Ellys Knipser

Castingshows und das Internet haben einen neuen Modeltypus geschaffen

Seit Heidi Klum im Fernsehen nach neuen Supermodels sucht, werden Modelbörsen im Internet von Mädchen überrannt. Doch statt Geld und Glamour folgt meist ein Vagabundieren zwischen verhängten Wohnzimmern und muffigen Mietstudios.

Elly hat ihren Rollkoffer dabei. Obwohl er relativ neu ist, wirkt er ziemlich abgewetzt. Die schlimmsten Stellen hat sie mit Aufklebern geflickt. Auf einem steht „Mad world – real life“. Der Koffer sieht aus, als könne er den Inhalt mehrerer begehbarer Wandschränke in sich aufnehmen. Und das tut er offenbar auch. Elly, klein, schlank und etwas überschminkt, hält die frisch gefönten schwarzen Haare mit einer Hand aus dem Gesicht, während sie große Teile des Kofferinhalts auf dem Boden des Wohnzimmers ausbreitet: neun paar Schuhe und Stiefel mit bedenklich hohen Absätzen, eine Kollektion abenteuerlich kurzer Röcke, einen Schwung knapper Oberteile, verschiedene knallenge Jeans, dazu Strümpfe, Strapse, Unterwäsche in allen Formen und Farben, zur Krönung eine Corsage aus Leder und ein Brautkleid. Damit Peter aussuchen kann.
Peter ist noch mit dem Aufbau befasst. Prüfend schiebt er einen von zwei Studioblitzern mal hierhin und mal dorthin, stellt sich dann hinter seine Kamera, sieht hindurch, macht „hmm“ und schiebt den Blitzer erneut. Peter ist ein etwas nachlässig gekleideter Mittfünfziger und kommt aus Berlin gereist, um Elly zu fotografieren. Sein Studio ist das Wohnzimmer eines Potsdamer Freundes, das Peter mit einem schwarzen Tuch über der Schrankwand und seinen Blitzern in ein improvisiertes Set verwandelt.
Gefunden und gebucht hat er Elly über ein Internet-Portal namens Fotocommunity, das Models und Fotografen zusammenbringt. Davon gibt es einige in Deutschland, seit im Internet die Communitys wie wild sprießen. Seit auch noch Heidi Klums „Supermodels“ über den Bildschirm stöckelten, werden diese Angebote förmlich überrannt – auf manchen melden sich pro Tag bis zu 80 neue hoffnungsfrohe Models an. Die Seiten heißen Model-Kartei, Aktfotocommunity, oder 123model, und sie funktionieren alle nach dem gleichen Prinzip: Anmelden, Fotos einstellen, Arbeitsbereiche eingrenzen – das Spektrum reicht von Portrait über Fashion bis Dessous, Halbakt und Akt – und abwarten. Alles Weitere regeln Angebot und Nachfrage.
An beiden mangelt es nicht. Elly, die unter verschiedenen und ständig wechselnden Pseudonymen bei allen angemeldet ist, sagt, nach dem hundersten Shooting habe sie aufgehört zu zählen. Das war nach vier Monaten im Geschäft und ist jetzt ein halbes Jahr her. Auch Peter kann nicht klagen. Er shootet ein- bis zweimal die Woche, erklärt er unwillig. Vielmehr sagt er nicht, denn das Reden darüber ist Peter unangenehm. Warum er an einem Dienstagvormittag Zeit hat? Wozu er die Fotos macht? Wieviel Erfahrung er hat? Peter winkt ab. Außerdem läuft die Zeit, wie er mit einem demonstrativen Blick auf die Uhr andeutet.
Für drei Stunden hat er Elly gebucht, „bis Dessous“, wie sie sicherheitshalber noch einmal klarstellt. Bezahlt wird bar und im Voraus, die Rechte am Bild behält Peter. Meist sieht Elly von den fertigen Fotos keines. „Manche senden mir ein, zwei davon zu, aber das ist die Ausnahme“.
Was mit den weiteren geschieht, will sie lieber gar nicht wissen. Dann schließt sich die Wohnzimmertür. „Ans Set gehören nur Knipser und Model“, hat Peter entschieden. Natürlich heißt Elly nicht Elly. Wie sie wirklich heißt, weiß im Modelkosmos niemand. Wenn Elly anruft, unterdrückt sie ihre Telefonnummer. Kontaktaufnahme ist nur über das Internet mit seiner schützenden Anonymität möglich. Außerdem behält Elly auf diese Weise die Kontrolle: Sie entscheidet, wen sie wann zurückruft. Das steht in einem gewissen Widerspruch zu ihrer Eigenwerbung im Onlineprofil und den begeisterten Fotografenkommentaren: In beiden kommt das Wort „Zeigefreude“ vor. Doch die gilt nur für Ellys Körper. „Das muss so. Das ist Schutz“, sagt sie, als wäre es ein Befehl und schneidet mit einer ruckhaften Geste jede in der Luft liegende Nachfrage ab.
Adrian ist sauer. Mehr als drei Stunden hat der Eineinhalbjährige seine Mutter entbehren müssen, nun thront er auf seinem Kinderstuhl im Café und buhlt um ihre Aufmerksamkeit, indem er nachdrücklich versucht, seinen Obstsalat mit dem Löffel in die Tischplatte einzuarbeiten. Zudem wirft er Servietten, Schnuller, Brotstücke und alle Gegenstände, derer er noch habhaft werden kann, mit Entschlossenheit hinter sich und schaut dann erwartungsvoll in die Runde.
„Ist manchmal nicht einfach mit Job und Kindern“, kommentiert Elly und schlürft ihren Milchcafé. Der Rollkoffer steht hinter ihrem Sitz. Adrians älterer Bruder Fabian ist derweil noch beim Babysitter, denn Elly hat heute noch ein Shooting. Adrian wird gleich „vom neuen Papa geholt“, der erst seit drei Monaten der neue Papa ist, sich aber „rührend um die Kleinen“ kümmert, wie sie betont. „Es macht den Job leichter“, sagt sie. Es ist das zweite Mal, dass der Begriff „Job“ fällt, und Elly spricht die Anführungszeichen immer mit.
Eigentlich ist sie ja noch im Mutterschutz, eigentlich müsste sie sich ja längst bewerben. Aber auf ihren alten Job als Kellnerin hat sie keine Lust – Schichtarbeit, abends nie da, schlechte Bezahlung, kaum Zeit für die Kinder – da sind ihr ihre Knipser lieber. Während sie erzählt, vertilgt Elly eine riesige Frühstücksplatte, obschon es längst Mittag ist. Am Morgen sei dafür keine Zeit geblieben, und überhaupt gehe sie lieber mit leerem, flachem Bauch zum Shooting.
Elly redet sich in Fahrt. Überhaupt sei das Gewicht bei Community-Models nicht so wichtig wie bei den Hungerhaken im Fernsehen. Im Gegenteil, ihre weiblichen Formen machten sie bei den Knipsern erst recht beliebt. Mit nur 1,62 Meter und viel Oberweite hätte sie bei den Agenturen ja ohnehin keine Chance. Zweimal hat sie es versucht, durch ihre Shootings ermutigt. Die haben sich nicht mal die Mühe gemacht abzusagen. Nein, da bleibt sie lieber bei ihren Knipsern.
Knipsern? Elly kichert. „So nennen wir Models die Fotografen aus dem Internet.“ Es gibt feine Differenzierungen: „Schrankwand-Knipser“ – solche ohne eigenes Studio, die vor dem Wohnzimmerschrank zu Hause belichten -, „Spannerknipser“, die keinen Film oder keine Karte in der Kamera haben, sondern nur die Zeit mit dem Model buchen, und schließlich die „Semis“, Hobbyfotografen mit Ambitionen und Erfahrung, deren Bilder vorzeigbar sind. Elly hat aber keine Präferenzen. „Wer zahlt, gewinnt“, sagt sie und schaut dabei so abgeklärt, als habe sie „das Business“, wie sie es nennt, erfunden.
Was nur begeistert sie an diesem Vagabundieren zwischen Wohnzimmern und muffigen Mietstudios? „Das da“, sagt sie und zeigt auf den Koffer hinter sich, „ist das wirkliche Leben. In andere Rollen schlüpfen, mal Zeit für mich haben, im Mittelpunkt stehen, und dafür auch noch Geld bekommen“. Doch welches Leben sind dann Adrian und Fabian, der neue Papa und der Kellnerjob? Elly überlegt. „Na ja, das ist halt ,dieses Leben’“, antwortet sie und verschränkt die Hände vor der Brust. Es klingt ein wenig, als wäre es nur der Vorhof zu etwas Größerem. Dann sagt sie nichts mehr. Ihre Laune ist spürbar gesunken.
Fast hätte sie beim Gehen den Rollkoffer vergessen, so unangenehm muss das Sprechen über „dieses Leben“ gewesen sein. Doch sobald Adrian im Buggy sitzt, fällt er ihr der Koffer wieder ein. Ein Ruck am Griff, dann geht sie los, schiebt das Kind vorneweg. Das wirkliche Leben zieht sie rumpelnd hinter sich her.

Infoxbox: DER HOBBYMODEL-MARKT IN DEUTSCHLAND

13 500 Models und 9 500 Fotografen haben sich beim Branchenprimus „Model-Kartei“ angemeldet. Das Durchschnittsalter der Frauen beträgt 19 Jahre.
In der „Model-Kartei“ sind etwa sieben Prozent der Teilnehmer jünger als 18 Jahre, 44 Prozent zwischen 18 und 25 Jahren und 24 Prozent zwischen 26 und 35 Jahre alt.
Seriöse Schätzungen gehen von 25 000 bis 30 000Hobbymodels in Deutschland aus.
Mehr als vier Fünftel davon präsentieren sich ausschließlich in der weitgehenden Anonymität des Internets und werden auch dort gebucht.
Üblicherweise gewähren neue Gesichter in diesen Foren zwei bis drei kostenlose Foto shootings, um an vorzeigbares Bildmaterial zu gelangen, mit dem sie dann für bezahlte Shootings werben.
Der Stundenverdienst liegt zwischen zirka zehn Euro für Portraitaufnahmen zwischen 20 bis 30 Euro für (bekleidete) Ganzkörperaufnahmen und bis zu 50 Euro für Aktbilder.
Die meisten Models benutzen diese Fotoshootings als teilweise lukrativen Nebenverdienst neben Schule, Studium oder Job.
Die Durchlässigkeit zu den Berufsmodels ist gering: Bislang ist kein Internet-Model in den Kreis der bekannten Schönheiten aufgestiegen. Die werden nach wie vor von Talentsuchern aufgespürt, unter Vertrag genommen und gezielt gefördert.
In den großen Agenturen gelten die Internet-Models hingegen eher als Schmuddelkinder – nicht zuletzt wegen der häufig publizierten Aktaufnahmen, die in der Branche als anrüchig gelten.
Der Heidi-Faktor: Laut Model-Kartei-Betreiber Hendrik Siemens melden sich während der Ausstrahlung von Heidi Klums Modelcasting-Show mehr und vor allem jüngere Mädchen an als im Jahresmittel.

Erschienen am 15.05.2008

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