Mit dem Architekten Martin Reichert auf Rundgang in Semmelhaacks jüngstem Viertel: „Potsdam lernt nicht dazu“
Die architektonische Qualität des neuen Wohngebietes am Bahnhof wird gern gescholten – wir baten Chipperfield-Direktor Martin Reichert um eine Expertise.
Der große Mann – Martin Reichert misst knapp zwei Meter – kommt ganz unprätentiös mit der S-Bahn in Potsdam an. Keine Limousine, kein Chauffeur. Zwar pendelt Reichert derzeit beständig zwischen Südkorea, Berlin und Russland, den Dauer-Jetlag sieht man ihm aber nicht an: Der Architekt wirkt, als habe er zuvor noch einen Termin beim Herrenausstatter gehabt. „Wir wollen doch heute sozialen Wohnungsbau besichtigen, da hielt ich die S-Bahn für angemessen“, kommentiert er die Wahl seines Verkehrsmittels mit feinem Lächeln.
Sozialer Wohnungsbau – das stimmt nicht ganz. Reichert, Direktor des Berliner Büros des Star-Architekten David Chipperfield, will an diesem Tag das „City-Quartier“ der Firma Semmelhaack am Bahnhof einer kritischen Würdigung unterziehen. Im Gestaltungsrat der Stadt fällt der Architekt, der für Chipperfield das „Neue Museum“ in Berlin behutsam restaurierte und dafür seither mit nationalen und internationalen Preisen geradezu überschüttet wird, stets durch seine glasklaren, schneidend scharfen Analysen auf. Diesmal hat er sich bereit erklärt, mit der MAZ ein umstrittenes Projekt zu besichtigen. An Stigmen mangelt es dem „City-Quartier“ auf dem Gelände des ehemaligen Reichsbahnausbesserungswerkes nicht: Von „gesichtsloser Büroarchitektur“ bis zu „maximaler Verwertung“ lauteten die Anwürfe, etwa im Bauausschuss.
Mit dem Architekten kommen auch die Tropfen. Kaum verlässt Reichert den Bahnhof, geht ein Regenguss nieder. Mit den Worten „Ich bin ziemlich wetterfest“ lehnt er einen angebotenen Schirm ab. Dann ist es wohl auch nur Regen und keine Träne der Verzweiflung, was ihm mitten im 85 000 Quadratmeter großen Areal über das Gesicht rinnt. Die erste Runde absolviert Reichert weitgehend schweigend, nur einmal entfährt ihm ein „Diese Dichte ist wirklich grenzwertig!“ 639 Wohnungen hat Semmelhaack in fünf Geschossen auf die Fläche gequetscht.
Vom Balkon eines Penthouses lässt Martin Reichert den Blick über das gesamte Areal schweifen: über den L-Riegel, dessen langer Schenkel parallel zur Bahn verläuft, über die mit drei U-förmigen Blöcken vollgestellte Mitte, schließlich das halbrunde Seniorenheim, das den massiven Block an der Friedrich-Engels-Straße zum Bahnhofsvorplatz hin öffnet. Der Blick geht ausschließlich über betongraue Flachdächer. „Die Dachlandschaft ist speziell“, sagt Martin Reichert, während er sich den Regen aus der Stirn wischt. Er betont „speziell“ in einer Art, dass es wie „katastrophal“, „monströs“ oder „schauerlich“ klingt, doch der 43-Jährige mit dem hanseatisch wirkenden Charme nähme solche Worte nicht in den Mund. Immerhin inspiriert ihn der Anblick zu einem Zwischenfazit: Alles sei sehr ökonomisch und effizient gebaut und daher lobenswert, befindet Reichert, andererseits könne man nicht verkennen, dass der Bauherr die Gewinnmaximierung über alles gestellt habe. Es fehle allerorten an Raffinesse, beim Material und den Oberflächen, alles sei günstig und ohne Liebe zu den Details entstanden. Das könne man allerdings nicht dem Architekten anlasten, sondern dem Kostendruck, den der Bauherr verordne. Das Viertel sei architektonisch vom Funktionalismus der 1920er und 1970er Jahre inspiriert, stehe in der Tradition des nüchternen sozialen Wohnungsbaus. Dem stünden allerdings die hohen Kaltmieten zwischen neun und zehn Euro entgegen: „Für 5,50 Euro würde man es loben können.“
Reichert findet noch mehr Lobenswertes: Die rigide Abwendung von der Bahn – nach hinten haben die Wohnungen nur Bad und Abstellräume sowie eine gute Lärmdämmung – findet seinen Beifall, auch die Laubengänge, die zu den Wohnungen führen, hält er für eine gute Idee. Die minimalen Freiflächen im City-Quartier seien „immerhin gestaltet“, wenn auch wenig nutzbar. Da es ohnehin Tiefgaragenplätze in großer Anzahl gibt, hätte Reichert das Parken auf den wenigen Freiflächen nicht gestattet. Auf einer dieser „Freiflächen“ stehend, dreht er sich einmal im Kreis: „Diese Dichte ist trotzdem an der Grenze des Erträglichen. Wer das genehmigt hat“, murmelt er kopfschüttelnd.
Wer eine Erdgeschosswohnung gemietet hat, bekommt von Martin Reichert das Bedauern obendrauf. Deren Mieter schauen nicht nur auf grauen Beton, wohin sie auch blicken, sondern auch noch auf die wenig einladenden Tiefgaragenfenster. Völlig unverständlich bleibt dem Architekten, warum die Terrassen im Erdgeschoss mit Dachgrün „verunstaltet“ wurden, statt sie mit Rasen einladend zu gestalten. Außerdem kann dank eines Metallgeländers den Bewohnern jeder auf die Strandliege oder den Grill schauen. Sichtschützende Mauern gibt es sinnloserweise nur zwischen den einzelnen Terrassen. Den eigentlich Schuldigen benennt Martin Reichert erst etwas später beim Tee. Vorher hat er den unvermeidlichen Architektenschal ausgewrungen. Von der Stuhllehne tropft die Jacke. „Das ist alles typisch Potsdam“, resümiert der Architekt, der nicht nur ein Jahr Gestaltungsratserfahrung in die Waagschale werfen kann, sondern sich auch schon zuvor bestens in den Bauten der Stadt auskannte. „Ein so großes Gebiet wäre anderswo nie ohne Bebauungsplan gelaufen. Dort wäre auch die mögliche Dichte festgelegt worden, und zwar eine deutlich geringere“, sagt er. Während Potsdam im historischen Bestand seit der Wende alles richtig gemacht habe, umsichtig, sensibel und mit hohem materiellen Aufwand vorgegangen sei, gebe es bei Neubauten stets eine nachlaufende Debatte, weil vorher nicht reguliert werde, sondern schlicht „vollgestellt“ – ein Fehler, der der Bauverwaltung anzulasten sei. Er sieht auch durch den Gestaltungsrat kein Umdenken dort, obwohl er dem Baudezernenten großes Engagement bescheinigt. „Das Traurige ist doch, dass die schlechten Erfahrungen, etwa mit dem Bahnhof, nicht dazu führen, dass es künftig besser wird. Potsdam wiederholt die alten Fehler, verkauft ohne Auflagen, ohne kleinteilige Parzellierung“, so Reichert. Er erregt sich nicht, sagt es ganz kühl. Und was hätte er zum City-Quartier gesagt, wenn es ihm im Gestaltungsrat vorgestellt worden wäre? „Dass es in diesem Umfeld nicht so problematisch ist, wie es in der Innenstadt wäre, dass die lieblose Gestaltung akzeptabel wäre, wenn die Mieten gering wären, dass das Farbkonzept höchst fragwürdig ist. Es sei denn, man mag betongrau“. Dann geht Reichert zurück zur S-Bahn. Korea wartet. Wo seine Jacke hing, ist eine kleine Pfütze.
Erschienen am 11.10.2011
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