamera verfolgt jede Kopfbewegung des Nutzers. Dreht er sich nach links, folgt ihm Monitor, senkt er den Kopf – etwa um zu nicken – dann nickt der motorbewegte Bildschirm ebenfalls.

Klavierspielen ist öde. Mit einem Fingerschnipps gegen die Tasten verschwindet das Instrument in den Tiefen des Raums. Die Erde war doch faszinierender. Das merkt der Computer an meinem Blick und bringt sie ein Stück nach vorn. »Hat ihn!« rief Software-Entwickler Oliver Stachel, als ich vorhin vor dem Monitor Platz nahm. Soll heißen: Das Betriebssystem hat meine Augen erkannt. Was für den Menschen eine Kleinigkeit ist, verlangt dem Computer einiges ab: Ein Gesicht als solches zu identifizieren und schließlich die Augen zu finden. »Im Zweifelsfall hilft kräftiges Zwinkern«, erklärt er. »Am Anfang konnte das Programm kaum zwischen einem Gesicht und einer Melone unterscheiden«, sagt Oliver Stachel trocken. Mittlerweile erkennt die Software Augen sogar unter verschiedenen Lichtbedingungen. Auch schnelle Kopfbewegungen bringen den Rechner nicht mehr aus dem Takt. Und hat er seinen Nutzer doch mal aus den Augen verloren, so findet er ihn in Sekundenbruchteilen wieder.

Dem System entgeht nichts. Wohin ich blicke, da passiert etwas. Suche ich Europa, so dreht sich der Globus vor mir freundlicherweise in die richtige Position. Vier Infrarotleuchten im Monitorgehäuse projizieren harmlose Punkte auf mein Auge. Anhand der Position der Pupille zu den Punkten weiß das Programm jederzeit, welchem Objekt auf dem Schirm meine Aufmerksamkeit gilt. Und es reagiert darauf, mit erstaunlicher Präzision: Höchstens um ein Grad weicht der vom Computer berechnete Blickpunkt vom tatsächlichen ab – für fast alle Anwendungsbereiche eine vernachlässigenswerte Ungenauigkeit.

Auf die andere Seite des Globus’ gelange ich nicht allein mit Blicken – die Hand muss erneut helfen. Ein leichter Fingertipp bringt die Erde zum Drehen, ein erneuter hält sie an der richtigen Stelle an. Ich bin beeindruckt, Siegmund Pastoor ist stolz: »Die Fingerverfolgung war eine der härtesten Nüsse, die wir knacken mussten.« Das Prinzip ist der Blickverfolgung ähnlich, aber wesentlich komplexer. »Die Pupille ist für den Rechner nur eine Scheibe, die sich auf wenigen Zentimetern bewegt«, so Pastoor. Die Hand aber ist stets dreidimensional und durch ihre Drehbarkeit und vielen Fingerstellungen unglaublich vielgestaltig. Harte Arbeit also für die Software-Ingenieure des elfköpfigen Teams.

Zwei Infrarotkameras – technisches Gegenstück des menschlichen Augenpaars – im oberen Teil der Tastatur ermitteln die Position der Hand im Raum. Das Betriebssystem muss nun aus den zwei Bildern die Gesten lesen. Für grobe Merkmale – geöffnete oder geschlossene Hand, Richtung der Finger – funktioniert das bereits. Es genügt, um Objekte zu aktivieren, sie zu verschieben oder ihre Größe zu ändern. Es genügt auch, unbeholfen Beethoven zu spielen oder den Globus anzuhalten. Einen virtuellen Knoten binden kann man damit aber noch nicht.

Das ist ein kleiner Nachteil der Berühungslosigkeit des Systems. Dafür muss sich niemand mehr unter Datenhelme oder in Datenhandschuhe zwängen. Virtuelle Realität findet im Heinrich-Hertz-Institut ohne Schweißperlen oder aufwändige Anpassungen an den Körper des Nutzers statt. Andererseits erzeugen die vier Kameras mit je 25 Bildern pro Sekunde auch einen gewaltigen Datenstrom, der möglichst verzögerungsfrei ausgewertet werden soll. Eigens dafür verrichtet im Technikraum ein Supercomputer seinen Dienst: Die Graphikstation Onyx 2 von Silicon Graphics ist mit rund 13 Millionen berechneter Flächen (Polygone) pro Sekunde der Wunschtraum jedes Computerfreaks.

Heißt das, der mUltimo 3D wird auf absehbare Zeit nur in den Studios professioneller Architekten und Konstrukteure zu finden sein? »Keineswegs! Einzelne Elemente wie die Kopf- und Augensteuerung lassen sich problemlos an heutigen PCs einsetzen«, weiß Siegmund Pastoor. Und da die Computer jährlich um ein Vielfaches schneller werden, könnte schon in wenigen Jahren auf den meisten Schreibtischen ein 3D-System Marke mUltimo stehen.

Bis dahin wären aber noch einige Hürden zu überwinden. Das Betriebssysteme müsste dreidimensional ausgerichtet werden, ein finanzkräftiger Hersteller in die Serienproduktion einsteigen. »Wegen der Krise in der New Economy sind die großen Firmen derzeit vorsichtig mit neuen Projekten«, musste Siegmund Pastoor erfahren. Also ergriff er selbst die Initiative und beteiligte sich an einer Ausgründung namens »PerspectiveTechnologies«. »Allerdings wird das langsam ganz schön viel«, stöhnt der rojektleiter. Koordination, Entwicklung und dann noch Vermarktung machen ihm zu schaffen. Schwer zu glauben bei einem Mann, der dafür sorgt, dass man im leeren Raum Klavier spielen und die Welt mit einem Fingerschnipps zum Stehen bringen kann.

Im StadtNet können Frauen kostenlos chatten

Ob via Internet oder in der Lieblingsmailbox: Wer chattet, liegt im Trend. Den Boom des elektronischen Smalltalk machen sich die Betreiber des Berliner „StadtNet“ zunutze: Sie werben mit dem Chat als „ganz neue Kommunikationsform“, eine Kreuzung aus Telefonieren und Briefeschreiben.
Dabei stehen im StadtNet im Gegensatz zu herkömmlichen Mailboxen mit Chat-Option keinesfalls Computerthemen im Vordergrund. Die werden nur erwähnt, wenn User kleinere technische Probleme haben.
Das Konzept war von vornherein vor allen in Richtung eines virtuellen Treffpunktes für Surfer ausgelegt. Und der Erfolg scheint den Betreibern recht zu geben: Bereits wenige Monate nach seiner offiziellen Eröffnung am 1. September 1995 avancierte das StadtNet zu einer der beliebtesten Mailboxen in Berlin, und derer sind es immerhin gut 200.
Ein weiterer Vorteil dieser Form des Chat ist die regionale Begrenzung. Anders als beim Chat im Internet haben die Benutzer hier praktisch jederzeit die Möglichkeit, sich mit anderen Chattern zu treffen und sich somit persönlich kennezulernen. Mittlerweile ist auf diese Weise eine regelrechte Online-Community entstanden.
Wer sich zum ersten Mal einloggt, steht vor der schwierigen Entscheidung, ein Pseudonym zu wählen, mit dem man zukünftig angeredet wird. Das Spektrum der bisher vergebenen „Pseudos“ reicht von der einfachen Angabe des Vornamens über Namen allseits bekannter Personen bis hin zu absoluten Phantasie-Kreationen.
Wenn danach der Account mittels Passwort gesichert wurde, findet sich das frisch gewonnene StadtNet-Mitglied wenige Tastendrücke später bereits im öffentlichen Kanal („Main“ im StadtNet-Slang) wieder. In den meisten Fällen verhält es sich nun erst einmal ruhig und versucht, ein wenig Ordnung in das sich vor seinen Augen entfaltende Wirrwarr an Farben und Aussagen zu bringen.
In der Regel dauert es jedoch nicht lange, bis der „NeuUser“ von einem erfahrenen Chatter mit einem vertrauenerweckenden „Kann ich Dir helfen?“ angeflüstet wird, und die erste Barriere auf dem Weg zum „Friend“, wie die Chatter sich selbst nennen, ist genommen.
Neben der für alle lesbaren Nachricht besteht auch die Möglichkeit, bestimmte User gezielt anzusprechen oder ihnen eine nur für sie lesbare Flüsternachricht zukommen zu lassen.
Auch sonst bietet die Mailbox genug Betätigungsfelder: Von Foren, deren Inhalt naezu alle Lebensbereiche abdeckt (von „Ufos“ bis „StadtNet“) über die allseits beliebte Galerie gescannter Userfotos bis hin zu so genannten „Homepages“ bleibt auch fernab von Actions und Pages genug Stoff, um sich stundenlang zu beschäftigen.
Wer Gefallen am StadtNet findet, meldet sich für 60 Mark pro Jahr an und erhält so vollen Zugriff auf alle Funktionen. Frauen werden im übrigen kostenlos freigeschaltet, was dazu führt, dass die Geschlechterverteilung im Gegensatz zu herkömmlichen Mailboxen, die immer noch als Männerdomäne gelten, nahezu ausgeglichen ist. Um sich einzuloggen, braucht man nichts weiter als ein Terminalprogramm und ein Modem, mit dem folgende Rufnummer anzuwählen ist: 030/8730541.


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